Andreas Bahlmann

Red House


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Fransenjacke meinte daraufhin: »Ooch, ist doch gar nicht so schlimm …Du gehst nach der Stunde am besten zum Lehrer, entschuldigst dich und alles ist wieder in Ordnung …« – Ich war entrüstet: »Entschuldigen? Ich? Ich hatte doch gar nicht angefangen! Ich entschuldige mich doch nicht dafür, wenn ich im Recht war!«

      Fransenjacke lachte und meinte: »Du bist in Ordnung, Kleiner … und du hast ja Recht. Mach's halt das nächste Mal besser und lass dich nicht wieder erwischen …!«

      Das tat gut und ich fühlte mich auf einmal viel besser und vor allen Dingen größer!

      Ich fühlte mich nicht nur, sondern wurde auch größer und die Musik, meine Musik, die ich hörte und hören wollte, bedeutete oft zu Hause viel Unruhe und nicht nur manchmal nervige Auseinandersetzungen.

      Auch die unterschiedlichen Generationswünsche zur Haarlänge und Kleidung passten hervorragend in die Auseinandersetzungen. Lange Haare besaßen in der Welt der Erwachsenen ja eher den Status eines Gammlers, aber ich fand lange Haare gut. Es war nur nicht so einfach, sie länger wachsen zu lassen, wenn einen zu Hause der elterliche Widerstand oder auch mal die Haarschere der Mutter traf (»… nur 'n bisschen, damit es nicht so verboten aussieht …«) und alles musste wieder von vorne losgehen. Als ich dann eines Tages den ersten Soldaten in Uniform mit langen, schulterlangen Haaren und Barett auf dem Kopf vorbeilaufen sah, wirkte es schon höchst merkwürdig auf mich.

      Militär, Uniform und lange Haare passen irgendwie nicht wirklich zusammen.

      Jeans, von uns damals eigentlich immer »Nietenhosen« genannt, waren in den Augen meiner Eltern damals die Hosen der Hippies, Rocker, Beatles (so wurden die Langhaarigen bezeichnet) und Gammler – und als solche erstmal ein Tabu für mich.

      Wie glücklich war ich, als ich mit elf Jahren zusammen mit meinem Opa in die Stadt ging und mir eine Cordhose (altrosa) und eine blaue Cordjacke (Jeansjackenschnitt) aussuchen durfte.. »Du siehst aus wie ein Kanarienvogel,« war der kopfschüttelnde Kommentar meines Opas, aber mir war das egal und ich war glücklich damit, auch wenn ich immer noch keine Nietenhose tragen durfte. Mittlerweile hatte ich angefangen, mir mit dem Verteilen neuer und dem Einsammeln alter Adressbücher, die von einem ortsansässigen, großen Verlag herausgegeben wurden, etwas Geld zu verdienen.

      Immer wieder kam ich in der Innenstadt am kleinen, etwas versteckt liegenden Musikgeschäft »Tebben« vorbei und blieb sehnsüchtig vor dem Schaufenster, mit der Westerngitarre in der Ecke, stehen.

      Es hat lange gedauert, aber schließlich hatte ich genügend Geld zusammen, um mir die Western-Gitarre der Marke »Cimar« zu kaufen und mir das Gitarrespielen beizubringen. Mein Cousin spielte auch etwas Gitarre und ich hörte fortan nicht nur seine Platten, sondern schaute ihm auch auf die Finger, wann immer er auf der Gitarre spielte. Die damals 1974, aus dem Schaufenster erstandene Gitarre begleitet mich heute noch und ich liebe dieses Instrument sehr. Es war so, als ob sie im Schaufenster auf mich gewartet hatte.

      Musikalisch entwickelten sich die Zeiten für mich eigentlich immer besser: es liefen im Fernsehen der »Beatclub« oder auch Sendungen mit Alexis Corner oder John Pearse, in denen man Tips und Tricks fürs Gitarre spielen oder Musik machen bekam. Ich durfte zwar keine dieser Sendungen zu Hause sehen, aber die Eltern waren halt manchmal nicht da und ich durfte mich dann eben nicht beim heimlichen Fernsehen erwischen lassen oder ich schlief am besten gleich bei meinem Cousin und schaute da.

      Elterliche Abwesenheit erwies sich für mich als eine sehr nützliche Einrichtung, was das Abschalten von Sendungen oder den ungestörten Hörgenuss anging.

      Jetzt kann man sich natürlich fragen, wie das Hörerlebnis eines einzigen Gitarren-Intros eine derartige Wirkung oder Bedeutung für das weitere Leben haben kann.

      Nun, es ist nicht so, dass man sich danach völlig umgekrempelt, sozusagen innerlich auf »links gezogen« und erleuchtet, als ein neuer Mensch durchs Leben bewegt. Nein, dieses

      Gitarren-Intro von »Red House« war vielmehr ein Türöffner. Zugegeben, diese Tür war gigantisch, riesig und auch wohl schon vorhanden, aber sie musste halt erst einmal aufgestoßen werden …und ich hatte wohl den Moment und das Glück des sofort passenden, richtigen Schlüssels erlebt.

      Die Magie dieser Musik, die Magie des Blues weckte einfach eine unbändige Neugier und das Interesse nach »noch viel mehr«. Vielleicht hatten ja damals die »Bremer Gänse« des fiesen Herrn Jünter buchstäblich meine Ohren geöffnet.

      Heute, über vierzig, fast fünfzig Jahre später, weiß ich, wie sehr und entscheidend mich gerade »Red House« prägte.

      Es schärfte und lenkte meinen Blick auf die Wahrnehmung sozialer und politischer Missstände und Ungerechtigkeiten. Ich konnte nicht wegschauen und sah die entsetzlichen Bilder der hungernden, afrikanischen Kinder in Biafra, der wirklich unschuldigen, leidtragenden Opfer des grausamen Bürgerkrieges mit Nigeria. Sie schauten einen mit weit aufgerissenen, todgeweihten Augen an. Sie waren so jung, so klein und hatten vor Hunger und Angst die leeren Gesichter von Greisen. Ihre Bäuche waren dick aufgetrieben und hingen an ihren, bis auf die Knochen abgemagerten und ausgemergelten Körpern wie unförmige, zu stramm aufgeblasene Luftballone. In der Kirchen-Kollekte wurde für sie gesammelt und ich bekam immer etwas Geld in die Hand gedrückt, um auch etwas in den Spenden-Korb geben zu können. Später erfuhr ich, dass die katholische Kirche fast nur in christianisierte oder missionierte Gebiete Hilfe spendete – und spendet. Ist das wirkliche, vorbehaltlose Nächstenliebe, wie sie ursprünglich, laut biblischer Überlieferung, gepredigt wurde?

      Ich bekam die Tagesschau mit, obwohl ich sie noch gar nicht sehen durfte.

      Es waren keine Nachrichten und Bilder für Kinder, da hatten unsere Eltern sicherlich Recht, aber war das gezeigte und berichtete entsetzliche Leiden denn kindgerecht?

      Und überhaupt: was ist das für eine eigenartige Welt, in der uns die Kriege und Hungersnöte per Fernsehen ins Haus geliefert werden, während wir betroffen auf dem Sofa oder im Sessel sitzen und Snacks knabbern …

      Vollkommen unvorbereitet traf mich im Alter von acht oder neun Jahren -ich ging noch zur Volksschule-, auf einem Ausflug mit meinen Eltern, der Besuch und die Besichtigung der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Danach konnte ich wegen dieser entsetzlichen Bilder und Eindrücke mehrere Nächte, im festen Griff der Albträume, die ja eigentlich eher eine Verarbeitung der Realität waren, nicht schlafen. Ich kannte bislang nur die für einen Jungen meines Alters spannenden Geschichten vom Krieg, die die alten Leute eigentlich ständig erzählten. Diese Bilder aber, und das alles, was in Bergen-Belsen gezeigt wurde und zu sehen war, waren neu für mich, ganz entsetzlich neu. Es ist so furchtbar, wozu Menschen in der Lage sind. Seit diesem ersten Besuch in Bergen-Belsen hasste und verachte ich Nazis und ihre dumpfe, menschen-, kultur-, lebensverachtende Philosophie aus tiefstem Herzen. Ich fing an, dieses unglaublich düstere, albtraumhaft sich jeder humanen Vorstellung entziehende Kapitel der deutschen Geschichte zu erkennen. Das jedoch auch nur ansatzweise zu verstehen und zu begreifen, ist bis heute unmöglich.

      Die damalige rassistische Politik in den USA hatte ihre Höhepunkte in den Attentaten an Martin Luther King und auch an Robert Kennedy gefunden. Robert Kennedy hatte als Justizsenator unter John F.Kennedy, entgegen der massiven Proteste der rassistischen Südstaatler, die gleichen Bildungsrechte für Schwarze, Farbige und Weiße durchgesetzt. Die ersten schwarzen Studenten betraten unter massiven Polizeischutz die Universität, diese Bilder sah ich damals im Fernsehen und ich konnte und kann den blanken Hass der weißen Bevölkerung einfach nicht verstehen. Ich erinnere mich aber auch an weitere, spätere Bilder. Ich erinnere mich an die Bilder im Schwarz-Weiß -Fernseher bei einem Schulkameraden der Volksschule: Robert Kennedy liegt leblos auf dem Rücken auf dem Boden einer Bühne. Eine Hand stützt seinen blutigen, durchschossenen Hinterkopf. Die Fernsehbilder waren grobkörnig, wie fast alle Nachrichtenbilder, die einem im Schwarz-Weiß-Fernseher gezeigt wurden … stark wackelnd, oft hektisch flatternd, aber grobkörnig und dadurch immer irgendwie unwirklich distanziert erscheinend, grausame, aber unwirkliche Bilder … Robert Kennedy, den blutverschmierten Kopf von Händen ohne Gesichtern gestützt, sterbend auf dem Boden liegend, … dieses Bild erinnert mich auch an den ersten, von mir erlebten, wirklich schweren Verkehrsunfall mit Blut und so.

      Ein