um sich nach etwas Besserem umzusehen? Ich weiß es nicht – lohnt es sich? Das kannst nur Du entscheiden. Die ENTSCHEIDUNG, SICH AUF DIE SUCHE ZU BEGEBEN, wäre bereits ein erster großer Schritt.
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Ich muss mich bremsen, sonst schreibe ich hier am Ende gleich ein ganzes Buch. Ich hoffe, dass dies alles hier nicht so verwirrend ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Und vergiss nicht, dass es sich um MEINE ART handelt, die Dinge zu betrachten. Ich glaube zwar letztlich, dass ich mich allgemein verständlich ausdrücke, aber Du bist vielleicht anderer Meinung. Jeder muss sich seine eigenen Glaubensgrundsätze schaffen – dies sind nun einmal meine.
Wenn Dir irgendetwas davon unsinnig erscheint, lass es mich bitte in jedem Fall wissen. Ich will Dich nicht »auf die Reise« schicken, um Walhall zu finden, sondern nur darauf hinweisen, dass man die Wahlmöglichkeiten, die einem von seinem Leben vorgegeben werden, nicht hinnehmen muss. Das Leben ist größer – niemand sollte GEZWUNGEN sein, für den Rest des Lebens etwas zu tun, das ihm widerstrebt. Wenn das bei Dir der Fall sein sollte, bleibt Dir nichts anderes übrig, als Dir einzureden, Du hättest KEINE WAHL gehabt. Und da wärst Du dann nicht der einzige.
Das wär’s soweit. Wir hören voneinander,
Dein Freund …
Hunter
AN LARRY CALLEN
Thompson schreibt Callen nach Island und berichtet von seinem unberechenbaren Auftreten bei den sonntäglichen Time-Life-Partys des Verlegers Henry Luce. Außerdem erklärt er, warum Briefeschreiben für ihn eine reinigende Wirkung hat.
14. Juli 1958
57 Perry Street
New York City
Lieber Larry,
eine weitere Seelenreinigung steht unmittelbar bevor, also heb Dir das hier am besten für eine der langen sonnigen arktischen Nächte auf – es ist nicht gerade die ideale Lektüre für tagsüber, wenn Du Besseres zu tun haben wirst.
Die Überschrift hier könnte zum Beispiel heißen: »Die mitternächtlichen Grenzüberschreitungen von HST – Studie über Alkoholismus und Kleptomanie.«
Du wirst es nicht glauben – aber Henry Luce macht jeden Sonntagabend eine Bar für seine Mitarbeiter, und es gibt Freigetränke. Kein Wunder also, wenn einer von Luces Mitarbeitern jeden Sonntag ziemlich finster dreinschaut, vor sich hin brabbelt und sturzbetrunken ist. Dieser Mitarbeiter bin ich. Es sind noch andere dabei, die aber im Vergleich zu mir viel zurückhaltender sind. Man könnte nun vermuten, dass Luces Mitarbeiter nur Gutes von ihm denken und niemals darauf kommen würden, irgendwelche Dummheiten mit seinem Eigentum anzustellen. Und – was glaubst Du?
Letzte Nacht bin ich gegen ein Uhr aus dem Gebäude gestolpert, geriet in den Sog der riesigen Bodenlüftung und begann zu taumeln. Zu den Trophäen, die ich mit mir führte, gehörten ein Wörterbuch der Synonyme, fünf türkische Sandwiches, ein Füller mit Federhalter, ein großer Aschenbecher, ein Exemplar von Winesburg, Ohio sowie ein Exemplar des Viking Portable Sherwood Anderson. Das alles befand sich in einer monströsen Box, die ich auf der Schulter trug – und stammte aus Luces Privatbesitz. Wäre ich geschnappt worden, hätte ich zweifelsohne meine Stelle verloren, und meine Mitarbeiterkarte wäre mit dem Hinweis »Wegen Diebstahls gekündigt« markiert worden. Nicht gerade eine Referenz für zukünftige Bewerbungen.
Momentan verstehe ich aber gar nicht, warum ich mich wegen all dem so schlecht fühle. Es war nur ein weiterer in einer langen Serie von »Thompsonismen«, die sich seit meinem zweiten oder dritten Lebensjahr entlang einer dunklen Linie ununterbrochen fortpflanzen. Wie das alte Sprichwort sagt: »Wer zum Schwert greift, wird mit dem Schwert umkommen.« Und so werde ich den seltsamen Verdacht nicht los, dass mir ein symbolischer Tod bevorsteht. Möglicherweise handelt es sich dabei nur um eines dieser merkwürdigen psychologischen Phänomene, die mit der Natur von Schuldgefühlen zusammenhängen – ich habe mit Jesus allerdings noch nicht genug Zeit verbracht, um es sicher sagen zu können. Vielleicht komme ich mit der Aufarbeitung meiner Schuldgefühle weiter, wenn ich anfange, sie zu verstehen; vielleicht.
Es war aber ja nicht nur dieser belanglose Klau; die ganze Nacht war beängstigend und auch schon wieder typisch für mich, und kam schon lange nicht mehr vor. Um fünf Uhr nachmittags fing ich an zu trinken, und es endete gegen fünf Uhr morgens, als ich auf meiner Couch zusammensackte. In diesen zwölf Stunden habe ich es fertiggebracht, mit mehreren meiner Kollegen in heftige, von Alkohol befeuerte Streitereien zu geraten; mich vor dem Mädchen, mit dem ich verabredet war, zum Idioten zu machen; ungefähr sechs Dollar für Taxifahrten auszugeben; eine ganze Flasche Scotch zu trinken; ungefähr fünf Mal in den Brunnen im Plaza zu fallen, bis mich die Polizei hinausschaffte; um ein Haar im Knast zu landen; mit den Besetzern eines ganzen Gebäudes an der Ecke Fifth Avenue/Fünfundfünfzigste aufzuwachen; im selben Gebäude sämtliche Mädchen einer Wohnung, die ich dort kenne, zu terrorisieren; meine beiden Kumpanen, die mich auf dieser Odyssee begleiteten, zu brüskieren; und schließlich einen ganzen Tag zum Schreiben zu verlieren, um meinen Rausch auszuschlafen.
Geht man davon aus, dass der Verlauf dieser Nacht von bewussten Entscheidungen bestimmt war, kommt dabei eine Lebenshaltung zum Vorschein, die von einem Totalausfall von Struktur und Disziplin, von einer alles durchdringenden Selbstbezogenheit, von absoluter Verantwortungslosigkeit und einem vollständigen Mangel an Selbstkontrolle nicht nur geprägt, sondern geradezu verkörpert wird. Und was den Diebstahl unter dem Einfluss von Alkohol betrifft und was es damit auf sich hat, daran mag ich nicht einmal denken; sonst würde ich zu dem Schluss kommen, ich hätte mich selbst bloßgestellt.
Der Punkt dabei ist weniger, dass ich diese Dinge tue, als vielmehr: dass ich ja verstehe, was ich da tue, und es beim nächsten Mal trotzdem wieder so mache. So sicher es ist, dass diese Dinge passiert sind, so sicher ist es, dass sie sich verflucht nochmal wiederholen werden – vermutlich schon nächsten Sonntag.
Ich habe mich leer geschrieben. Es scheint sinnlos zu sein, sich überhaupt darüber auszulassen … oder vielleicht hat es ja doch einen Sinn: Etwas aufzuschreiben bedeutet für mich, es besser zu verstehen und mit größerer Klarheit zu überblicken. Ich schätze, das ist überhaupt einer der wahren Gründe fürs Schreiben: Dinge (das Leben) zu zeigen, wie sie wirklich sind, und so aus einem Chaos heraus Wahrheit freizulegen. Wo ich jetzt einen Moment darüber nachdenke – die bloße Tatsache, dass ich diesen Brief schreibe und einen Drang danach verspüre, zeigt die Bedeutung, die es hat, Wörter auf einem Stück Papier aneinanderzureihen. Wörter sind nur Werkzeuge, doch wenn man sie richtig verwendet, ist es möglich, dem eigenen Leben eine Ordnung zu geben – wenn man sich nichts vormacht und nicht die falschen benutzt. Und ich glaube, das ist der Grund, warum ich so viele Briefe schreibe: weil es der einzige Weg für mich ist – abgesehen davon, arbeiten zu gehen und literarische Texte zu schreiben –, klar auf das Leben zu blicken. Andernfalls bin ich so sehr mittendrin im Geschehen, dass ich nicht mehr merke, wie der Rest der Welt zu einem Bühnenbild für mein Leben verkommt. Das soll fürs Erste genügen. Ich erwarte nicht von Dir, dass Du auf all diese Fragen eine Antwort weißt; schreib mir einfach bei Gelegenheit und sag mir, wie die Dinge bei Dir auf dem Eisklotz [gemeint Island] vorankommen. Bis ich von Dir höre oder wir uns sehen, verbleibe ich …
paradoxerweise,
Hunter
AN SUSAN HASELDEN:
Haselden hat von Boston aus an Thompson geschrieben und sich von den Werken von Jack Kerouac und anderen Autoren der Beat Generation begeistert gezeigt. Thompson mag Unterwegs, findet aber die anderen Bücher Kerouacs schwach. Vor allem aber verachtet er Leute, die einen auf Beatnik machen – ein Virus, von dem er fürchtet, auch Haselden könne davon befallen sein.
12. November 1958
57 Perry Street
New York City
Liebe Susan,
Du scheinst total abzudrehen, und ich weiß nicht, ob ich das zum Lachen oder zum Weinen finden soll. Ich glaube, es wäre am Besten, Du würdest