Zum Entsetzen der politischen und ökonomischen Eliten hat Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium über eine Wirtschaft gesagt, die strukturell dazu beiträgt, dass Menschen überflüssig, ihrer Lebensgrundlage und ihrer Würde beraubt werden: „Diese Wirtschaft tötet.“ (EG 54) So urteilt Papst Franziskus über sozioökonomische Verhältnisse, der sich die Mehrheit der Menschen ausgeliefert sehen. Auch die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Busan kommt in ihrem Aufruf zu einer Ökonomie des Lebens zu einem ähnlichen Urteil:
„Unsere ganze derzeitige globale Realität ist so voll von Tod und Zerstörung, dass wir keine nennenswerte Zukunft haben werden, wenn das vorherrschende Entwicklungsmodell nicht radikal umgewandelt wird und Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zur treibenden Kraft für die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Erde werden.“ (ÖL 9)
Die Spaltung zwischen Arm und Reich im globalen Maßstab nennt der Papst das Ergebnis einer Wirtschaftsdoktrin, die darauf setzt, dass der Markt es schon richten werde, den erzeugten Wohlstand auf alle gerecht zu verteilen. Papst Franziskus spricht sehr präzise das auf Wirtschaftswachstum und die Effizienz des Marktes ausgerichtete herrschende Wirtschaftsmodel an und benennt die entscheidende Ursache der Probleme:
„In diesem Zusammenhang verteidigen einige noch die ,Überlauf‘-Theorien (trickle-down theories), die davon ausgehen, dass jedes vom freien Markt begünstigte Wirtschaftswachstum von sich aus eine größere Gleichheit und soziale Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag. Diese Ansicht, die nie von den Fakten bestätigt wurde, drückt ein undifferenziertes, naives Vertrauen auf die Güte derer aus, die die wirtschaftliche Macht in Händen halten, wie auch auf die sakralisierten Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems. Inzwischen warten die Ausgeschlossenen weiter.“ (EG 54)
Ganz ähnlich argumentiert auch die Ökumenische Vollversammlung in Busan. Sie macht ebenfalls strukturelle und systemische Ursachen in der herrschenden Wirtschaftsverfassung aus:
„Der Marktfundamentalismus ist mehr als ein Wirtschaftsmodell, er ist eine gesellschaftliche und moralische Philosophie. In den letzten dreißig Jahren hat die Marktgläubigkeit auf der Grundlage ungezügelten Wettbewerbs und ausgedrückt durch das Kalkulieren und Monetisieren aller Aspekte des Lebens die Bereiche Wissen, Wissenschaft, Technologie, öffentliche Meinung, Medien und sogar Bildung erfasst und deren Richtung bestimmt. Dieser vorherrschende Ansatz hat vor allem denen Reichtum zugeschanzt, die bereits reich sind, und es den Menschen erlaubt, die natürlichen Ressourcen der Welt weit über die Grenzen hinaus zu plündern, um ihren eigenen Reichtum zu vergrößern. Dem neoliberalen Paradigma fehlen die selbstregulierenden Mechanismen, um mit dem von ihm geschaffenen Chaos umzugehen, mit weitreichenden Folgen, vor allem für die Verarmten und Ausgegrenzten.“ (ÖL 14)
Die Welt ist nicht nur zwischen einem „überentwickelten“ reichen globalen Norden und einem „unterentwickelten“ armen Süden gespalten. Der Norden ist vielmehr in gewisser Weise fehlentwickelt. Und diese Fehlentwicklung zeitigt weltweit katastrophale Folgen. Erstmals in der Geschichte der Christenheit gibt es einen breiten ökumenischen Konsens aller Kirchen von Rom bis zum Ökumenischen Rat der Kirchen über die Ursachen der Katastrophe: Es sind strukturelle Gründe, die zu einer Spaltung zwischen Arm und Reich führen und die die Plünderung der Ressourcen der Erde verursachen. Legitimiert wird diese Lage durch eine Wirtschaftsdoktrin, die die gesellschaftliche Entwicklung nicht an Werten wie Solidarität und soziale Gerechtigkeit ausrichtet, sondern auf einen selbstregulierenden Mechanismus des Marktes vertraut. Nach übereinstimmender Einschätzung der Kirchen sind die Wirtschafts- und Umweltkrisen keineswegs nur technischer Natur, sondern systemisch und haben „tiefe moralische und existenzielle Dimensionen“ (ÖL 13). Nicht anders Papst Franziskus: Für ihn ist die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise Ausdruck einer anthropologischen Krise, der „Leugnung des Vorrangs des Menschen“ (EG 55)!
Der Mensch, dessen Vorrang geleugnet wird, der vom System ausgeschlossen und der seiner Rechte und Würde beraubt ist, bestimmt den Ausgangspunkt und die Blickrichtung der ethischen Reflexion der ökumenischen Christenheit. Der moral point of view ist nicht die Institution oder das Wirtschaftssystem: Dem Menschen gilt der erste Blick. Der systematischen Ausschließung von Menschen setzt der Papst in seinem Schreiben Evangelii Gaudium eine andere Logik entgegen, die in einem kräftigen Bild vor Augen geführt wird:
„Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Das ist Ausschließung.“ (EG 53)
Der Mensch und seine Würde sind das Wahrheitskriterium, an dem sich ein Wirtschaftssystem und seine Effizienz messen lassen müssen. „Die Ausgeschlossenen sind nicht ,Ausgebeutete‘, sondern ,Müll‘, ,Abfall‘.“ (EG 57) Gegen die Exklusionsdynamiken der Wirtschaft pocht Evangelii Gaudium auf das Recht aller auf Würde und Beteiligung. Die menschenrechtliche Grundüberzeugung der gleichen Würde aller, die jeder Differenzierung nach Begabung, Geschlecht oder Rasse vorausliegt, wird zu einem Wahrheitskriterium für eine Wirtschafts- und Sozialordnung.
Weltethos und universelle Menschenrechte
Hans Küng sucht in seinem verdienstvollen Konzept eines „Weltethos“ nach einem weltweit geltenden Ethos als Grundlegung für das Zusammenleben der Völker, Kulturen und Religionen.18 Für ihn sind die Religionen für die Entwicklung eines Weltethos unentbehrlich, um eine „Unbedingtheit und Universalität ethischer Verpflichtungen begründen“19 zu können. Küngs Anliegen lautet: „Weltpolitik und Weltwirtschaft verlangen nach einem Weltethos.“ 20 Die maßgeblich von Küng inspirierte Erklärung zum Weltethos des Parlaments der Weltreligionen aus dem Jahr 199321 will die Menschenrechte ethisch mit „unverrückbaren Weisungen“, die allen Religionen gemein sind, abstützen. Menschenrechte seien nämlich der einzig verbindliche Maßstab für Ethik und Politik in einer säkularen Weltgesellschaft mit ihrer Vielfalt von Wertüberzeugungen, Kulturen und Religionen. Vier „unverrückbare Weisungen“ führt das Parlament der Weltreligionen auf. Sie lauten:
„Du sollst nicht töten!“ bzw. „Habe Ehrfurcht vor dem Leben!“
„Du sollst nicht stehlen!“ bzw. „Handle gerecht und fair!“
„Rede und handle wahrhaftig!“ bzw. „Du sollst nicht lügen!“
„Du sollst nicht Unzucht treiben!“ bzw. „Achtet und liebet einander!“
Das ebenfalls von Hans Küng entwickelte Manifest Globales Wirtschaftsethos22 will „gemeinsame fundamentale Vorstellungen über Recht, Gerechtigkeit und Fairness“ für ein globales Wirtschaftsethos auf moralischen Prinzipien und Werten entwickeln, die „seit alters her von allen Kulturen geteilt und durch gemeinsame Erfahrungen getragen werden“. In unverkennbarer Nähe zu den „unverrückbaren Weisungen“ des Parlaments der Weltreligionen aus dem Jahr 1993 werden in dem Manifest u. a. folgende Prinzipien genannt: das grundlegende Prinzip der Humanität sowie Grundwerte für globales Wirtschaften, Gewaltlosigkeit und Achtung vor dem Leben, Gerechtigkeit und Solidarität, Wahrhaftigkeit und Toleranz, gegenseitige Achtung und Partnerschaft.
Zu Küngs „Weltethos“ und den von ihm inspirierten Entwürfen ist zu sagen, dass man ohne grundlegende Prinzipien bei einer ethischen Urteilsbildung sicherlich nicht auskommt. Aber ebenso wenig kann man einfach deduktiv argumentieren, indem aus den Prinzipien direkt Schlüsse gezogen werden. Diese Prinzipien sind ebenso unbestimmt wie vage, sodass nicht klar wird, wie sie denn konkretes Handeln oder Ordnungsstrukturen prägen könnten. Sie können keinen kritischen Maßstab bieten und deshalb auch kaum eine kritische Wirkung entfalten.
Im Zentrum von Küngs Konzeption des „Weltethos“ stehen nicht die Menschenrechte, sondern universale Menschenpflichten. Küng hat auch die Erklärung der Menschenpflichten des „InterAction Councils“ aus dem Jahr 1997 substanziell geprägt.23 Die Betonung der Pflichten gegenüber den Rechten mag zwar religiösen Traditionen entsprechen. Die Menschenrechte haben aus gutem Grund kein Pendant zu entsprechenden