Zoran Drvenkar

Still


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      ZORAN

      DRVENKAR

      STILL

      THRILLER

      Eder & Bach

      1. Auflage, August 2014

      © 2014 Zoran Drvenkar

      © 2014 Eder & Bach GmbH, Berlin

      Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

      Umschlaggestaltung: wunderlandt.com

      Autorenfoto: © Corinna Bernburg

      Gesetzt aus der Adobe Garamond

      Gestaltung und Satz: Corinna Bernburg

      ISBN: 978-3-945386-01-9

       www.drvenkar.de

       www.ederundbach.de

      Datenkonvertierung E-Book:

      Kreutzfeldt digital, Hamburg

      für Mika & für jeden,

      der in die Dunkelheit eintaucht,

      um sich das Herz der Bestie zu holen

      SIE

      Sie steigen aus dem Eis wie hungrige Geister, die einen Wirtskörper suchen. Ihre Haut dampft und ihr Haar gefriert innerhalb von Sekunden. Die Genitalien sind geschrumpft, die Brustwarzen hart. Sie lachen, stoßen sich an und stapfen durch den Schnee, als würden sie einem unsichtbaren Pfad folgen. Bevor sie die Hütte betreten, reibt jeder von ihnen über die Einkerbungen, die auf Augenhöhe in den Türrahmen eingeritzt sind. Es ist eines von vielen Ritualen, es soll Glück bringen. Keiner von ihnen vertraut auf das Glück, dennoch tut es gut, dieses Ritual zu haben. Es verbindet sie miteinander wie ein Knoten, der nur einmal alle hundert Jahre gelöst wird.

      Als sie die Hütte wieder verlassen, hat sich das Eisloch geschlossen, und nur ihre Fußabdrücke im Schnee erinnern daran, daß sie aus dem See gestiegen sind. Jetzt tragen sie Stiefel und Mäntel, jetzt ist ihnen warm. Sie setzen sich in den Wagen und fahren ohne Licht los. Die Dunkelheit ist angebrochen, und der Mond schaut zwischen den Wolken hervor, als würde er sie im Auge behalten wollen. Erst nachdem sie die Straße erreicht haben, schalten sie die Scheinwerfer ein, und das Licht reißt eine Bresche in die Nacht. Es ist windstill, aber die Stille täuscht, in den nächsten Stunden soll es stürmen. Sie schweigen und schauen in die Dunkelheit, und die Dunkelheit weicht ihren Blicken aus und schaut nicht zurück.

      Das Haus unterscheidet sich kaum von den anderen Häusern. Zwei Stockwerke, ein Vorgarten, drei Tannen und eine Schaukel mit einem Schneemann davor. Es liegt in einer schmalen Einbahnstraße im Herzen von Lankwitz. Hier gibt man sich noch der Illusion hin, nicht zu Berlin zu gehören. Die Fahrbahn ist unberührt, und auf dem Bürgersteig sind keine Fußspuren zu sehen.

      Sie parken den Wagen und betrachten die Häuserreihe. Das Blinken der Weihnachtsbeleuchtung färbt die Fassaden in einen regelmäßigen Takt, als hätte die Straße ihren ganz eigenen Herzschlag. Der Schneefall ist jetzt dicht. Sie warten und lassen den Motor laufen, sie sitzen reglos im Wagen, und der Rhythmus der blinkenden Lichter wird zu einem Rhythmus der Ruhe.

      Ihr Blick kehrt immer wieder zu dem einen Haus zurück.

      Eine Stunde vergeht, dann steigen sie aus.

      DU

      Sie holen dich in der Nacht, drei Tage später lebst du nicht mehr.

      So schnell kann das gehen.

      Es ist kurz nach sieben und ein Winterabend, wie du ihn dir nur wünschen kannst – seit gestern sind Weihnachtsferien und vor einer Stunde hat es wieder angefangen zu schneien. Der Schneefall liegt über der Stadt wie eine Decke, die sich bei jeder Windböe hebt und senkt und dir zu winken scheint. Es ist Weihnachtsstimmung pur. Am Fensterglas ranken sich die ersten Eisblumen, und über deinem Bett hängt eine Lampe in der Form eines roten Papiersterns. Sie verwandelt dein Zimmer in eine warme, schummrige Höhle, der die Kälte nichts kann.

      Wäre da nicht der Fernseher an deinem Bettende, würdest du die ganze Nacht am Fenster stehen und rausschauen. Es ist zwar noch früh, dennoch trägst du schon deinen Schlafanzug und liegst neben deinem kleinen Bruder. Eigentlich hat er nichts in deinem Zimmer verloren und erst recht nichts in deinem Bett. Er sollte bei einem Freund übernachten, aber der Freund ist krank geworden. Also haben dir deine Eltern zwanzig Euro versprochen, damit du dich den Abend über um ihn kümmerst. Und so teilt ihr euch eine Schale Popcorn, und du erträgst sein Gequassel, wie man im Sommer die Mücken erträgt. Du bist müde, denn ihr schaut schon den zweiten Film, aber um keinen Preis würdest du auch nur eine Minute versäumen wollen. Eure Eltern haben euch den Fernseher nach dem Abendbrot hochgetragen und gesagt, sie bräuchten heute Zeit für sich. Es ist ihr Hochzeitstag, und gleich werden sie in die Oper gehen und später in dem kleinen Restaurant essen, in dem sie sich kennengelernt haben.

      Du hörst ihre Stimmen aus dem Erdgeschoß – das Lachen deiner Mutter, den Bass deines Vaters, und immer wieder ihr Flüstern, als würden sie ein Geheimnis teilen.

      Es geht deiner Familie gut, und das Leben könnte nicht besser sein, wenn du nur nicht so müde wärst. Dein Bruder dagegen ist hellwach. Seine Füße bewegen sich unter der Bettdecke, als wollte er jeden Moment lossprinten. Er stopft sich Popcorn in den Mund und kommentiert den Film mit Sprüchen, die alle mit »Ach, du Kacke« anfangen. Er ist sechs Jahre alt, und du hast es längst aufgegeben, ihn zum Schweigen zu bringen.

      Als eure Eltern hochrufen, daß sie jetzt gehen würden, schreckst du zusammen.

      Das Innere deines Mundes fühlt sich pelzig an, und dein Kopf ist schwer, einen Moment lang bist du weggenickt. Eure Eltern rufen, daß sie jetzt gehen, daß sie in drei Stunden wieder da sind, und daß ihr spätestens um halb elf im Bett sein sollt. Bevor du ihnen antworten kannst, schnappt die Haustür zu, dann ist kein Laut mehr von unten zu hören. Dein Bruder stellt fest, er würde auf jeden Fall bis Mitternacht und noch später wach bleiben. Du gähnst, von dir aus kann er bis um fünf Uhr früh Polka tanzen, falls er überhaupt weiß, was Polka ist.

      – Von mir aus kannst du Polka tanzen, sagst du.

      – Ausgerechnet Polka, sagt er.

      Deine Augen fallen wie von allein zu.

      Das Lachen deines Bruders weckt dich wieder auf.

      Du weißt nicht, wieviel Zeit vergangen ist. Auf dem Boden der Schale liegen nur noch ein paar Maiskörner, und die Cola in deinem Glas ist lauwarm. Dein Bruder hat nicht einmal mitbekommen, daß du geschlafen hast. Er zeigt auf den Fernseher und stellt fest, der Film wäre ganz schön albern. Du willst ihm gerade sagen, er solle mal in den Spiegel schauen, dann würde er sehen, was wirklich albern ist, als es dunkel wird im Haus. Stockdunkel und still. Du kannst den Schnee hören, der mit einem Knistern an das Fensterglas geweht wird. Dein kleiner Bruder sitzt so reglos neben dir, daß du nicht weißt, ob er noch im Zimmer ist. Kein Atemzug, nichts. Du lauschst, und nach einer gefühlten Ewigkeit hörst du ihn sagen:

      – Was jetzt?

      Du wartest, daß der Stern wieder angeht und der Fernseher erwacht, aber nichts geschieht. Nur der gelbliche Schein der Straßenlaterne beleuchtet einen Teil der Zimmerdecke, und die Schatten der Schneeflocken wandern wie träge Insekten durch dieses Licht.

      – Gleich wird es wieder hell, flüsterst du, aber es klingt nicht überzeugend.

      Dein Bruder drückt sich an dich.

      – Mach was, sagt er.

      Du versuchst die Lampe neben deinem Bett einzuschalten, sie bleibt aus. Deine Fingerspitzen sind klebrig vom Popcorn. Du wischst die Hand an der Bettdecke sauber, obwohl du weißt, daß deine Mutter deswegen