Frederik Hetmann

Ich habe sieben Leben


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Gemeinschaft, die er dort fern der Zivilisation gründen will. Finanzieren wird er sein »freies Dorf« mit Erlösen aus dem Mate-Handel. Bald ist dem Paar der Schwarm leichtsinniger und schmarotzender Freunde aus der Großstadt in die Wildnis gefolgt. Über Festen, Jagdausflügen und Diskussionen, wie das Paradies auf Erden auszusehen habe, wie es herbeizuführen sei, vergisst Ernesto seine Yerba-Mate-Bündel abzuschicken. Sie verfaulen in den Lagerschuppen. Er entschuldigt sich mit einem Achselzucken. Ist er hergekommen, schwer zu arbeiten oder um seinen Spaß zu haben?

      Er schrickt aus seiner Unbekümmertheit hoch, als Celia ihm sagt, dass sie schwanger ist. Einerseits freut er sich auf das Kind, hofft auf einen Sohn, nimmt sich vor, ihn liberal und antiklerikal zu erziehen; andererseits fühlt er sich eingeengt. Ohne Kind wäre dieses romantische Leben hier draußen, wo man sich nicht über korrupte Politiker, karrierewütige Altersgenossen und missgünstige Verwandte ärgern muss, wohl noch eine Weile fortzusetzen gewesen.

      Diese Dschungelfreiheit hat ihm gefallen. Man kann dabei vergessen, dass man sich im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts befindet. Wenn er den Mate-Handel wieder in Schwung bringen will, muss er mit seinen Abnehmern in Rosario sprechen, das immerhin 1.000 Kilometer von der Provinz Misiones entfernt liegt.

      Trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft will Celia ihn auf dieser strapaziösen Reise begleiten. Sie erwartet das Kind für Mitte Juli, aber als sie am 14. Juni 1928 in Rosario ankommen, setzen bei ihr die Wehen ein. Der Junge, der vorzeitig geboren wird und nach seinem Vater den Namen Ernesto erhält, ist ein winziges, schwächliches Baby, kaum lebensfähig. Die ersten 18 Monate seines Lebens verbringt Ernestito mit seinen Eltern in der Provinz Misiones.

      Seine Kinderfrau ist die Indianerin Inez. Zusammengekauert sitzt sie Tag und Nacht vor der Hängematte, in der das häufig hustende Kind schaukelt. Sie legt in Wasser aufgeweichte Blätter einer den Weißen unbekannten Pflanze auf die Augen und die Lippen des Säuglings. Wenn der Vater das Kind betrachten will, überschüttet Inez ihn mit einem Schwall indianischer Schimpfworte. Señor Guevara Lynch nimmt das hin; obwohl Bekannte ihn auffordern, das unverschämte Indianerweib davonzujagen. Er hat ein schlechtes Gewissen, gibt seiner Neigung für exotische Abenteuer die Schuld daran, dass sein Erstgeborener krank und schwächlich zur Welt gekommen ist.

      Eines Tages ist Inez verschwunden. Man sucht nach ihr im Wald. Man findet ihren Körper gefesselt, geschändet, leblos, am Stamm eines Baumes. Daneben steht ein Korb mit den Blättern der Pflanze, die sie für Ernestito gesucht hat.

      Kein ungewöhnlicher Tod in diesem Land. Wer trauert um eine Indianerin?

      Als Señor Guevara Lynch wenigstens so viel Geld verdient hat, wie ihm in der ersten Zeit durch seine Nachlässigkeit verlorengegangen ist, gibt er den Mate-Handel auf. Er kehrt mit Celia, die ihr zweites Kind erwartet, und mit seinem kleinen Sohn nach Buenos Aires zurück und beteiligt sich dort an einer Schiffsbaufirma.

      In Buenos Aires stellen die Ärzte fest, dass Ernestito an Asthma leidet.

      Asthma ist eine Krankheit, bei der sich die glatten Muskeln in den kleinen Bronchien verkrampfen. Häufig wird sie reflektorisch ausgelöst, das heißt durch nervöse Reize, die von anderen Körperstellen, meist von der Nasenschleimhaut, ausgehen; oft auch ist sie mit chronischem Bronchialkatarrh verbunden.

      Der asthmatische Anfall stellt sich als ein äußerst quälender Luftmangel dar. Die Atemzüge sind pfeifend. Der Kranke wird blutrot und fürchtet, trotz angestrengter Atmung, zu ersticken.

      Heute glaubt man zu wissen, dass bei einer vererbten Veranlagung der erste Anstoß zum Ausbruch der Krankheit schon im Augenblick der Geburt gegeben wird, in jenem entscheidenden Moment nämlich, da das Baby, mit dem Einsetzen der Atemtätigkeit, selbständig zu leben beginnt.

      So betrachtet, wäre Asthma eine Reaktion auf das Geburtstrauma oder eine Weigerung, die Schinderei des Leben-müssens auf sich zu nehmen.

      Dr. Melitta Sperling, eine bekannte amerikanische Kinderpsychologin, stellte in einer Untersuchung fest, dass asthmatische Kinder in besonderem Maße zu einem zerstörerischen und selbstzerstörerischen Verhalten neigen, das nicht selten sogar bis zum Selbstmord führt. Sie beschreibt den Asthmaanfall als eine Form von magischer Kontrolle über Leben und Tod.

      Als die Ärzte den Eltern erklären, das feuchte Klima von Buenos Aires verschlimmere die Krankheit, verkauft der Vater seine Anteile an der Schiffsbaufirma wieder, und die Familie übersiedelt in den im Gebirge gelegenen Kurort Alta Garcia.

      Von nun an widmet sich Señor Guevara fast ausschließlich der Aufgabe, aus einem kränklichen Kind einen kräftigen Jungen zu machen. Er lehrt ihn schwimmen, nimmt ihn zum Tontaubenschießen und zum Golfspielen mit. Er achtet darauf, dass das Kind im Sommer wenigstens drei Stunden im Freibad verbringt, damit sich seine Brustmuskulatur entspannen und es besser atmen kann. Der Vater erklärt Ernesto frühzeitig, er brauche sich nie darum zu kümmern, was die Eltern seiner Freunde für Berufe ausübten, ob sie arm oder reich seien. Die Mutter ist am Ort dafür bekannt, sich in jedes politische Streitgespräch einzumischen und immer die Partei der Armen zu ergreifen. Seltsame Leute sind diese Guevaras, finden ihre Nachbarn; sie werden nicht recht klug aus dieser Familie. Geschwister werden geboren. Celia, Roberto, Ana-Maria und als Nachzügler 1941 Juan Martin. Der Vater führt das Leben eines wohlhabenden, wenngleich nun nicht mehr eigentlich reichen Privatmannes - ein beträchtlicher Teil des Vermögens seiner Frau ist durch die Weltwirtschaftskrise verloren gegangen. In den Jahren in Alta Garcia bessert sich Ernestos körperliches Befinden wesentlich. Stolz zeigt der Vater später Verwandten zwei Fotos. Der Junge mit drei Jahren: Arme und Beine wie Streichhölzer. Der Junge mit vierzehn: stämmig und selbstbewusst. Ernesto bewundert seinen Vater. Er versucht, wie der Vater ein guter Schütze zu werden - vorerst mit der Steinschleuder, später mit dem Luftgewehr. Mit unerhörter Willensanstrengung hält er bei Rugbyspielen durch, an denen teilzunehmen ihn der Vater ermuntert. Wenn Ernesto der Husten überkommt, rennt er an den Spielfeldrand, inhaliert ein paar Minuten und spielt dann weiter.

      Oft haben die Anfälle eine solche Gewalt, dass er danach wochenlang geschwächt zu Bett liegen muss. In solchen Zeiten möchte er sich fallen lassen. Es ist ja doch alles vergebens. Nie wird es ihm gelingen, das Handikap seines Organismus durch Willenskraft völlig wettzumachen.

      Die Mutter tröstet ihn. Sie sieht es gern, wenn sie ihren Ältesten einmal ganz für sich haben kann. Sie findet, der Vater verlange von dem Jungen zu viel. Die körperliche Anstrengung beim Sport verschärfe die Krankheit nur. Sie hat auch darauf gedrungen, dass Ernesto die erste Volksschulklasse nicht besuchen muss, sondern von ihr daheim unterrichtet wird. Nur in der zweiten und dritten Klasse nimmt er regelmäßig am Unterricht teil. Später bringen ihm seine Geschwister die Hausaufgaben mit, und er arbeitet für sich allein.

      Er liest viel. Der Vater besitzt eine private Bibliothek von 3.000 Bänden. Philosophische und soziologische Schriften, die Werke Freuds, Fachbücher über Mathematik, Maschinenbau und Architektur, die Gedichte Baudelaires - alles interessiert den Jungen.

      Er hört die Eltern häufig streiten. Es geht dabei nicht, wie in anderen Familien, um Geld, Liebe oder eheliche Treue. Wenn er es recht versteht, bricht der Streit immer darüber aus, wie den Armen am wirksamsten geholfen werden könne.

      Vater wie Mutter ergreifen entschieden Partei für die Armen. Die Mutter meint, man müsse kämpfen. Der Vater hingegen vertritt die Ansicht, es habe keinen Zweck, man könne die Welt nicht ändern, jedenfalls nicht fundamental. Vor allem widerspricht er den Erwartungen, die die Mutter in die große Revolution setzt.

      Versteht Ernesto das richtig? Ganz sicher ist er sich nicht. Es gibt da zu viele Worte, deren Sinn er nicht begreift. Sein Gefühl sagt ihm, die Mutter müsse recht haben. Wie oft ist er zusammengezuckt, wenn er auf Spaziergängen mit dem Vater die Baldios, die Elendsviertel, am Rande der Stadt gesehen hat. Kinder, die dort wohnen, werden von den anderen in der Schule gemieden (jene wenigen, die von dort überhaupt zur Schule kommen).

      »Lumpenkinder! Lumpenpack!« rufen ihnen die anderen nach.

      Er schlägt sich für das Lumpenpack. Er verschenkt Frühstücksbrote an Kinder aus dem Baldio. Um sie nicht zu demütigen, schiebt er die Brote heimlich unter ihre Bank. Er kann sich vorstellen, wie das ist, anders zu sein. Er