Gunnar Kempf, der die Redaktion mit eiserner Faust regierte und die frühmorgendliche Anwesenheit seiner Mitarbeiter normalerweise einforderte, würde bei seinem Günstling wieder einmal ein Auge zudrücken.
Naomi schnaubte leise. Sie selbst war in die Kultur-und-Feuilleton-Ecke gerutscht. Möglicherweise, weil sie neben Louisa Tremalzo die einzige Frau in der Redaktion war. Louisa war eine junge, pummelige Italienerin und betreute die Anzeigensparte, fröhlich, nett und hilfsbereit, und sie wurde von den männlichen Kollegen natürlich in keiner Weise als gleichwertig betrachtet. Naomi hätte Louisa gerne mehr unterstützt, anfänglich hatte sie das auch getan, doch dann hatte sie erkannt, dass sie selbst unmerklich ebenfalls aus dem Kollegenkreis ausgegrenzt wurde. So hatte sie aus reinem Selbstschutz auf eine weibliche Allianz verzichtet und beschränkte sich nur noch darauf, zu grobe Übergriffe auf Louisa zu unterbinden. Zumal die junge Italienerin längst nicht in dem Maß wie sie selbst unter der herablassenden Behandlung der Kollegen zu leiden schien, im Gegenteil, sie nahm das alles mit fröhlicher Gelassenheit hin.
Naomi seufzte. Als sie nach Stuttgart gekommen war, schien doch alles so positiv zu sein, eine kleine, aber aufstrebende und niveauvolle Tageszeitung, in die sie sich einbringen könnte, dazu ein erfahrener Chefredakteur mit einem in der Branche durchaus klingenden Namen. Nach wie vor hielt Naomi sich für eine fähige Reporterin, doch es war nicht abzuleugnen, dass sie inzwischen selbst bei dieser kleinen Redaktion ins zweite Glied gerutscht war – warum, das wusste sie eigentlich nicht so genau. Und auch »Stuttgart aktuell« hatte sich bei näherem Hinsehen nicht als das entpuppt, was Naomi sich vorgestellt hatte.
Früher oder später würde sie sich entscheiden müssen, ob sie sich eine andere Arbeitsstelle suchen sollte oder ob sie sich damit abfand, irgendwie hier zu leben und einen gleichförmigen Job ohne große Höhepunkte oder Perspektiven zu machen. Die Bezahlung bei »Stuttgart aktuell« war eigentlich nicht schlecht, auch wenn viel von dem eigentlich guten Gehalt durch die hohen Lebenshaltungskosten in Stuttgart wieder aufgefressen wurde.
Naomi schüttelte die im Augenblick müßigen Grundsatzgedanken ab und vertiefte sich in die Post. Um zehn Uhr war die Redaktionskonferenz; bis dahin musste sie das Material gesichtet haben.
»Was haben wir heute?« Gunnar sah sie reihum an. Er hatte eine Stirnglatze, halblange und ungepflegt wirkende Haare und eine Lesebrille, die er auf der Nasenspitze trug, um bedeutungsvoll über sie hinwegsehen zu können.
In gewisser Weise ist er genauso ein lebendig gewordenes Klischee wie sein Jünger Timo, dachte Naomi. Bestärkt wurde dieser Eindruck durch Gunnars unsägliche schwarze Weste, die er täglich trug, ebenso durch die Tatsache, dass er bei ihren Sitzungen permanent rauchte, was sie durchaus störte. Da Gunnar aber ohne weiteres sehr unangenehm zu seinen Mitarbeitern werden konnte, hütete sich Naomi, ihren Unwillen allzu deutlich zu zeigen. Heute kam noch hinzu, dass Timo nicht einmal zur Redaktionssitzung erschienen war, ein Fakt, der Gunnar sichtlich reizte, den er aber auf gar keinen Fall mit seinen Untergebenen diskutieren würde. In angespannter Stimmung gingen sie die Themen des Tages durch; es war alles in allem nichts wirklich Spektakuläres dabei.
»Was ist eigentlich mit diesem badisch-elsässischen Frauenmörder?«, fragte Gunnar schließlich. »Ist der immer noch auf freiem Fuß?«
Timo hatte nach dem ersten Mord und auch nach den weiteren jeweils einen Artikel geschrieben, aber die Suche nach dem Mörder schien sich schwierig zu gestalten, und nun waren auch schon mehrere Monate ohne weitere Morde verstrichen.
»Der Pamina-Mörder? Der wurde tatsächlich noch nicht gefasst.«
Da weder Gerd noch Michael reagierten, übernahm es Naomi, die eher rhetorisch gemeinte Frage zu beantworten. Es war wohl ausgeschlossen, dass Gunnar nicht wusste, dass der Mörder noch sein Unwesen trieb.
»Ach, heißt der jetzt so?«, sagte Gunnar mürrisch.
»Pamina ist die Bezeichnung des Grenzgebietes zwischen Pfalz, Baden und dem Elsass«, antwortete Naomi so beiläufig als möglich, denn Gunnar mochte es nicht, wenn seine Angestellten ihr Wissen zu deutlich zur Schau stellten.
»Palatinat, Mittlerer Oberrhein und Nord-›Alsace‹, also Nordelsass. Steht so im Internet«, fügte sie hinzu.
»Was könnten wir denn als Aufhänger nehmen, um jetzt noch mal einen Artikel über den Frauenmörder zu schreiben?«, fuhr Gunnar fort, ohne auf ihren letzten Satz einzugehen. »… solange er nicht gefasst ist oder einen weiteren Mord begeht?«
»Ich könnte einen Hintergrundbericht schreiben. Die bisherigen Schauplätze aufsuchen, Systematiken darstellen.«
Naomi hatte eigentlich nicht vorgehabt, diesen Vorschlag zu machen.
»Du? Seit wann fällt Frauenmord in das Kulturressort?«
Gunnars Erstaunen wirkte eine Spur zu geheuchelt, als dass es glaubwürdig gewesen wäre.
»Ich muss ja nicht im Kulturressort alt werden, nur weil ich eine Frau bin«, sagte Naomi bissiger, als sie eigentlich gewollt hatte.
»Ich weiß nicht … Ob sich der ganze Aufwand lohnt? Du müsstest ja jeden Tag hin- und herfahren. Oder sogar ein Zimmer dort nehmen.«
Gunnar wiegte den Kopf bedenklich hin und her.
Naomi hatte mit einem Mal die Nase voll von dieser Redaktion.
Gunnar war dick geworden in der letzten Zeit, dick und überheblich. Der anfängliche Respekt, den sie vor ihm empfunden hatte, war verloren gegangen, inzwischen fürchtete sie nur noch seine Tadel und seine oft nörgelnden Angriffe – und seine gerade in ihrem Fall an den Tag gelegte Sparsamkeit provozierte sie. Bei Timo war er immer wesentlich großzügiger, was Spesen und Ausgaben anging.
»Ich habe noch den ganzen Jahresurlaub. Ich nehme jetzt einfach zwei Wochen frei. Und die 50 Euro pro Tag für ein Zimmer kann ich mir gerade noch selbst leisten. Du kannst mir den Artikel dann ja abkaufen, wenn er fertig ist.«
Sie war jetzt ernsthaft böse. Gunnar hingegen schien eher belustigt zu sein.
»Abgemacht«, sagte er zu ihrer Überraschung. »Wenn sie gut ist, dann kaufe ich dir die Story ab.«
Naomi war sich selbst nicht ganz im Klaren, warum sie sich gerade eben so exponiert hatte, aber sie nahm sich zweierlei vor: Zum einen würde sie einen sehr guten Artikel schreiben. Und zum anderen in diesen zwei Wochen intensiv über ihre berufliche Zukunft nachdenken.
*****
NOCH AM ABEND hatte sie ihren Urlaub formell bei Gunnar eingereicht und ein Zimmer in einem badischen Gasthof gebucht, unweit vom Tatort des ersten Mordes entfernt, in einem kleinen Dorf namens Neusatz. Am nächsten Morgen packte sie ihren Koffer, und nach einem üppigen Frühstück mit Rührei und Speck setzte sie sich in ihr Auto. Bald hatte sie Stuttgart verlassen und bewegte sich auf der Autobahn in Richtung Westen. Naomi folgte dem Auf und Ab der A8 bei Pforzheim, fand sich auf den Steigungsstrecken zwischen Lastwagen eingekeilt, die sie wegen der schwachen Motorleistung ihres Kas nicht überholen konnte, ohne sich den Unmut der von hinten auf der Überholspur herandrängenden stärkeren Wagen zuzuziehen. So zuckelte sie mit sechzig Stundenkilometern die Steigungen hinauf, um sich dann wenigstens bergab beherzt auf die Überholspur zu wagen, damit sie etwas schneller vorankam.
Doch schließlich hatte sie die Ausläufer des Schwarzwaldes überquert und fuhr den Abstieg in die Rheinebene hinunter. Sie bog auf die A 5 in Richtung Süden ein und ließ den Ka mit hundert Stundenkilometern die fast kerzengerade Autobahn entlang rollen, bis sie nach gut einer halben Stunde die Ausfahrt nach Bühl erreichte. Die Weite der Rheinebene tat ihr gut. Die Felder und Kiefernwälder, welche sich links und rechts neben der Autobahn erstrecken, und der sanft geschwungene Höhenzug des Schwarzwalds, dem sie nach Süden gefolgt war, hatten etwas Beruhigendes. Jetzt bewegte sie sich auf die Berge zu, im Näherkommen erkannte sie die Weinberge, die sich bis etwa auf halbe Höhe die Hänge hinaufzogen. Naomi hatte kein Navigationssystem im Auto, sie hatte deshalb die Wegbeschreibung aus dem Internet ausgedruckt und nun auf dem Beifahrersitz liegen. Doch die Beschilderung war recht eindeutig, so dass sie das Gasthaus Traube in Neusatz ohne größere Schwierigkeiten erreichte. Das Hotel – oder besser gesagt: die Pension