Geschenk war?!“ Guddi atmete tief durch: „Silkes Bruder ist vor zehn Jahren an Leukämie gestorben. Silke hatte als letzte, lebensrettende Maßnahme Knochenmark gespendet. Zwischen beiden Kindern herrschte eine tiefe Verbundenheit, fast wie bei Zwillingen. Den letzten gemeinsamen Urlaub hatten sie auf Fehmarn verbracht. Silke und ihre Mutter wollten ihrem Vater ein Wochenende dort schenken – sogar auf demselben Ferienhof wie damals.“ In diesem Augenblick kehrte Herr Meulengracht wieder in den geschundenen Körper von Peer Modrich zurück. Er rannte, so schnell es sein Zustand zuließ, Richtung Herrentoilette und ließ der Keramik Farbspektren zukommen, die sie – und alle anderen Keramiken auf diesem Planeten – bislang noch nicht gesehen hatte.
Es war also keine Einbildung. Peer betrachtete sein Spiegelbild auf der Herrentoilette, während die Spülung die letzten lockeren Bröckchen in die Kanalisation beförderte. „Ressler, du gottverdammtes Stück Dreck! Warum hast du damals überleben müssen?“
Mit einer Tasse starkem Filterkaffee kehrte er zurück ins Meeting. Guddi blickte ihn besorgt an, in Heppners Blick steckte ausschließlich Verachtung. „Ich bin mir sicher“, sagte Modrich völlig unvermittelt, „ich bin mir sogar sehr sicher, dass der Kleinen was passiert ist. Haben wir irgendeine Spur zur Lei … ähm, ich meine, wissen wir, wo sie sich eventuell aufhalten könnte? Hatte sie vielleicht einen Freund, von dem sie so enttäuscht worden war, dass sie leichtsinnig wurde und mit dem Erstbesten mitging, der zufälligerweise Ressler war und ihr nichts Gutes wollte?“ Guddi hatte ihren siebten Sinn eingeschaltet. Dies war der Moment, in dem Heppner nur noch ein Mü davon entfernt war, zu explodieren. Der Vortrag, den er Modrich halten würde, wäre lang und schmerzhaft. Die ewigen Vergleiche mit Modrich senior taten Peer natürlich nicht gut und würden weitere Meulengrächte nach sich ziehen. Guddi musste Peer also schützen. „Bei allem gebotenen Respekt, Herr Heppner: Wir haben bislang keinerlei Beweise dafür, dass Ressler dieses Mädchen gekannt, geschweige denn getroffen hat, richtig?“ Guddi wusste, dass sie sich auf verdammt dünnes Eis begab, aber dies war im Moment die einzige Möglichkeit, etwas Druck aus dem Heppner’schen Kessel und Modrich aus der Schusslinie zu nehmen. „Ich habe hier eine Liste mit den Mädchen, die Silke an jenem besagten Abend begleitet haben. Ich würde vorschlagen, wir bilden zwei Teams, die rausfahren und Befragungen vornehmen. Kollege Modrich und ich machen uns am besten gleich auf den Weg. Fetschner und Krauss sollten das zweite Team bilden. Bitte informieren Sie doch die beiden Kollegen – oder soll ich? Das dritte Team muss sich um die Aufklärung des Breisig-Falls kümmern. Das könnten die beiden neuen Kollegen machen. Dubinski und Stemmler.“ Guddi wandte sich Modrich zu und gab ihm zu verstehen, bloß nichts zu sagen. „Los, Peer, erheb dich. Lass uns auf dem Weg noch bei einer Apotheke halten und Drogennachschub für dich und deinen Kater besorgen.“ Dabei konnte sie sich ein breites Grinsen nicht verkneifen; aus dem Augenwinkel erkannte sie aber, dass Heppners Hals immer dicker wurde und sie nun vermutlich nicht mehr als drei Sekunden Zeit haben würde, das Büro ihres Chefs zu verlassen, ohne die Standpauke ihres Lebens zu erhalten. Sie hatte den Bogen überspannt. Auch wenn sie Heppner nicht wie einen Schuljungen behandelt hatte, so war bereits der Versuch strafbar. Einer wie Heppner musste immer alles unter Kontrolle haben und die nächsten Ermittlungsschritte selbstbestimmt vorgeben. Und plötzlich kam da so eine einfache Ermittlerin daher, die eben erst ihren Abschluss an der Polizeihochschule absolviert hat und meinte, ihm sagen zu müssen, wie er bei einem Mordfall vorzugehen habe. Ein Mordfall, der noch keiner war, wie Heppner sich in diesem Moment beruhigend einredete. „Kommen Sie bloß mit Ergebnissen zurück, Miss Marple!“, blaffte Heppner Guddi im letzten Moment an. „Wir sind es nicht nur den Eltern, sondern bald auch der Öffentlichkeit schuldig, das Mädchen zu finden. Denn sobald die Presse davon Wind bekommt, wird der komplette Fall Ressler wieder ausgegraben – und dann gnade uns allen Gott!“
Auf dem Weg zu Sarina Pierken, der ersten Zeugin, saßen Guddi und Peer lange Zeit schweigend in ihrem Dienstwagen. Modrich ging es nun spürbar besser, nachdem der Apotheker ihm eine Schmerztablette mit dem Zusatzwirkstoff Lysin verabreicht hatte. Hier hatte die Werbung einmal wirklich recht: Das Zeug wirkte in Minutenschnelle und blies Modrichs Kopfschmerzen einfach weg. Im Radio lief R.E.M.s „Losing My Religion“, was das Schweigen zwischen den beiden Ermittlern brechen sollte „Oh life, is bigger …“, trällerte Guddi und zog dabei ein Gesicht, als läge der gesamte Weltschmerz auf ihren schmalen Schultern. „Gott, wie ich diesen Song hasse“, giftete Modrich, als sei sein Kater wieder zurückgekehrt. „Zu ,Losing My Religion‘ und ‚Walking On Sunshine‘ tanzen ausschließlich Frauen. Fehlt nur noch ‚Bring Me Some Water‘ von Melissa Etheridge, dann übergebe ich mich gleich noch mal!“ „I thought that I heard you laughing!“ Guddi gab sich größte Mühe, noch lauter und schiefer als zuvor mitzusingen. „Modrich, tu mir bitte einen Gefallen und geh mir einfach nicht länger auf den Sack, ja? Ich hab dir da drinnen den Arsch gerettet und jetzt hab ich verdammt noch mal das Recht, zusammen mit Michael Stipe einen der besten Popsongs aller Zeiten zu singen. That’s meee in the corner!“
14
Karl Ressler stand in seiner Londoner 2-Zimmer-Mansarden-Wohnung, die er sich vor einigen Wochen bei seinem letzten London-Trip gemietet hatte, und bügelte. Hier im Stadtteil Soho, wo 24 Stunden am Tag das Leben brodelte, konnte Ressler, dank seiner perfekten Tarnung, ein und aus gehen. Sein fast schon natives Englisch, das er sich über die Jahre in der Gefängnispsychiatrie angeeignet hatte, half ihm ebenfalls sehr dabei. Schnell hatte er Kontakte geknüpft, zum Beispiel zu Jerry, dem Besitzer des Kiosks in der Goodge Street, wo Karl seine heiß geliebten Marshmallows mit Karamellgeschmack bekam. Gut, vermutlich bekam er sie auch in jedem x-beliebigen Supermarkt, aber in Jerry erkannte Karl eine Art Seelenverwandten. Nicht, dass Jerry auch ein Faible für heranwachsende Mädchen hatte, im Gegenteil: Jerry war schwul und lebte seit Jahren mit Martin, einem extrem gut aussehenden Physiotherapeuten, in einer eheähnlichen Gemeinschaft zusammen. In Soho gab es eine ansehnliche Schwulen- und Lesbenszene, die sich allabendlich in den einschlägigen Klubs traf und nun zu Karls Ersatzfamilie geworden war. Jerry liebte die Bee Gees mindestens ebenso wie Karl. Gleich bei Karls erstem Besuch in Jerrys Kiosk lief im Hintergrund „How Deep Is Your Love“, und irgendwie hatte Jerry direkt gemerkt, dass Karls Reaktion auf den Song eine besondere war. Der verklärte Blick, das Mitsingen der Textzeilen, all das wies daraufhin, dass da ein „Gibbling“ in seinem Laden stand. „Gibbling“, so nannten Jerry und seine Freunde, die allesamt „Gibblings“ waren, die Hardcore-Fans der Gebrüder Gibb. „Als Take That den Song damals coverten, organisierte ich eine Demo mit meinen Mädels, um zur BBC zu marschieren.“ Jerrys Grinsen wurde breiter und breiter. „Wir hatten uns die engsten Hosen und buntesten Accessoires angezogen, um bloß irgendwie aufzufallen. So eine stümperhafte Coverversion durfte nicht ungestraft bleiben, nein, sie sollte sogar von jeder Radioplaylist verbannt werden!“ Karl hielt sich den Bauch vor Lachen. Kaum zu glauben, dass er, nur zwei Tage nachdem er die Flucht nach London angetreten hatte, bereits jemanden kennengelernt hatte, mit dem er unbeschwert würde reden können, ohne dass auch nur irgendein müder Verdacht auf ihn fallen würde. Warum auch? Sie hatten eine großartige Gemeinsamkeit entdeckt. Jerry lud Karl noch am selben Abend in die Salsa-Bar von Soho ein, wo Karl dem bunten Treiben seiner schwulen Freunde beiwohnte. Und seltsamerweise dachte er auch nicht im Traum daran, irgendeine Frau in der Bar anzuquatschen, obwohl es ihm die eine oder andere, alleine schon durch die Art, Salsa zu tanzen, deutlich angetan hatte. Karl war umgeben von gut einem Dutzend Schwulen, die ihn in ihre Clique aufgenommen hatten, obwohl sie alle wussten, dass er hetero war. Keiner von Jerrys Freunden hatte es je gewagt, ihn anzubaggern, obwohl natürlich der eine oder andere Spruch fallen gelassen wurde. Aber eben so, wie sich Freunde nun mal gegenseitig foppten. Ja, man könnte meinen, dass Karl Ressler nun zum allerersten Mal in seinem Leben einen Freundeskreis gefunden hatte. Man vertraute ihm, er selbst erzählte Jerry und den anderen Dinge, die er nie zuvor anderen Menschen erzählt hatte. Natürlich achtete er darauf, dass er das Ende der jeweiligen Geschichte etwas abwandelte, denn ein Mord ist und bleibt ein Mord, egal ob man ihn in London oder in Unna begeht.
Nun stand Ressler in seiner Wohnung und bügelte das Kleid von Silke, das sie in ihrer letzten Nacht getragen hatte. Er hatte es nach der Tat sorgsam gewaschen, ihr Duft haftete jedoch immer noch daran. Ressler zog das Kleid über seinen Kopf, ließ es dicht auf seinem Gesicht liegen und atmete tief ein. Sein Refugium, das er sich in London aufgebaut hatte, half offenbar nicht dabei, seinen Trieb zu unterdrücken.