Ulrich Land

Lolitas späte Rache


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Sie wich erschreckt zurück. »Wenn deine Mutter erfährt, dass du dich an ihrer Unterwäsche zu schaffen machst, dass du dich vor deinem Spiegelbild zur großen Dame aufspielst, dass du deinen Busen nicht brav als gottgegeben zur Kenntnis nehmen, sondern zur Schau stellen willst, wenn die das erfährt – du kannst dich auf meine Verschwiegenheit verlassen, gnädiges Fräulein, aber du ziehst Mutters Seidendessous jetzt aus!«

      Jetzt öffneten sich mit einem Mal alle Schleusentore, wahre Sturzbäche schossen ihr über die Wangen. »Nein, Vater, bitte, das könnt Ihr nicht verlangen.«

      »Das wollen wir doch mal sehn!« Noch schärfer, noch schneidender die Stimme. Duldete keinen Widerspruch. Kein Ausweichen. »Ich werde dich lehren, dich züchtig anzuziehen! Wenn deine Mutter es versäumt, dann werde eben ich dich in Sitte und Moral unterweisen.«

      Tränen, Schluchzen, schreckensstarrer Stillstand. Olga war nicht in der Lage, sich zu bewegen, ihre Hände, ihre Finger zum geordneten Einsatz an Schnüren und Ösen zu beordern, an Bändern und Spitzen, an diesem doch so fremdartigen Gebilde aus knochenhartem Stoff.

      »Mach schon, du ruchloses Geschöpf!« Der Senator drohte, die Fassung zu verlieren, bebte am ganzen Leib. Mit so entschiedenem Widerstand seitens einer Zwölfjährigen, noch dazu in einer höchst blamablen Situation, wo sie doch nun wahrlich kleine Brötchen zu backen hatte, mit dieser hartnäckigen, narrennaiv jungfräulichen Widersetzlichkeit hatte er nicht gerechnet. Mit zornesrotem Kopf, aber bleicher Stirn, mit pochenden Schläfen und zitternden Pupillen brüllte er sie an: »Entweder du ziehst dir jetzt das Ding aus oder – oder ich! Aber ich, das sag ich dir, ich reiß es dir vom Leib. Da kommt Haut mit. Du frivoles Luder!«

      Und als sie immer noch keine Anstalten machte, sich aus der Schockstarre zu lösen, war er mit einem Satz bei ihr, griff ihr mit der Linken ins Haar und riss ihr den Kopf in den Nacken, während er mit der rechten Hand versuchte, ihr den Schulterriemen des Bustiers runterzuzerren. Instinktiv, in ihrer Not, scheints ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde darüber nachgedacht zu haben, biss sie zu. Biss in seinen Unterarm.

      Der Senator fuhr zusammen. Nicht vor Schmerz. Schon nicht mehr vor Zorn und Entsetzen. Nicht der Schreck über die unerhörte, geradezu brutale Auflehnung seiner Tochter – der Schreck vor sich selbst war ihm in die Glieder gefahren. Ratlos betrachtete er die blauroten Abdrücke ihrer jungspitzen Zähne in seinem Arm.

      Während Olga sich daran machte, die Schleife zu lösen und die Bänder aufzupfriemeln, was ihr mit einem Mal erstaunlich schnell gelang. Und indem sie das Bustier einfach nach unten rutschen, zu Boden gehen ließ, fuhr sie mit beiden Händen zu ihren Brüsten und bedeckte sie, so gut es ging.

      Der Senator drehte ab.

      12.

      St. Petersburg.

      Frühlingserwachen 1916.

      Ja, es erfüllte ihn mit Stolz. Aber er war noch jung. Zu jung für sich selbst genügenden Stolz. Er wusste nicht genau warum, und spürte doch, dass er es nicht nur der Frau Mama, auch dem Vater zeigen wollte.

      Aber natürlich kam dieser ihm wieder zuvor. Wartete nicht, bis Vladimir sich aufraffen und durchringen würde, sondern bedeutete Salewski, er solle den Sohnemann in den Rauchsalon bestellen. Vladimir folgte Salewski, ohne Widerspruch, ohne Zögern. Ahnte er doch, worum es gehen würde. Und dass es nicht zu seinem Nachteil würde ausgehen können. Er bezog also Stellung am Erkerfenster, das den Blick auf die Straße richtete. Tauwasser sponn einen dichten Vorhang vors Fenster, tropfte polternd von den Regenrinnen der Nachbarhäuser, lieferte den besessen tiriliernden Spatzen und dem hektisch gegen den hohlen Baumstamm drüben tockerenden Specht den rasenden Rhythmus. Kutschen und Fuhrwerke pflügten in schneller Folge durch die baikalseegroßen Pfützen und ließen die Fluten schäumend hinter sich zurückströmen wie das rote Meer nach dem Durchzug der Israeliten.

      Vladimir wartete.

      Wartete lang.

      Der Vater liebte es, Vladimir, indem er ihn Ewigkeiten warten ließ, mürbe zu machen. Und gefügig. Seine Demut an der Reckstange unendlicher Geduld zu schulen. Weshalb er ihn …

      Die Tür krächzte auf. Vladimir warf den Kopf herum, streckte den Rücken kerzengrade durch und legte die Hände an die Hosennaht.

      Noch auf der Schwelle stehend, ohne ein Wort des Grußes jedoch, schlug Senator Nabokov das Büchlein auf, das er aus der Jackentasche gezogen hatte und nun wie ein Chorsänger mit fast gestreckten Armen in weitem Abstand vor die Brust hielt. Vladimir wünschte sich sehnlichst, dem Vater die Lesebrille reichen zu können, die dieser mit Sicherheit mal wieder verlegt hatte – ob aus Nachlässigkeit oder aus Eitelkeit. Aber Vladimir wagte nicht, sich vom Fleck zu rühren.

      Nabokov senior ließ ein paar Buchseiten über die Daumenkuppe sirren, während er fünf, sechs Schritte weiter in den Raum ging. Plötzlich beschleunigte sich sein Schritt, der ihn nun in großen Kreisen über die Bühne führen sollte, zu der der Salon unter seinen Füßen mutierte. Mit nur leicht, doch unüberhörbar pathetischem Unterton deklamierte er Verse aus dem Buch.

      Durchs Stundenglas rinnend unaufhaltsam eilende Zeit.

       Unsre holde Liebe schon jämmerlichem Tode geweiht!

       Nie wird ihr Geheimnis sie, niemals mehr

       Ihrer ersten Augenblicke Wunder so sehr

       Wieder erahnen, nie wieder lauschen Dem Rascheln, dem Frühlingsregenrauschen,

       Der wilden Landschaft Mitgefühl finden

      Nie wieder am Fluss unter uralten Linden.

      Der Senator blieb stehn, blickte auf, sah seinem Sohn in die hinund herzuckenden Augen. »Das nenn ich Poesie. – Und dergleichen Verse entströmen also der Feder meines Sohnes?!«

      »Ich – ich …« Vladimir wusste nicht, wusste nichts mehr.

      »Na ja nun, brauchst nicht rot werden«, grinste der Vater, »sich mit siebzehn Jahren gedruckt zu sehn! 68 Gedichte. Da soll einem die Heldenbrust wohl schwellen! – Aber sag mal«, setzte er mit spitz hochgezogenen Augenbrauen und diabolischem Grienen nach, »›Unsre holde Liebe schon jämmerlichem Tode geweiht!‹ Wenn ich fragen darf, wer ist denn die Auserwählte? Mit den feurig pechschwarzen Augen die? Die süße Dunkle, mit der ich dich dieser Tage am Flussufer, unten bei den Linden gesehn habe?«

      Jetzt schoss Vladimir erst recht das kochende Blut ins Gesicht. »Du … hast uns gesehn?«

      »Wie heißt sie denn, die Glückliche?«

      »Tamara«, wisperte Vladimir und zog das Gesicht eines Schuljungen, dem der knallrote Kirschsaft in Strömen aufs Hemd läuft und der bestreitet, auf den Baum geklettert zu sein, auf dem er grade sitzt.

      »Tamara, so. Respekt! Mein Sohn hat Geschmack. Das muss man neidlos anerkennen.« Vater Nabokov zog eilends die Speichelbläschen ein, die sich in seinen Mundwinkeln gesammelt hatten und drohten, sich als dünne Fäden abzuseilen. »Schmale Fesseln, biegsame Taille, einen Tropfen Tartaren- oder Tscherkessenblut in den feinen Adern, im zarten Nacken der schwarze, schwere Zopf.«

      »Heh heh, das ist meine!«, protestierte der Junge.

      »Schon gut, schon gut«, lachte der Senator mit großonkelhafter Gönnermiene, »es will dir ja niemand das süße Nymphchen streitig machen.«

      »Nymphchen?«

      »Nymphchen. Erstens: weibliche Naturgottheiten, Töchter des Zeus. Zweitens: Larve des Schmetterlings, die bereits Anlagen zu Flügeln besitzt«, spulte Vater Nabokov kantig nach Lexikon-Art ab.

      Eines jedenfalls war klar, dachte Vladimir: Salewski hatte Wort gehalten. Kein Sterbenswörtchen über die Betätigungen, bei denen dieser ihn vor fünf Jahren – ja, tatsächlich, war schon fast fünf Jahre her – bei denen Salewski ihn seinerzeit ertappt hatte, bevor sie Pugatschew, stranguliert in den Ketten seines Rosses, gefunden hatten.

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