ist nicht mehr als ein Erzittern. [...] Grell überschminkte Feigheit. Die Gesetze der Ökonomie diktieren nicht weniger als die Neugründung eines erstarrten Landes – erstarrt durch die Pervertierung der Sozialsysteme ins Unsoziale, die Infizierung der Wirtschaft mit der bürokratischen Sklerose des Staates, die Verirrung der Politik im Gestrüpp des Konsensdschungels. [...] Die Großdenker der Siebziger und Achtziger sind erfüllt vom Ekel der Ökonomie, die Feuilletons beschweigen die Grundsteinlegung für eine andere Republik. Kein Diskurs, nirgends.« Wenn’s denn stimmte, das mit dem Diskurs – es ist ja noch ein Jörges da.
Man darf indes, abseits solcher dialektischen und diskursivkommunikativen Adorno-Bomben, unterm Leit- und Titelbegriff des »anschwellenden Geschwätzes« auch das eigensinnige und ungebändigt krumme Parlieren, das wahrheitsfähige Sprechen, das end- wie regellose Gerede derer verstehen, die selten oder nie über ein mediales Forum verfügen und die den »Diskurs« so eindringlich meiden wie die »Debatte« oder die »Kultur«. Man kann sie daher hie und auch da wenigstens kurz zu Wort kommen lassen. Denn im Anfang war, mit Herder zu reden, das menschliche Wort, die »Besonnenheit«, und so wird es bleiben, selbst wenn das ohrenbetäubende Geschnaube in den Reziprokwelten der Presse, der Politik und der »Kulturszene« (Frankfurter Rundschau, s. o.) davon selten etwas wissen möchte – und dafür um so mehr von den eigenen tosenden Angelegenheiten.
Gewiß, manch einer und manch einem der hier zusammengepferchten Glossen und Aufsätze über die Kommunikationskatastrophen der jüngeren Zeit haftet ein gerüttelt Maß an überholter Aktualität an, vor allem auf Grund der grandios rasanten Umwälzung der neusten Republikverhältnisse durch die vorgezogenen Bundestagswahlen am 18. September 2005. Literatur, und sei’s weitgehend polemisch legierte, vermag mit dem galoppierenden Unsinn längst nicht mehr Schritt zu halten. Trotzdem sollte den in Rede stehenden Texten der Eingang in dieses Buch nicht verwehrt werden – wenn auch bloß aus Motiven der nietzscheanisch-archivarischen Geschichtsfortschreibung und im Sinne einer kleinen kakophonischen Dokumentation des kommunikativen Krawalls. Zumindest unter solchen Aspekten ist der Wiederabdruck derartiger Einlassungen dann womöglich sogar eschatologisch gerechtfertigt. Dafür spricht ein furioser, 2005 in den USA zum Bestseller avancierter Essay des emeritierten Princeton-Philosophieprofessors Harry G. Frankfurt mit dem Titel On Bullshit (frei übersetzt nach Robert Gernhardt: Vom Scheiß der Zeit), dessen Kernthese die taz so zusammenfaßte: Eine »der hervorstechendsten Eigenschaften unserer Kultur« sei: »das Blödsinnquatschen, das Rumpalavern, das Heiße-Luft-Produzieren – oder schlicht ›bullshitting‹, wie man es so schön prägnant im Englischen ausdrückt«.
Mission Intervention
Das war eine gute Nachricht. »Nicht selten wurde der rote Teppich ausgerollt«, berichtete die WELT am 4. Januar 2003 über die kurz zuvor getätigte Reise des Günter Grass in den Jemen – in ein von Stammesfehden heimgesuchtes, »bis an die Zähne bewaffnetes Land«, das sich »finanziell verausgabt« hatte: zum Wohle der zwölfköpfigen Delegation, zum Wohle der jemenitischen Tradition des Lehmbauhandwerks, der Grass als Gegenleistung für die entgegengebrachte Gastfreundschaft mit einer Spende in Höhe von 10.000 Euro das Überleben sichern will, und zum Wohle des Nobelpreisstaatsgastes im besonderen: »Das Reisegepäck gewann von Station zu Station an Gewicht: silberne Krummsäbel, Schmuck für die Gattin, eimerweise Honig und pfundweise Kaffee, Folklore und Kostbarkeiten.«
Von Gewicht waren auch die Worte, die Grass, der »übrigens unerschrocken und mutig« das »wunderschöne Land« durchkreuzte, zwischen islamoradikal-präsidialer Ordensverleihung, Wasserpfeifenrunde und Bankett an arabische Dichterkollegen und, in einem Interview mit dem TV-Sender Al Dschasira, an die Welt richtete. Erst wollte er »unverblümt über Erotik in der Literatur sprechen«, dann äußerte das sonnige Gemüt beim Fernsehen: »Ich bin dafür, daß wir jetzt alle nackt baden gehen.« Das mochten sie zwar nicht, dafür liegt Grass nun eine Einladung in den Irak vor. Die Reise war ein voller Erfolg.
Baden hingegen ging wenig später die Mission des Menschenrechtstrios Günter Wallraff, Rupert Neudeck und Norbert Blüm. Diese drei guten Geister wollten gleichfalls eine Reise tun, nach Tschetschenien und Inguschetien. Es kam jedoch nur zum Anreisen. Die Behörden am Moskauer Flughafen verweigerten der trinitätischen Betroffenheitstruppe ohne Angabe von Gründen die Einreise. »Die Jungs waren ausgesprochen ruppig«, erzählte Blüm als pars pro toto der Menschenrechtsvertreter der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (12. Januar) und erklärte der Heimat das gemeinsame, leider gescheiterte Ansinnen: »Wir wollten Berichten nachgehen, denen zufolge die russische Armee dort die Menschenrechte verletzt.«
Es blieb also bei einem Zeitungsgespräch und einem schmukken Photo mit drei verkniffenen Gesichtern. Aber die Absicht zählt.
Ohne Einladung und somit auf ganze eigene und uneigennützige Initiative war derweil eine elf Frau und Mann starke Gruppe rund um die Tübinger Gesellschaft »Kultur des Friedens« gen Irak aufgebrochen, um nicht zu intervenieren, sondern um sich mal ganz global zu solidarisieren oder vielleicht doch eher zu sondieren, was so los und wie die Lage ist. Die Frankfurter Rundschau zitierte unter der sehr richtigen Überschrift »Kultur & Engagement« das prominenteste Mitglied der höheren diplomatischen Kurzzeitvereinigung, Liederhannes Konstantin Wecker: »Wir möchten den Menschen in Deutschland berichten, was wir dort gesehen haben, und für den Frieden werben.« Außerdem wollte er den Menschen in Bagdads und Basras Kulturhäusern, Kliniken und Universitäten beweisen, »daß es auch westliche Menschen gibt, die keine Waffeninspekteure sind«. Diese Menschen sind freigiebig, weil sie Spielzeug und Gitarren mitbringen und ein Gratiskonzert geben. »Die Mission der Reise«, erweiterte Wecker live aus Bagdad gegenüber der taz (15. Januar) allerdings die Motive seiner Handlungsweise, »war nicht das Konzert. Ich möchte diesen Krieg verhindern.« Für die Zeit danach kündigte er weiteren Einsatz an: »Ich will beispielsweise in Bibliotheken nachfragen, ob sie alte Noten haben, die wir hierher schicken können.«
Während Wecker und die aufrechten zehn ein »Friedenssignal« (Frankfurter Rundschau) setzten, hißten schon im Dezember 2002 dreiunddreißig »Hamburger Künstler« die Kriegsfahne und schalteten im Hamburger Abendblatt eine Annonce, mit der sie sich für einen Baustopp bei der Airbus-Werkserweiterung im Stadtteil Finkenwerder stark machten. Die Philippika, die u. a. der Filmregisseur Hark Bohm unterzeichnet hatte, klagte die Hinterlist der Hamburger Politik an, die im Vorfeld und vollen Wissen Öffentlichkeit und Gerichte über die wahren Absichten des Luftfahrtunternehmens getäuscht habe, über eine dem Planfeststellungsverfahren zuwiderlaufende Verlängerung der Start- und Landebahn z. B. oder die Zuschüttung des Naturschutzgebietes Mühlenberger Loch.
Ausgesprochen angesprochen und angegriffen fühlte sich darob der ehemalige, an der Planung federführend beteiligt gewesene SPD-Wirtschaftssenator Thomas Mirow (gegen ihn wurde Anzeige wegen Betrugs erstattet). Er schlug zurück, veröffentlichte im Abendblatt vom 16. Dezember einen offenen Brief an seinen Freund, den »lieben Hark«, und entkräftete die Vorwürfe betreffs einer angeblichen »Lex Airbus« (erschlichene Gemeinnützigkeit usf.), diverser Mauscheleien im Aufsichtsrat und etwaiger »Katastrophenszenarien«, um zu schließen: »Künstlerinnen und Künstler sind wichtig für unsere Gesellschaft. Mir liegt deshalb an der Möglichkeit zum offenen Gespräch über Tatsachen und Meinungen anstelle von bösen oder gar bösartigen Unterstellungen.«
Das ließ sich Hark nicht zweimal sagen und zeigte, was eine Harke ist. Am 20. Dezember legte er in eigener Mission und einem nicht nur betroffenen, sondern offensichtlichst auch besoffenen offenen Brief via Abendblatt seine Meinungen und Tatsachen dar. »Lieber Thomas«, weinte es da aus dem Armenviertel, dem Elbvorort Großflottbek, wo dem Bohm sein Häuschen prangt, »meine Tochter, die zwei Kilometer weiter elbwärts in der Schule sitzt, wird dreimal kurz hintereinander aus dem Unterricht gerissen. Und mit ihr mindestens 3.000 andere Kinder.« Schuld seien die mit »Vollgas« und voll niedrig über ihn, Hark, und 3.000 andere Kinder hinwegfliegenden Flieger, die viel »Abgas« ausspien und ein immenses »Absturzrisiko« darstellten. Außerdem seien bloß 2.000 statt, wie versprochen, 4.000 Arbeitsplätze geschaffen worden, und die »demokratische Moral« verletze vollends, daß diese Garantie von ihm, dem Thomas, bewußt vorgeschoben worden sei: »Auf eine unverbindliche Zusage hin belastet der Staat Hamburg