Franz Segbers

Ökonomie die dem Leben dient


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plausibel, versperrt aber den Blick darauf, dass es in einer freien Gesellschaft Rechte und Pflichten gibt, die sich nicht gegenseitig bedingen. Der Bürger, die Bürgerin hat Rechte und Pflichten, und beide stehen für sich. Menschenrechte sind keine Belohnung für Wohlverhalten; sie gelten bedingungslos. Diese Unbedingtheit der Rechte meinte Hannah Arendt, als sie davon gesprochen hat, dass Menschen nur ein Recht haben: das „Recht, ein Recht zu haben“24. Wo immer dieses Grundrecht verweigert wird, fallen auch alle anderen Rechte. Das Recht auf Menschenrechte ergibt sich nicht reziprok aus Pflichten. Das Menschenrecht ist ein unbedingtes Recht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert deshalb in Artikel 3 bedingungslos: „Jeder hat das Recht auf Leben.“ Eine Gesellschaft, die dem Menschen als Menschen Rechte einräumt, schließt zugleich aus, dass zwischen Menschenrechten und Pflichten eine direkte Parallelität besteht. Menschenrechte sind nämlich nicht das Ergebnis eines Tausches nach dem Marktprinzip, sondern Ausdruck der unveräußerlichen Würde des Menschen, der man nicht durch unterlassene Pflichten verlustig gehen kann.

      Küng kondensiert die ethischen Traditionen und bietet sie dann als Grundlage für globales Wirtschaften an. Er suggeriert eine ethische Eindeutigkeit der Religionen, die so nicht besteht, und nimmt dafür eine Universalität in Anspruch, die es so auch nicht gibt. Es gibt keinen „ethischen Basiskonsens“25, wie ihn Hans Küng in seinem breit angelegten Weltethos zu begründen sucht.

      Eine multikulturelle Weltgesellschaft wird nicht über kulturell-religiöse Normen zusammengehalten, sondern allein durch Menschenrechte, die eine alle Menschen vereinigende politische Kultur bilden. Die Menschenrechte sind die Grundlage für die gleichberechtigte Koexistenz aller Kulturen und Völker. Gegenseitige Anerkennung auch von Differenzen kommen nur auf der Grundlage von Menschenrechten zu ihrem Recht. Erst die wechselseitige Anerkennung gemeinsamer Rechte kann eine politische Kultur begründen, die auf die Anerkennung der Freiheit der Subjekte und die Würde aller zielt. Menschenrechte schaffen dort individuelle Freiräume, wo die Moral Pflichten auferlegt.

      Es lässt sich nicht bestreiten, dass angesichts der Vielfalt ethischer Grundüberzeugungen Grundlinien eines gemeinsamen Ethos wünschenswert, ja notwendig wären. Küng geht den Weg zu diesem globalen Ethos über den Weg einer Bestimmung eines Minimalkonsenses gemeinsamer Werte und Grundüberzeugungen. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz hat demgegenüber darauf aufmerksam gemacht, dass ein globales Ethos kein Abstimmungs- und Konsensprodukt sein kann. Einen universellen Anspruch könne nicht erheben, wer sich auf die Zustimmung aller bezieht. Der zentrale Einwand lautet, dass Küng in seinem durchaus verdienstvollen Konzept seines „Weltethos“ keinen Zugang zur universellen „Autorität der Leidenden“ habe:

      „Diese Autorität der Leidenden wäre die innere Autorität eines globalen Ethos, einer Weltmoral, die vor jeder Abstimmung, vor jeder Verständigung aller Menschen verpflichtet und die deshalb von keiner Kultur und keiner Religion, auch von der Kirche nicht, hintergangen oder relativiert werden kann.“26

      Küng argumentierte nicht von den Erfahrungen der Leidenden her. Der Einwand von Metz findet auch in der Entstehungsgeschichte der Menschenrechte einen geschichtlichen Rückhalt. Menschenrechte sind Ausdruck der Empörung der Beleidigten über die Verletzung ihrer menschlichen Würde. Sie sind von ihnen erkämpft worden, nicht aber ein historisch abstraktes und gesellschaftlich kontextloses Konsensprodukt religiöser oder gesellschaftlicher Eliten. Das berührt auch die Frage, ob die Menschenrechte kulturell dem Westen gehören. Menschenrechte sind eine Antwort auf eine Universalität von menschengemachtem Leid und Ungerechtigkeit. Die Behauptung, die Menschenrechte seien europäisch und nicht wirklich universell, ist selber im schlechten Sinne europäisch. Sie vernachlässigt den Entstehungsort des Kampfes um Menschenrechte. Es ist ein Kampf darum, dass die verletzte Würde des Menschen zu ihrem Recht kommen kann.

      Metz hat die „Compassio“, eine Mitleidenschaft, die Freiheit und Gerechtigkeit für alle sucht, das „Weltprogramm des Christentums“27 genannt. Für ihn steht jedes Reden über den Menschen unter einer „Autorität der Leidenden“; sie ist „die einzige universale Autorität, die uns in unseren globalisierten Verhältnissen geblieben ist“28. Die Stärke dieser Autorität besteht darin, dass sie ein universales Kriterium benennt, das allen Menschen zumutbar ist. Die „Autorität der Leidenden“ ist darin begründet, dass sie Leiden am Unrecht nicht hinzunehmen bereit ist. Diese Weigerung mündete nach langen geschichtlichen Prozessen schließlich in den Menschenrechten. Sie entstammen einer „Autorität der Leidenden“, zehren von der Verletzung der Menschenwürde und wollen den ungerecht Behandelten Recht und Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Menschenrechte haben eine universale Autorität: Es ist die Autorität der Leidenden.

      Die Bedenken gegenüber dem abstrakten Konsensminimalismus der Religionen, wie ihn Küng destilliert, werden auch in neueren Forschungen über die sog. Achsenzeit bestätigt. In der Zeit zwischen dem achten und dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert vollzieht sich eine tiefgreifende sozio-ökonomische Wende in geografisch weit voneinander entfernten Regionen von Griechenland über Palästina, Persien bis nach Indien und China. Was Jaspers phänomenologisch als „Achsenzeit“ beschrieben hat, haben David Graeber und Ulrich Duchrow als eine Epoche zu erklären versucht, die mit den Folgen der Überschuldung und der aufkommenden Geldwirtschaft konfrontiert war.29 Fast gleichzeitig, aber unabhängig voneinander kam die Münzprägung im Norden Chinas, am Ganges in Indien und in den Regionen um das Ägäische Meer auf. Die Religionen vom Vorderen Orient bis nach China zeigten eine beachtliche gemeinsame Tendenz, den negativen Entwicklungen der aufkommenden Geldwirtschaft entgegenzutreten. Es gibt also einen ethischen Konsens der Religionen, wie ihn Hans Küng konstatiert; wer ihn aber erheben will, der muss an die Ursprünge zurück: die Reaktionen der eurasischen Weltreligionen auf die Verbreitung einer lebenbeherrschenden Geldwirtschaft. Sie geben eine Antwort auf die ökonomischen Umwälzungen, die mit dem Aufkommen von Geld und Privateigentum immer drängender wurden. Der Konsens der Religionen ist deshalb kein abstraktes Abstimmungsprodukt, sondern Ergebnis erstaunlich kongruenter Antworten auf gemeinsame sozioökonomische Herausforderungen.

      Diese Einsichten sind folgenreich: Die ethischen Analysen und Antworten dieser Religionen entstammen zwar fernen Zeiten, haben aber ihre gegenwartsrelevante Bedeutung darin, dass sie auf eine Vorstufe jener wirtschaftlichen Entwicklung reagieren, die derzeit im Finanzkapitalismus ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Scharfsinnig hatte Aristoteles angesichts der Anfänge einer sich gleichsam ins Unendliche anhäufenden Akkumulation gesagt, dass es „für dieses Kapitalerwerbswesen keine Grenze des Ziels“ gibt, denn: „Alle Geschäftemacher nämlich wollen ins Unbegrenzte hinein ihr Geld vermehren.“30 Die Bibel unterscheidet sich in keiner Weise von dieser Kritik, wenn es dort heißt: „Wer das Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug.“ (Kohelet 5,9) Die Propheten Israels warnten genauso vor Gier und der Akkumulation von Geld und Besitz wie die Weisen Griechenlands oder Buddha.

      Die Dynamik, die mit der Erfindung des Geldes einsetzte, wirkt bis heute fort. Da man mit Geld tendenziell alles kaufen kann, war auch alles in Geld umwandelbar. Eine der Ausdrucksformen der Auseinandersetzung mit dieser in der Achsenzeit einsetzenden Dynamik ist der Mythos. In den kleinasiatisch-griechischen Mythen zeigen sich – erstaunlich genug – erste Ansätze, die vor der einsetzenden Dynamik warnten. Eine solche mythische Warngeschichte erzählt von einem König Midas. Dionysos, der Weingott, gewährte König Midas den Wunsch, er könne bekommen, was er wolle. Midas wünschte sich, dass alles, was er berühre, zu Gold werde. Dionysos gewährte den Wunsch, und alles, was Midas berührte, wurde zu Gold. Als er den Becher Wein und das Brot berührte, wurden sie zu Gold. So war er durstig und hungrig inmitten des Goldes. Da erkannte er seine Schuld, und Gott Dionysos erbarmte sich seiner. Dieser Mythos erzählt von einer Unersättlichkeit, die alles in Gold und Geld umwandeln will, bis schließlich diese Umwandlung die eigenen Lebensgrundlagen zerstört.

      Die Antike nahm sich dieser Umbrüche nicht nur in mythischen Erzählungen, sondern auch in philosophischen Reflexionen wie bei Aristoteles und in der prophetischen Kritik in der Bibel an. Es kann als Konsens gelten, dass Prophetenworte nicht vor dem 8. Jahrhundert, also dem Beginn der sog. Achsenzeit, anzusetzen sind. Auch die Tora entsteht in der Zeit einer