Hans-Dieter Mutschler

Halbierte Wirklichkeit


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gebärdet. Totalitär ist der Anspruch, das Sein auf den Begriff gebracht zu haben mittels weniger Prinzipien, die dann als Generalschlüssel zur Realität gültig sein sollen. Letztlich verbirgt sich dahinter die Sehnsucht, die Welt so zu sehen, wie Gott sie sehen würde. Dieser Blick ist uns endlichen Wesen verwehrt, denn wir sind der Vielheit und Sperrigkeit der Erfahrungsbezüge ausgesetzt, die keine Vernunft in eine Einheitsperspektive verrechnet, möge sie materialistisch oder spiritualistisch bestimmt sein. Wir sind zwar imstande, die Vielheit und das Chaos der Erfahrung mit Vernunft und Wissenschaft partiell zu ordnen, das Ganze bleibt uns aber letztlich unverständlich und fragwürdig. So fragwürdig, wie wir uns selber sind. Darauf gibt es letztlich nur zwei mögliche Antworten: Skeptizismus oder Agnostizismus auf der einen, religiöses Vertrauen auf der anderen Seite. Es ist heute üblich, dieser Konsequenz auszuweichen mit dem Verweis auf die Leistungen von Wissenschaft und Technik. Aber beide tragen zu solchen fundamentalen, existentiellen Fragen nichts bei. Selbst wenn wir alles berechnet und alles manipuliert hätten, blieben wir uns selbst ein Rätsel.

      Es ist darüber hinaus üblich, ja übel, die Religion pauschal als Gegnerin der Wahrheit zu denunzieren, so als hätte nicht alles auf dieser Welt seine Schattenseiten. Demgegenüber sollen hier in einem abschließenden Kapitel religiös-theologische Fragen explizit behandelt werden. Es ist die Überzeugung des Verfassers, dass wir insbesondere unsere eigene christliche Religion heute weit unter Preis verkaufen, indem wir ihr Sinnangebot ignorieren. Mehr als ein Angebot ist es freilich nicht. Glaube ist kein Wissen im Vergleich mit dem, was die Wissenschaften liefern. Er ist ein beglückendes Wagnis, das zwar empfohlen, nicht aber bewiesen werden kann. Deshalb ist das letzte Kapitel vom Rest des Buches durch eine Zäsur des Geltungsanspruchs abgesetzt. Wissenschaft und Philosophie führen uns nur bis zur Frage und dort, wo wir eine Antwort zu geben versuchen, hat sie lediglich den schwebenden und äußerst riskanten Charakter einer Verheißung, die ins Glück führt oder einfach nur ins Nichts. Die Frage, die wir selber sind, bleibt bestehen. Sie hat entweder keine Antwort oder eine solche des Vertrauens.

      Zusammenfassung

      Wir kennen zwei Versionen der Wirklichkeit, nämlich aus den korrespondierenden Quellen von Wissenschaft und Lebenswelt. Die Lebenswelt ist zunächst einmal soziale Welt, charakterisiert durch Sinnperspektiven, durch ein System von Zielen, Werten und Zwecken, die meist normativ geregelt sind. Die wissenschaftliche Version der Welt arbeitet mit neutralen Kausalitätsrelationen, näherhin bestimmt durch die Naturgesetze und durch regellose Zufälle. Hält man die wissenschaftliche Version der Welt für die Eigentliche, dann degeneriert die Lebenswelt zum Oberflächenphänomen, sie wird zum wesenlosen Dampf auf dem Gewässer des Realen und ist dann nichts Eigenständiges oder Substanzielles mehr. Vertritt man diese Position, dann sind materialistische Schlussfolgerungen unausweichlich. Dagegen soll in diesem Kapitel gezeigt werden, dass sich Wissenschaft und Lebenswelt wie die beiden Brennpunkte einer Ellipse verhalten, die diese Figur allererst aufspannen. Es gibt jedoch auch die gegenteilige pragmatische Auffassung von Wissenschaft als einer unselbständigen Fortsetzung von lebensweltlicher Praxis. In beiden Fällen schrumpft die Ellipse unseres Weltverständnisses zum Kreis, der sich ewig nur um sich selbst dreht.

      Es hängt fast alles davon ab, wie wir das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt fassen, wie sich in diesem Buch an zahllosen Beispielen zeigen wird. Viele glauben, dass unsere praktisch bestimmte Lebenswelt nur ein Oberflächenphänomen sei, wohingegen uns die Wissenschaft darüber aufklärt, was es damit wirklich auf sich hat. Wenn man es so sieht, dann wären z. B. die Farben, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, nichts als elektromagnetische Wellen einer bestimmten Frequenz, die wir in Nanometern messen und berechnen können. Diese wissenschaftliche Behandlung der Farben hat in technologischer Hinsicht große Vorteile, aber es geht dabei etwas verloren, nämlich die Erlebnisqualität, die mit solchen Farben verbunden ist. Der Klagegesang des Blues bezieht sich nicht umsonst auf eine bestimmte Farbe und unsere roten Ampeln sind deshalb ein Warnsignal, weil sie uns an das fließende Blut als an etwas Gefährliches erinnern. Unsere lebensweltlichen Erfahrungen sind also qualitativ bestimmt, emotional getönt, lebensdienlich oder abträglich, niemals aber neutral. Sie erschließen sich erst in der Perspektive des Betroffenseins.

      Beschränken wir uns hingegen auf die Beobachterperspektive, also die der Naturwissenschaft, dann hat dies eine radikale Ausdünnung unseres Weltbezugs zur Folge, denn die Naturwissenschaft kennt keine intrinsischen Werte, die den Dingen als solchen zukommen. So würde z. B. kein Physiker Licht als wertvoller ansehen als Schwerkraft (was übrigens sowohl die antiken als auch die romantischen Naturphilosophen getan haben). Auch wird ein Biologe nicht behaupten wollen, ein Eichhörnchen sei wertvoller als ein Wurm oder dieser als ein Bakterium. Vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen ist ein Eichhörnchen anders als ein Wurm oder ein Bakterium und das ist alles, was dazu gesagt werden kann. Es sind aber nicht nur die Werte und Erlebnisqualitäten, die in einem rein naturwissenschaftlichen Weltbild aus dem Blick geraten, auch Ziele und Zwecke ignoriert Naturwissenschaft, denn sie ist vom Prinzip her ateleologisch. Warum blendet die Naturwissenschaft Werte, Ziele, Zwecke und Erlebnisqualitäten aus, die doch für unser praktisches Leben so entscheidend sind?

      Über Werte kann man streiten, über Messwerte nicht. Ob Liebe das höchste moralische Prinzip oder vielleicht gar keins ist (wie Kant annahm), darüber werden die Meinungen immer auseinander gehen, aber dass die Luft in diesem Raum 23 Grad Celsius oder ihr Druck 1010 Millibar beträgt, das lässt sich eindeutig bestimmen, darüber muss nicht gestritten werden. Das Spezifikum der Naturwissenschaft ist also die intersubjektive Überprüfbarkeit der Ergebnisse. Werte und Gefühle sind viel zu subjektiv, um als solche in die Naturwissenschaft einzugehen. Hinzu kommt, dass die Betroffenenperspektive individuell und geschichtlich geprägt ist, womit wir vom Standpunkt der Naturwissenschaft nichts anfangen können, weil wir dort allgemeine Gesetze suchen, im Verhältnis zu denen das Individuelle nur einen gleichgültigen Einzelfall darstellt. Andererseits hat man niemals historische Gesetzmäßigkeiten finden können, die irgend dem vergleichbar wären, was die Physiker Jahr für Jahr herausbringen. Wer also an klar überprüfbaren Gesetzmäßigkeiten interessiert ist, der wird das Subjektive, Individuelle, Historische, also die Betroffenenperspektive insgesamt, ausblenden.

      Natürlich verfolgt auch der Wissenschaftler Ziele. Er ist eben immer auch eine historisch bedingte Person. All dies sollte nicht auf seine Ergebnisse abfärben und wenn er das Ziel der Wahrheit verfolgt, dann repräsentiert zwar die Wahrheit einen Wert für ihn, aber erstens können wir uns über diese Ausrichtung auf Wahrheit hin intersubjektiv verständigen und zweitens betrifft dieser Wert der Wahrheit nur das forschende Subjekt und die von ihm aufgestellten Theorien, niemals aber die von ihm untersuchten Objekte. Unsere Theorien mögen wahr oder falsch sein. Ein Atom oder ein Gen ist niemals wahr oder falsch. Und so gibt es auch keine falschen Hirsche oder Karnickel. In der alltäglichen Rede unterscheiden wir zwar echte von den unechten Schlüsselblumen, aber der Biologe kann damit nichts anfangen. Wir werden später auf Redeweisen wie „Er ist ein wahrer Freund“ oder „Er ist ein wahrer Künstler“ zurückkommen. So etwas hat man früher einmal ontologische Wahrheit genannt, im Gegensatz zu bloßer Satzwahrheit. Es gibt zwar Gründe, sich in der Wissenschaft ausschließlich auf Satzwahrheiten zu beschränken, aber wir werden im Hegelkapitel sehen, dass der Begriff der ontologischen Wahrheit unverzichtbar ist, wenn er auch in den meisten Philosophiebüchern nicht mehr vorkommt. Unverträglich mit dem Objektivitätsideal der Naturwissenschaft ist nicht nur die Subjektabhängigkeit der Werte, sondern alles, was wir aus der Betroffenenperspektive formulieren. Der Wissenschaftler wird jedoch immer die objektivierend distanzierte Dritte-Person-Perspektive einnehmen, d. h. die Beobachterperspektive. Daher ist es für die Wissenschaft gleichgültig, ob mich das Objekt meiner Wissenschaft anekelt oder entzückt. Eklige Spinnen sind für den Biologen nicht weniger interessant als drollige Pandabären, giftige Brennnesseln nicht weniger als unschuldige Lilien.

      Natürlich kann man nicht bestreiten, dass wir auch in unserer Lebenswelt häufig die Beobachterperspektive einnehmen. Tatsächlich springen wir in unserer praktischen Existenz ständig von der Betroffenen- in die Beobachterperspektive und zurück. Aber eben dies, dass wir springen, macht die Differenz zur Grundeinstellung des Wissenschaftlers aus. Ob ihn der Gegenstand seiner Forschung persönlich