Michael Heymel

Das Wagnis, ein Einzelner zu sein


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ein Leben, in dem alles möglich ist, ein Leben in Freiheit und innerer Wahrhaftigkeit. Dieses Ideal muss Kierkegaard zumindest zeitweise |40| sympathisch gewesen sein. »Der Romantiker«, sagt er, »will poetisch leben um jeden Preis, er will selbst sein Leben erdichten«.48 Aber seiner Ironie sei es mit nichts ernst, er fliehe vor der Verantwortung. Daran entzündet sich nun Kierkegaards Kritik: Er wirft der Romantik vor, dass sie sich um den höchsten Genuss der wahren Seligkeit bringt, »wo das Subjekt nicht träumt, sondern in unendlicher Klarheit sich selbst gehört, sich selbst völlig durchsichtig ist; denn das ist erst dem religiösen Individuum möglich«.49 Poetisch leben bedeute daher etwas anderes als das, was die Romantiker damit verbinden. Es »heißt nicht, sich selber dunkel zu werden, in widerwärtiger Schwüle über seinem Selbst zu brüten, sondern es heißt, sich selbst durchsichtig und klar zu werden, nicht in irdischer, egoistischer Zufriedenheit, sondern in seiner absoluten und ewigen Gültigkeit«.50 Liest man Kierkegaards spätere Schriften, so gewinnt diese Bemerkung aus dem »Begriff der Ironie« geradezu programmatische Bedeutung für sein gesamtes folgendes Werk. Sich selbst durchsichtig zu werden, das ist für Kierkegaard gleichbedeutend damit, ein Mensch zu sein, und dazu will er als Autor seinen Lesern verhelfen in dem Bewusstsein, dass es nur dem religiösen Individuum möglich ist, jene Klarheit über sich selbst zu gewinnen, ohne zu verzweifeln oder wie der Romantiker dem Nihilismus zu verfallen.

      Die kleine Schrift »Eine literarische Anzeige« ist eine Buchbesprechung, die ich hier übergehe. Von größerer Bedeutung sind »Das Buch Adler« und »Der Augenblick«. Den Fall eines Bornholmer Pastors, Magister Adolph Peter Adler, der sich auf eine persönliche Christusoffenbarung berufen hatte und deswegen von seiner Kirchenleitung zur Rechenschaft gezogen worden war, nimmt Kierkegaard im Jahr 1847 zum Anlass, seinen Begriff des Einzelnen zu klären. Es gibt für ihn den ordentlichen Einzelnen, der als Glied eines Gemeinwesens seine Verantwortung vor Gott wahrnimmt, und den außerordentlichen Einzelnen, den ein Ruf Gottes aus der Gesamtheit ausgesondert hat. Dieser Außerordentliche stellt das Bestehende in Frage, deshalb wird sein Auftreten als Störung empfunden. Der außerordentliche Einzelne ist bereit, sich selbst zu opfern, anders kann er seiner Bestimmung, das Bestehende umzuschaffen, nicht treu bleiben. Pastor Adler war daran aus Kierkegaards Sicht gescheitert. Von Bischof Mynster eingehend befragt, hatte er schließlich seinen Anspruch, ein Berufener zu sein, aufgegeben. Deswegen habe die Kirchenleitung recht gehabt, ihn 1844 von seinem Amt auszuschließen. |41| Für Kierkegaard war der Fall Adler ein Memento und ein Symptom dafür, dass man in der »geographischen Christenheit« Christ sein und sogar Pastor werden konnte, ohne eigentlich zu wissen, was Christwerden bedeutete.51 Adler habe nicht begriffen, dass ein qualitativer Unterschied zwischen einem Apostel und einem Genie bestehe, sonst hätte er an seiner göttlichen Berufung und Vollmacht unter allen Umständen festgehalten und auf die staatliche Pension verzichtet, die ihm einen beschaulichen Ruhestand gewährte. Der wahre Außerordentliche ist allein um seine Instruktion und sein Verhältnis zu Gott bekümmert; er kann in der Gewissheit der Ewigkeit Leib und Leben für seine Sache wagen.52

      In seiner Schrift »Einübung im Christentum« hatte Kierkegaard bereits eine scharfe Kritik am allgemeinen offiziellen Christentum in Dänemark geübt. In der bestehenden Christenheit erhalte die Staatskirche lediglich den Anschein aufrecht, alle Leute seien Christen. Aber dies sei eine Täuschung, ein Sinnentrug. In Wirklichkeit bestehe zwischen dem Christentum des Neuen Testaments und dem, was heute Christentum genannt werde, eine ungeheure Kluft. Man meine, Bewunderer Christi seien Christen. Doch wahre Christen könnten nur Nachfolger sein, die ihr Leben von Christus umformen lassen.53

      Vier Jahre später, im Januar 1854, starb der alte Bischof Mynster. Als nun Professor Martensen, der als aussichtsreicher Nachfolgekandidat galt, im Februar eine Gedenkrede hielt, in der er den verstorbenen Bischof als ein Glied in der »Kette der rechten Wahrheitszeugen« lobte, da erhob Kierkegaard Einspruch: Ein solcher Titel sei dem Wesen des Christentums zuwider. Er veröffentlichte seinen Artikel jedoch erst im Dezember 1854, nachdem Martensen das Bischofsamt übernommen hatte. Wie zu erwarten stand, antwortete Martensen entrüstet und warf Kierkegaard vor, er sei pietätlos und kenne nur ein Christentum ohne Kirche und ohne Geschichte. Die Frage, ob Mynster ein Wahrheitszeuge im Sinne des Urchristentums gewesen sei, wies Martensen als unzulässig zurück. Daraufhin ging Kierkegaard zu einem Angriff auf die dänische Staatskirche über, der an Schärfe alle bisher von ihm geübte Kirchenkritik übertraf. In Flugblättern unter dem Titel »Der Augenblick« griff er »nun den gesamten Pastorenstand an, weil |42| Martensen mit Mynster den ganzen Stand in den Rang des Wahrheitszeugen erhoben« habe.54 Das trug Kierkegaard prompt den Vorwurf der Schwärmerei und das Urteil ein, er stehe außerhalb der Kirche Christi. In den folgenden Flugblättern reagierte er mit einem unerhörten Einspruch gegen das Bestehende. Er warnte den Leser, am öffentlichen Gottesdienst teilzunehmen. Wer fernbleibe, lade eine große Schuld weniger auf sich und beteilige sich wenigstens nicht daran, Gott zum Narren zu halten. Die verbürgerlichte Kirche rechne nur mit der Masse, da sie möglichst viele brauche, um bestehen zu können, während das Christentum immer den Einzelnen meine. Das Interesse des Christentums ziele auf wahre Christen. Die Pastoren sieht Kierkegaard als die Hauptschuldigen, die mit staatlicher Protektion das Christentum vereiteln: »Der Egoismus des Pastorenstandes zielt ab auf die vielen Christen …«55

      In der zehnten Nummer des »Augenblicks«, die nicht mehr veröffentlicht wurde, erkennt Kierkegaard Sokrates als die einzige Analogie an, die es für ihn gebe. Worin besteht für ihn die Parallele zu seiner eigenen Aufgabe? Sokrates musste die vermeintlich Wissenden ihrer Unwissenheit überführen, indem er als der einzige Unwissende unter ihnen auftrat. »Kierkegaard muss als der einzige bewusste Nichtchrist, wie er sich selbst nennt […,] die Christenheit dessen überführen, dass ihr vermeintliches Christentum keines ist.«56 Wenige Tage später bricht er auf der Straße zusammen. Man bringt ihn ins Krankenhaus, wo er fünf Wochen später stirbt.

      Sein Wirken als Autor erreichte im Kirchenstreit seinen Höhepunkt. Erst vier Jahre nach seinem Tod erschien die bereits 1849, also lange vor dem Kirchenstreit verfasste Schrift »Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller«, eine Art Generalbeichte, die Kierkegaard unter seinem eigenen Namen ablegt und mit der er sich zu seinen pseudonymen Schriften bekennt. Im Rückblick formuliert er das Anliegen, das er mit seinem ganzen Werk verfolgt habe. Er wolle darin »ohne Vollmacht auf das Christliche aufmerksam machen«.57 Hier hat jedes Wort Gewicht. Ohne Vollmacht, d. h. als Theologe, der zwar das Examen und den Doktorgrad (= Magister) erworben habe, aber nicht die Autorität des ordinierten Pfarrers geltend machen könne, will Kierkegaard auf das Christliche aufmerksam machen, das durch Offenbarung von Gott selbst mitgeteilt und autorisiert ist, mit göttlicher |43| Autorität verkündigt wird und vom Einzelnen geglaubt werden soll. Daher interessiere ihn, wie ein Mensch sich die Wahrheit seiner Existenz, die ihm in Christus mitgeteilt wird, persönlich aneignen könne. Sein ganzes Werk sei bezogen auf das Problem Christwerden, d. h. auf die Frage, wie ein Mensch Christ wird.

      Kierkegaard hat, übereinstimmend mit der lutherischen Orthodoxie, vom Pfarramt sehr hoch gedacht58 und stets daran festgehalten, dass nur ein ordinierter Prediger die Vollmacht habe, das Evangelium als von Gott autorisierte Botschaft zu verkündigen. Vollmacht ist für ihn »die spezifische Qualität entweder einer apostolischen Berufung oder der Ordination«.59 Ohne Vollmacht könne ein Mensch nicht mehr für den anderen tun, als ihn auf die in Christus begegnende Existenzwahrheit aufmerksam zu machen, weil – wie in Orientierung an Sokrates zu betonen ist – jeder nur bei sich selbst Wahrheit zu realisieren vermag.

      In diesem Überblick über Kierkegaards Gesamtwerk habe ich zu zeigen versucht, weshalb es sinnvoll ist, diesen Autor nicht als Philosoph, sondern als religiösen Schriftsteller der Moderne zu begreifen, dessen Werk sich als ganzes dem zurechnen lässt, was man mit einem heute erklärungsbedürftigen Wort »Erbauungsliteratur« nennt. Da Kierkegaard mit der biblisch-christlichen Überlieferung sehr unkonventionell umgeht und sie literarisch, philosophisch und theologisch hochreflektiert verarbeitet, ist seine Form von Erbaulichkeit entsprechend mehrdeutig,60 wie seine Texte sich überhaupt dagegen sperren, auf ein Schema festgelegt und bloß auf einer einzigen Bedeutungsebene gelesen zu werden. Das macht Kierkegaard gerade zu einem modernen religiösen Schriftsteller, aufregend modern und religiös. Aus der Darstellung wurde deutlich,