1928 in einem kleinen Dorf in Pommern aufgewachsen. Was hat Sie in Ihrer Kindheit und Jugend geprägt?
Zunächst einmal der Krieg. Nachdem man aus der unmittelbaren Kindheit heraus ist, die ganz wenige Erinnerungen hinterließ, war das Erleben bereits vom Krieg geprägt. Der greift natürlich in das Leben auch eines solchen Dorfes ein, zumal es sich in unmittelbarer Nähe eines der größten deutschen Rüstungswerke befand. Das Werk in Pölitz 1 produzierte aus Braunkohle Benzin für den Krieg. Ich selbst gehörte schon mit 14 Jahren zur Jugendfeuerwehr, die natürlich in dieser Zeit eine Hitler-Jugend-Feuerwehr war. Auch meinen Beruf lernte ich in dem Betrieb, der voll auf Rüstung ausgerichtet war. Es gab Luftangriffe, auch Tote im eigenen Dorf. Das alles prägt einen natürlich und trug dazu bei, dass man eine Haltung haben muss. Das war einfach die Haltung, in diesem Krieg auch seinen Beitrag für Deutschland zu leisten. Das ging damals schon mit 14, 15 Jahren los. Das war eine Situation, in der man sich nicht drücken konnte und wollte. Und andererseits – was nicht so bewusst war – dazu beitrug, dass die Kriegsmaschinerie weiterlief und funktionierte.
Sie haben eine Ausbildung zum Maschinenschlosser gemacht.
Ja, mein berufliches Leben begann mit 14 Jahren. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. In unserem ersten Lehrjahr mussten wir den so genannten Lehrgang „Eisen erzieht“ durchlaufen. Die Gesellen sollten auf uns erzieherisch Einfluss nehmen. Sie forderten vor allem Unterordnung. Und wenn man als Jugendlicher sehr geschurigelt wird, dann ist das – völlig unabhängig von der jeweiligen Ideologie – immer damit verbunden, dass man beginnt, sich zu wehren. Eine Aufmüpfigkeit, die noch gar nichts mit Politik zu tun hatte. Denn mir war völlig klar: „Du musst so oder so in den Krieg. Dann lässt du dir das von dem Gesellen nicht mehr gefallen, dass der dir eine Ohrfeige gibt. Oder den Zollstock in den Nacken schmeißt, damit man ihn aufhebt und zu ihm bringt, um sich dann eine Ohrfeige bei ihm abzuholen.“ Das waren schon Methoden, die auch zu den Erziehungsmethoden der Nazis gehörten. Da begann dann bei mir einfach der Widerstand. Das war nicht im Geringsten gegen die Naziideologie gerichtet. Sondern das war ein Widerstand, den man als junger Mensch demjenigen entgegensetzt, der einen in dieser Weise schurigeln will.
Was hat Sie motiviert, bei der Hitlerjugend mitzumachen?
Das war ganz normal. Das ergab sich ja über die ganze Ideologie, die in der Schule verbreitet wurde. Dazu brauchte man gar nicht extra gebracht werden. Der Lehrer erzog uns im Sinne der Ideologie der Faschisten. Gar keine Frage, dass man sich im Nachhinein davon distanziert, wie man es ja heute erlebt, wenn sich Grass oder Strittmatter an ihre Jugend erinnern. 2 Da vergleicht man sich dann: Wie ist es dem Grass gegangen, wie ist es dem Strittmatter ergangen – und wie wäre es dir ergangen? Ich bin aber nicht bei der SS gewesen, brauch’ da auch keine Lücken zu schließen. Durch meine Freiwilligenmeldung als 16jähriger zur Marine war für andere Einheiten ein Riegel vorgeschoben. Die hatten dann keinen Zugriff mehr auf mich. Und da der Krieg inzwischen dem Ende entgegenging, wurde ich dann nur zum Volkssturm geholt. Für den Volkssturm konnte man binnen zwei Wochen ausgebildet werden, um an einer Handfeuerwaffe oder mit einer Panzerfaust zu schießen – mehr brauchte man nicht.
Sie sprechen viel vom Krieg, aber wenig über Eltern und Familie. Wollen Sie das nicht?
Nein, das macht keinen Sinn. Meine Familie ist ja nach dem Krieg in die Nähe von Hamburg gezogen, und ich habe mich nach meiner Kriegsgefangenschaft entschieden, in der sowjetischen Besatzungszone zu bleiben. Und dadurch, dass ich also ab meinem 17. Lebensjahr mit Eltern und Geschwistern kaum Kontakt hatte, sind die früheren Erlebnisse und Erinnerungen zu sehr überlagert. Das ist weg. Und man beginnt darüber nachzudenken, ob man in der Erinnerung dann dem gerecht wird, was eigentlich damals unmittelbar war. Ich möchte nicht Erinnerungen vermitteln, für die ich selber nicht mehr einstehen kann. Ich weiß wenig über meine Eltern: Meine Mutter kam aus Pommern aus dem Arbeitermilieu; sie hieß Krause, aber mehr weiß ich nicht. Der Vater war, das weiß ich aus dem Erzählen, Bäckermeister. Er ging im Ersten Weltkrieg mit einem Vorpostenboot in der Nordsee unter, wurde aber gerettet. Zu mir und meinem Bruder sagte er: „Ihr werdet Seeleute! Das ist ein Beruf, in dem kann man wirklich die Welt sehen, und da erlebt man was.“
Wenn über Hans Modrow geschrieben wird, dann werden häufig Tugenden erwähnt: Disziplin, Anständigkeit, Fleiß … Woher kommt das?
Ich denke, das kommt noch aus dem Elternhaus. Wir haben alle unserer Mutter viel zu verdanken. Vater konnte sozusagen mal aus dem Kleister gehen, während Mutter eine sehr ruhige Frau war. Vater war dagegen der Rücksichtslose. Er war Raucher, und abends musste man noch die Zigaretten für ihn kaufen gehen. Und dann pfiff ich los, es war stockdunkel, musste an der Kirche vorbei, wo der Uhu oben saß und heulte, um Zigaretten zu holen. Da habe ich mir geschworen: Wenn du mal Kinder hast, das forderst du von keinem. Auf jeden Fall wurde mir da bewusst, dass man so mit seinen eigenen Kindern nicht umgeht. Meine Mutter hingegen war immer bemüht um das Zusammenleben und Aufrechterhalten einer bestimmten Ordnung innerhalb der Familie. Und noch in den 1990er Jahren, als ich in Ückermünde zu einer politischen Veranstaltung war, trat dort mit einem Mal eine ältere Frau auf, die sagte: „Ich erinnere mich sehr gut an den Hans Modrow. Er war bei uns im Dorf einer von denen, die immer hilfsbereit waren. Wenn ich mal irgendein Problem hatte, Wasser von der Pumpe holen musste, und Hans Modrow war in der Nähe, dann nahm der mir den Eimer ab und trug ihn mir nach Hause.“ Das gehörte so ein bisschen zur Erziehung meiner Mutter: „Ihr habt andern Menschen gegenüber hilfreich zu sein, Ältere brauchen Unterstützung …“ Das war eine Lebenshaltung, die ich mitgenommen habe.
Nach dem Krieg hatten Sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie?
Mit meiner Mutter schon. Wenn sie ihre Schwester in Berlin besuchte, nahm sie Kontakt mit mir auf. Aber wie gesagt: Ich hatte mich entschieden, in der sowjetischen Zone zu bleiben, was auch eine Erwartung der Antifa- Schule 3 war, die ich in der Sowjetunion besucht hatte. Die Genossen hier wollten gerne, dass ich zur Kasernierten Volkspolizei und dann später auch in die Armee gehe. 4 Aber da galt für mich der ,Befehl 2‘. Der legte fest: Man kann nicht in den bewaffneten Kräften Dienst tun, wenn man Verwandte ersten Grades im Westen hat.
Den Kontakt zu Ihrem Vater haben Sie nicht mehr hergestellt?
Nein, es gab keinen Kontakt mehr. Mein Bruder war zur See, da gab es auch keine Verbindung. Meine Schwester habe ich bei einem Besuch bei der Tante in Berlin ein einziges Mal gesehen – es gab also keine Kontakte.
Hat Sie der Kontaktabbruch zu einem Großteil Ihrer Familie nicht beschäftigt?
Es hat mich einmal sogar direkt beschäftigt. 1957 starb mein Vater, und ich stellte die Frage gegenüber der SED-Bezirksleitung, ob ich zur Beerdigung fahren dürfte. Da wurde mir empfohlen, das nicht zu tun. Da bin ich dann auch der Meinung gewesen: Ich kann nicht Ausnahmen für mich fordern, wenn das anderen gegenüber verweigert wird.
„… zurück in deinen Schlosserberuf!“
Wie kam es bei Ihnen denn zu der Wendung: vom Hitlerjungen und überzeugten Volkssturm-Kämpfer zum Antifaschisten und SED-Mitglied?
Ich glaube, das sind Prozesse, die ungeheuer differenziert abgelaufen sind für jeden Einzelnen. Ich habe diesen Weg im Rahmen meiner sowjetischen Kriegsgefangenschaft genommen. Das erste halbe Jahr meiner Gefangenschaft habe ich in Hinterpommern verbracht, um dort mit einem Erntekommando die Ernte einzubringen. Das war 1944, damals wurde von den Bauern dort ein ganz normaler Erntegang vorbereitet und noch bis ins Frühjahr 1945 hinein bearbeitet – bevor sie dann vor der Roten Armee geflohen sind und nicht von den Polen vertrieben wurden, wie das ja heute aufgemacht wird. Ich war damals unterwegs mit dem Kapitän, der unser Kommando leitete. Ich war sein Fahrer geworden. Sie haben dafür unter den ganz Jungen jemanden ausgewählt, bei dem sie damit rechnen konnten, dass er sich anpasst und gut zu kommandieren ist. Der Kapitän wurde für mich eine wichtige Person. Mit einem Mal erlebte ich den ,Untermenschen‘, der mich aber ganz normal behandelte. Und dann rezitierte der auch noch Heine. Wusste ich, wer Heine war!?
Sie kamen später auch in die Sowjetunion.
Ja, aber zunächst musste ich in das so genannte Pferdekommando; musste also zusammen mit zwei