2 Wohnheim Avenida Mackenna
Den Weg nach Hause liefen Claudia und Inés in Gedanken versunken nebeneinander. Inés dachte an die Ausführungen der Compañera Lucía, dass die Milicos alle gefangenen Frauen vergewaltigen würden. Im Geiste sah sie sich im Hinterzimmer eines Kommissariats von Soldaten umstellt. Männer packten sie an Hand- und Fußgelenken. Obwohl Inés sich nach Kräften zu wehren suchte, rissen sie ihr die Bluse vom Leib. Sie schrie nicht, denn niemand würde ihr zu Hilfe kommen. Nur ihr Keuchen und das Reißen von Stoff waren zu hören. Sie spürte Hände, die sich am Verschluss ihres BH zu schaffen machten. Die Männer knöpften auch ihre Hose auf und zogen sie ein Stück herunter. Niemand sagte ein Wort. Mit Schwung flog ihr BH auf den Schreibtisch. Ein paar obszöne Bemerkungen, dann die unvermeidlichen Grapschereien. Stück für Stück riss man ihr den Rest der Kleidung vom Leibe, bis sie schließlich nackt vor den Soldaten stand.
Schon als junges Mädchen hatte sie diese Phantasien gehabt. Im Badezimmer, wenn sie allein war, spielte sie manchmal solche Szenen. Dann stellte sie sich nackt vor den Spiegel, die Beine gespreizt, die Hände hinter den Kopf, die Brust nach vorn gestreckt, ganz so wie die Männer es verlangen würden. Wenn in Kinofilmen solche Szenen gezeigt wurden, wurde sie immer ganz still, damit niemand merkte, dass sie das erregte.
Falls ihr einmal tatsächlich so etwas passieren würde, dann würde sie es ebenso tapfer durchstehen wie diese Lucía. »Zähne zusammenbeißen und durch!«, das schien Inés eine gute Parole zu sein. Eine gute Geschichte musste sie dann noch stückweise als Geständnis von sich geben, um die Soldaten auf falsche Fährte zu locken.
Inés lief mit starrem Blick neben Claudia her. Ihr Herz klopfte. Sie nahm sich vor, heute abend das Ausziehen wieder vor dem Spiegel zu üben.
Claudia hing ganz anderen Gedanken nach. Der mutige Compañero hatte ihr gut gefallen. Sein lockiges Haar, die dunklen Augen und die angenehme Stimme, das passte in ihr männliches Suchschema. Ob der Typ mit dieser Lucía zusammen war? Claudia befragte ihr Bauchgefühl, ob sie sich mehr Nähe zu ihm vorstellen könnte. Zwischen den Schultern rieselte ein warmes Prickeln ihren Rücken hinunter. Ein verwegenes Grinsen huschte über ihr Gesicht, wie bei einem Kind, das sich unbeobachtet fühlt und die Chance nutzt, verbotenes Terrain zu betreten.
Die beiden erreichten eine rote Ampel und mussten warten.
»Wir müssen uns einen Notfallplan ausdenken!« sagte Inés leise.
Claudia zog die Augenbrauen zusammen.
»Was für einen Plan?«
»Falls eine von uns beiden nicht mehr auftaucht.«
Claudia fühlte sich aus ihren Träumen gerissen und schüttelte unwillkürlich den Kopf, als würde das mehr Klarheit in die Gedanken bringen.
»Doch!« beharrte Inés auf ihrem Vorschlag.
Claudia war immer noch nicht klar, warum ihre Zimmergenossin sich solche Sorgen machte. »Ist dir der Vortrag auf den Magen geschlagen? Darüber haben wir doch schon geredet.«
»Vielleicht noch nicht konkret genug. Ich habe das Gefühl, die Berichte der Compañeros könnten eine Warnung sein. Verstehst du?«
»Hm. Also gut, wenn es dich beruhigt, dann reden wir noch mal darüber.«
Inés wurde euphorisch:
»Auf jeden Fall brauchen wir eine Liste der Dinge, die unverzüglich aus dem Wohnheimzimmer verschwinden müssen. Und wir brauchen eine Geschichte, die wir im Ernstfall nach einer Verhaftung erzählen können.«
»Okay.«
Die beiden erreichten den Eingang zum Wohnheim. Im Treppenhaus kamen ihnen andere Studenten entgegen. Da man nicht genau wissen konnte, ob man ihnen vertrauen konnte, schwiegen Claudia und Inés auf dem Weg hinauf in ihr Zimmer.
Drinnen angekommen, nahm Inés die Diskussion wieder auf.
»Genaugenommen brauchen wir sogar zwei Geschichten. Eine für dich, eine für mich. Also schon weitgehend deckungsgleich, aber an einigen Punkten doch unterschiedlich. Sonst sieht das zu glatt aus.«
»Du hast dich ja richtig in das Thema verbissen. An deinen Bedenken ist ganz sicher etwas dran, aber sollten wir uns nicht eher bemühen, noch vorsichtiger zu sein, um gar nicht erst verhaftet zu werden?»
»Wir machen natürlich beides. Aber wie der Gruppenführer sagte: Das ist kein Kinderspiel. Wenn die Typen vom Geheimdienst dich erst mal nackig über den Flur schleifen, wirst du dankbar sein, dass wir was vorbereitet haben.«
Diese Assoziation genügte. Jetzt spukten auch in Claudias Kopf unheimliche Bilder herum. Sie sah sich in einem schäbigen Zimmer. Die Fenster waren verbrettert, und von der Decke hing eine rostige Kette. Männer standen mit verschränkten Armen um sie herum und grinsten. Ein dicklicher Offizier drängte sich zwischen ihnen hindurch und zeigte auf Claudias Bluse. »Zieh dich aus, Vögelchen!» Warum er sie so nannte, erschloss sich ihr nicht, aber sie war sicher, dass er »Vögelchen« zu ihr sagte.
Claudia schüttelte unwillkürlich den Kopf, als könne sie die aufdringlichen Bilder wie Moskitos vertreiben. Ins Bad, Hände waschen, dann Abendbrot machen, um auf andere Gedanken zu kommen, dachte sie.
An der Badtür hing ein Poster von einem nackten Kerl. Es hatte schon dort gehangen, als Claudia und Inés in das Zimmer einzogen. Die beiden Studentinnen waren sich nach Begutachtung seines knackigen Hinterteils einig, dass das Plakat auch weiterhin dort hängen bleiben könne.
Claudia wusch sich im Bad die Hände und fragte sich, ob der Compañero Pedro ohne Kleidung auch so attraktiv aussähe. Es wurde immer klarer: In der nächsten Woche musste sie unbedingt herausfinden, ob er schon eine Partnerin hatte.
Draußen vor der Badtür wartete bereits Inés mit seltsam lächelndem Gesichtsausdruck darauf, auch ins Bad zu kommen. Claudia kannte diesen Gesichtsausdruck inzwischen. So schaute Ines, wenn sie erotische Gedanken hatte.
Die Durchsprache der Liste von Dingen, die zu verschwinden hatten, und eine recht ausgefeilte Geschichte zerstreuten die Bedenken der beiden jungen Frauen bezüglich der Gefahren in der Militancia. Schon eine Woche später machten sie sich in aller Frühe wieder auf den Weg, um vor dem Betriebstor eines großen Motorradwerkes Flugblätter zu verteilen. Zielgruppe waren die zur Frühschicht strömenden Arbeiter, die aus ihrer politischen Resignation und Lethargie geweckt werden sollten. Die Flugblattaktionen blieben nicht lange unbemerkt. Rechte Funktionäre übten auf die Betriebsleitungen Druck aus. Von da an wurden die studentischen Zettelverteiler daran gehindert, vor dem Betriebstor zu agitieren. Das mit eigenem Geld bezahlte und unter Gefahr vervielfältigte Material wurde beschlagnahmt und zerstört.
Eine Antwort der Militancia bestand in Flugblättern, die zu Hunderten in Pappkartons gestapelt waren. Am Boden des Kartons war eine kleine Sprengladung untergebracht, der Deckel lag nur lose auf. Inés und Claudia deponierten solche Kartons auf halber Strecke zwischen den Bushaltestellen und dem Werkstor. Wenn die Ladung zündete, regneten im Idealfall die Flugblätter über den Arbeitern herab wie eine Konfettiparade. Die Technik war notgedrungen primitiv, und manchmal legte der Zünder zu früh oder zu spät oder gar nicht los. Oder ein Windstoß wehte die Blätter quer über die vielbefahrene Avenida Sor Vicenta. Es war für die Mädchen frustrierend anzuschauen, wenn nicht ein einziges Flugblatt die Zielgruppe erreichte.
Zudem waren die Aktionen nicht ungefährlich. Wer mit so einem Karton erwischt wurde, hatte gegen das Waffen- und Munitionsgesetz verstoßen. Staatsanwälte und Richter sahen in diesen Fällen keine Probleme, die betreffenden Personen für längere Zeit aus dem Verkehr zu ziehen. Den rechtlichen Hintergrund dazu lieferte die »Doktrin der nationalen Sicherheit«. Inés und Claudia ließen sich aber nicht einschüchtern. Sie waren »Militantes« und hatten eine Menge Erfahrungen bei den verdeckten Einsätzen gesammelt. Nur manchmal, wenn die Situation wieder einmal besonders brenzlig geworden war, fragten sie sich, wie lange ihre persönlichen Schutzengel diesen Lebensstil noch mitmachen würden.
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