ringelten, aber das waren die einzigen Unterschiede.
»Unglaublich!« Sophia schüttelte den Kopf. »Ich habe zwar schon gehört, dass ich eine große Ähnlichkeit mit meiner Bisnonna haben soll, aber dass sie so vollkommen ist…«, staunte sie.
Leander schaute sie von der Seite an. Er sah ihr zartes Profil, das glatte, wie Silber schimmernde Haar, die auffallenden schwarzen Augen, die Intensität, mit der Sophia die Frau auf dem Bild betrachtete. Für sie muss es sein, als ob sie in einen Spiegel schaut, dachte er.
Und während Sophia in dieser fremden Ahnin sich selbst begegnete, erwachte in Leander eine Melodie. Die ersten, feinen Töne schwangen seit gestern in seinem Unterbewusstsein, seitdem Sophia neben ihm auf den Stufen gesessen und der Stille der Nacht gelauscht hatte. Jetzt reihte sich Ton an Ton, Akkorde erklangen, erzählten den Beginn einer Geschichte. Eine Komposition begann, sich in seinen Gedanken zu formen, ein Lied für Sophia.
Er würde ein Lied für Sophia schreiben.
»Und wie ist es dann mit deiner Ur-Ur-Großmutter weitergegangen? Was wurde aus ihr und ihrem kleinen Mädchen?«, nahm Emilia das Gespräch wieder auf, das sie im alten Apfelgarten geführt hatten.
Liebevoll schaute Sophia zu dem Portrait ihrer Vorfahrin auf. Es war ein so junges, klares Gesicht, aus den dunklen Augen leuchtete die Liebe zum Leben und zu dem Mann, der sie malte. Aber lag nicht auch ein kaum sichtbarer Schatten in ihrem Lächeln? Umspielte schon eine Ahnung des Kommenden ihre feinen Züge? »Natürlich war es sehr schwer für meine Bisnonna. Es war nicht nur der endgültige Abschied von ihrem geliebten Albert, sondern sie musste mit der Schande ihres unehelichen Kindes leben.«
»Ein uneheliches Kind eine Schande?«, fuhr Emilia empört auf.
»Vergiss nicht die Zeit, in der Francesca gelebt hat«, erinnerte Anna sie. »Im neunzehnten Jahrhundert ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen und das in einem kleinen, abgelegenen italienischen Dorf –, das bedeutete etwas ganz anderes als heute.« Unwillkürlich traf sich ihr Blick mit dem des Landdoktors, und sie konnte seine Gedanken lesen: nicht nur damals und nicht nur dort kann es mit sehr viel Leid verbunden sein.
»Ja, es hätte die Hölle für Francesca und ihr Kind werden können, aber zum Glück hatte sie starke Eltern, die sich mit all ihrer Liebe hinter ihre Tochter und die Enkelin stellten«, fuhr Sophia fort.
»Wie heißt die Kleine denn?«, fragte Emilia voller echter Anteilnahme.
»Die ›Kleine‹ wäre jetzt weit über hundert Jahre alt, und ihr Name war Angelina«, lächelte die Malerin.
»Und hat die Mama später geheiratet und noch mehr Kinder bekommen?«
»Nein, Francesca hat nicht geheiratet. Für sie hat es immer nur den einen gegeben. Aber ihre Tochter Angelina war glücklich verheiratet, und sie hat neun Kinder bekommen. Ihre jüngste Tochter heißt Anna-Maria und ist meine Großmutter. Nonna hat in diesem Sommer ihren neunzigsten Geburtstag, und ich freue mich sehr darauf, sie dann zu besuchen und mit ihr zu feiern.«
»Wie schön!«, seufzte Emilia zufrieden. »Irgendwie ist das doch auch so eine Art Happy End.«
»Du hast recht, Emilia«, antwortete Leopold von Raven nachdenklich, »nach so langer Zeit hat sich der Kreis geschlossen.«
Der Orgelbauer hatte sich nicht an den Gesprächen beteiligt. Er stand neben Sophia und machte einen leicht abwesenden Eindruck, aber der Eindruck täuschte. Leander hatte sehr genau zugehört, und er übersetzte die Worte in Musik. Das Schicksal, von dem erzählt worden war, würde in seine Komposition einfließen, alles gehörte zu Sophias Lied. Sein Lächeln, mit dem er die junge Künstlerin anschaute, mochte verträumt und abwesend wirken, aber in Wahrheit war er hellwach und mit allen Sinnen und Gedanken bei ihrer Geschichte.
»Wenn es euch recht ist, würde ich gern ein Bild meines Ur-Ur-Großvaters sehen. Ich weiß nicht, wie Grande-Bisnonno Alberto ausgeschaut hat«, wandte Sophia sich an ihre Gastgeber.
Die von Ravens stimmten gern zu und führten ihren Besuch in den sogenannten Gelben Salon. Er hatte seinen Namen von den alten Damasttapeten, die matt golden schimmerten. Hier hingen die Familienportraits. Sophia war etwas überrascht, dass Leander mitgekommen war, denn auch hier schien er mehr aus Höflichkeit als aus echtem Interesse vor dem Bild zu stehen.
Schade, Leander scheint sich nicht für meine Familiengeschichte zu interessieren, dachte Sophia, er sieht tatsächlich etwas gelangweilt aus. Warum bin ich eigentlich deswegen enttäuscht? Habe ich denn einen Grund, etwas anderes von ihm zu erwarten? Sie schüttelte den störenden Gedanken ab und konzentrierte sich auf das Portrait, das sich dunkel von der mattgoldenen Wand abhob.
Dieses Gemälde zeigte Albert von Raven als reifen Mann. Seine dunkelblonden Haare waren bereits mit Silber durchzogen und wichen aus der Stirn zurück. Er hatte die markanten Gesichtszüge eines Mannes, der eine große Verantwortung trägt und gewohnt ist, Anordnungen zu erteilen. Das Lächeln in seinen Mundwinkeln war nur angedeutet, und im Blick seiner bemerkenswert blauen Augen hielten sich Freundlichkeit und Strenge die Waage. Er war ein Mann, der Charakterstärke, Stolz auf sein Lebenswerk – und einen kaum wahrnehmbaren Hauch von Einsamkeit ausstrahlte.
Sophia schaute das Bild, das neben dem Portrait seiner Frau Leontine hing, lange und sehr aufmerksam an. Dann nickte sie, als ob eine stille Frage eine Antwort gefunden hatte.
»Mein Ur-Ur-Großvater hat nichts von Angelina gewusst«, bestätigte Leopold von Raven leise.
Sophia nickte. »Ja, das sehe ich«, antwortete sie schlicht. Sie schaute an Leander vorbei, der immer noch diesen höflich-desinteressierten Gesichtsausdruck hatte. »Wo ist mein Grande-Bisnonno beerdigt worden?«
»Hier auf unserem alten Gutsfriedhof«, antwortete Elise von Raven. »Wenn du möchtest, können wir sein Grab besuchen.«
»Sehr gern.« Sophia war gerührt von dieser freundlichen und aufmerksamen Geste.
Die Gäste gingen auf den Gutshof hinaus und von dort über eine kleine, steinerne Brücke, welche den Fluss zum Sternwolkensee überspannte. Links davon befand sich eine Buchsbaumhecke mit einem rostigen Tor aus Schmiedeeisen, neben dem links und rechts alte Rosenstöcke ihre duftende, weiße Pracht entfalteten.
»Was für ein schöner letzter Ruheplatz«, sagte Sophia andächtig.
Sebastian Seefeld legte einen Arm um seine Tochter und den anderen um Annas Schultern. »Wir sollten jetzt zu den anderen gehen und Sophia diesen Moment alleine, für sich haben lassen«, schlug er rücksichtsvoll vor.
»Das ist lieb von dir«, antwortete Sophia, »aber ihr stört mich nicht. Im Gegenteil, ich würde mich freuen, wenn ihr mitkommt.«
Nach einem fragenden Blick zur Dame des Hauses pflückte die junge Künstlerin eine weiße Rosenblüte und betrat den kleinen, sonnenbeschienenen Friedhof. Zwischen den weichen Graswegen ruhten die alten Gräber längst verstorbener Mitglieder der Familie von Raven. Das älteste war das des Ur-Ur-Großvaters der italienischen Malerin. Auf dem schlichten Grabkreuz aus hellem Stein standen sein Name und seine Lebensdaten eingemeißelt. Lächelnd betrachtete Sophia das samtige Moospolster, welches die von Efeu gerahmte Ruhestätte bedeckte. Ganz unten auf dem steinernen Kreuz, fast verborgen von den Efeuranken, war die Figur eines Engels eingemeißelt. Sie hatte langes, offenes Haar, und sie saß mit abgewandtem Kopf auf einem Grenzstein, wie Sophia sie aus der Toskana kannte. Vom Gesicht des Engels sah man nichts außer der Rundung der Wange und ein Schläfe, über die sich eine Locke ringelte. Die zarten Hände der Figur waren erhoben, es wirkte wie eine freundliche Willkommensgeste.
Leopold von Raven hatte bemerkt, was Sophias Aufmerksamkeit fesselte, und er sagte leise: »Es heißt, Albert von Raven hat bestimmt, dass sein Grabkreuz ganz genauso aussehen solle. Die Vorlage für den Engel hat er selbst gezeichnet. Es war das erste und einzige Mal, dass er nach seiner Rückkehr aus Italien wieder einen Stift in die Hand genommen hat, ungefähr ein Jahr vor seinem Tod. Und es heißt auch, dass der Steinmetz bei diesem Auftrag einiges auszustehen hatte, bis mein Vorfahre mit dem Ergebnis wirklich zufrieden war.«
»Er hat den Stein vor seinem Tod