Ulrich Land

Lolitas späte Rache


Скачать книгу

Braune«, raunte Tamara.

      Sie kannte also das Biest, das da die tellergroßen Hufe hinter sich schmiss und auf sie zugerannt kam. Im Hochgalopp. So hoch es das klappernde, scheppernde Geschirr zuließ, das der entfesselte Hengst hinter sich herzerrte. Schweißüberströmt, mit wallender Mähne, die Flanken von blutroten Peitschenstriemen gezeichnet. Dass der Ackergaul aber trotz all der Anstrengung nicht recht vorankam, was ihn offenbar noch mehr aufbrachte, lag augenscheinlich daran, dass er nicht nur die rausgerissenen Wagenketten hinter sich herschleifte. Sondern – keinen demolierten Heuwender, keine aus dem Wagen gebrochene Deichsel –, sondern etwas Rotes. Mit flatternden Extremitäten, die den wildwirren Tanz losgezerrter, zu Streitflegeln avancierter Bracken aufführten. Etwas Schlappsackiges, dessen Kopf immer wieder holpernd aufschlug. Dessen Rumpf immer wieder unter die stampfenden Hufe kam und bei jedem Tritt ein dumpfes Stöhnen von sich gab, das dem Galoppdonner zur schaurigen Begleitmusik gereichte.

      Das vorwärtsstürmende Riesenknäuel aus wirbelnden Hufen, krampfenden Pferdemuskeln, klirrenden Geschirrketten und dem willenlos hinterherbengelnden Paket Mensch verlor, je näher es kam, an Tempo. Endlich blieb der dampfende Kaltblüter stehn. Blickte die drei in Schockstarre verfallenen Figuren, die da zwischen Wald und Wiese standen, entgeistert an. Mit warmbraunen Augen, als könne er keiner Fliege was zuleide tun. Die geblähten Nüstern jedoch, die zitternde Unterlippe, der unter der Haut sich abzeichnende rasende Puls, das schweißtriefende Fell ließen erkennen, was das Tier hinter sich hatte.

      Salewski verbannte Tamara und Vladimir hinter seine schräg abgespreizten Arme. Dann ging er mit unendlich langsamen Schritten und mit sonorer Stimme so etwas wie eine schamanische Zauberformel vor sich hinmurmelnd auf das bebende Pferd zu. Sah ihm fest in die Augen. Streckte wiederum sehr langsam einen Arm aus und rieb dabei Daumen und Zeigefinger gegeneinander. Was die Neugier des Gauls über die fahrigen Protuberanzen seines Hirnknäuels siegen ließ. Zögernd schob er seine immer noch aufgeblähten Nüstern näher. Als habe er fürs Durchgehen auch noch eine Belohnung verdient, spekulierte er offensichlich auf ein Leckerchen.

      Salewski bemerkte mit Genugtuung, wie sich der Blick des Gauls gierig einengte, und brachte nun auch die andere Hand nach vorn, im weiten Bogen allerdings. Und plötzlich – während er dem Hengst leicht, ganz leicht zur Begrüßung seinen abgestandenen Atem in die Nüstern blies – plötzlich fuhr er die Hand aus und packte mit schnellem Griff den verhedderten Zügel und fasste im gleichen Augenblick mit der anderen, eben noch Leckeres verheißenden Hand ins Halfter.

      Der Braune schreckte auf und warf den Kopf nach hinten. Doch zu spät. Salewskis energischer, kurz angebundener Griff ließ ihm keinen Raum auszuholen, und der ruckartig immer wieder abwärts gezerrte Zügel wies ihn endgültig in die Schranken. Der Gaul ergab sich seinem Schicksal, ließ sich die Flanke tätscheln, ließ sich mit dem Zügel an der viel zu kleinen, viel zu zierlichen Kiefer anbinden.

      Dann erst wandte sich Salewski der Schleiflast des Zossen zu. Es gelang ihm nicht, das kalte Grauen zu verbergen, das ihn jetzt volle Breitseite traf. Und es gelang ihm ebenso wenig, Tamara und Vladimir davon abzuhalten, näher zu kommen.

      »Oh nein«, entfuhr es Tamara. Und sofort schossen ihr die Tränen aus den Augen, stürzten die Wangen hinab. »Großväterchen«, schluchzte sie, »du wolltest doch deinen Rausch ausschlafen! Warum bist du, warum hast du denn …?«

      »Der alte Pugatschew?«, fragte Vladimir. Und Salewski nickte betreten.

      9.

      St. Petersburg.

      Winter 1912.

      Selbstredend gebrach es ihm nicht an finanziellen Mitteln. Es waren ausschließlich pädagogische Gründe, die Senator Vladimir Dmitrijewitsch Nabokov dazu veranlasst hatten, den – allerdings nicht lange währenden – Versuch zu wagen, sämtliche Hauslehrer des Feldes zu verweisen und seine Kinder auf öffentlichen, freilich in der Regel Aristokratensprösslingen vorbehaltenen Schulen anzumelden. Er hegte die Ansicht, dass es insbesondere Vladimir, seinem Stammhalter, gut tun werde, seine humanistische Bildung im Kreise anderer Abkömmlinge aus gutem Hause entgegenzunehmen. Als aufrechtem Liberalen war es Vater Nabokov um Öffnung zu tun, nicht um Abschirmung. Schon das galt für einen Juristen in seiner Position als fast revolutionär. Und auch die durchaus harte Schule der üblichen Schulhofhänseleien betrachtete der Senator – und also auch seine Frau – als durchaus angebrachte Förderung der Lebenstauglichkeit.

      Ein kalter, ein bitterkalter Morgen. Trotzdem hielten die Lehrer es für angemessen, die Knaben in der Pause vor die Tür zu schicken. Im Sinne körperlicher Stählung. Merkwürdigerweise mussten sie heute nicht die geringste Mühe darauf verwenden, die Jungs aus dem Schulgebäude auf den Pausenhof zu schieben. Heute stürmten alle wie besessen nach draußen. Denn auf dem Hof war ein wildes Treiben losgebrochen. Einer der älteren Schüler, es war nicht auszumachen, wer, hatte die Morgenausgabe mitgebracht und hielt die Titelseite nun mit langen Armen von sich gestreckt, damit möglichst viele seiner Mitschüler, die ihn wie ein Schwarm Mücken umschwirrten, die entscheidende Meldung lesen konnten.

      Der Schülerpulk jedoch erwies sich als knochenhart nach außen abgeschottet. Für Vladimir keine Chance. Alles Anrennen war vergebens. Ihm war klar: Das war kein Spaß hier, keine der üblichen Kameradenquerelen, Pennälerstreiche. Hier gings um ganz was Andres.

      Genau das wussten seine Mitschüler auch. Genau das fachte das Feuer in ihren Augen immer mehr an. Plötzlich, wie auf Kommando, spritzte die Schülertraube auseinander, und die Burschen bauten sich, einer geheimen Choreographie folgend, im Kreis auf. Der, der die Zeitung mitgebracht hatte, knäulte die Titelseite zusammen und ließ sie auf seiner Handfläche ein freches Tänzchen aufführen, Luftsprünge vollführen. Bevor er sie noch fester zusammendrückte und einem seiner Kumpels zuwarf. Dieser, nicht faul, warf die Papierkugel sofort zum Nächsten. Während der junge Nabokov jetzt in die Mitte des Kreises gedrängt wurde und verzweifelt versuchte, des hinund her-, kreuz- und querfliegenden Balls habhaft zu werden. Unter tosendem Gejohle. Denn natürlich war sein Unterfangen hoffnungslos.

      Erst als der Pedell wie ein Berserker die Pausenglocke schlug und alles ins Schulgebäude trottete, bekam Jemeljan, Vladimirs bester Freund in schweren Stunden, die Zeitungseite zu fassen. Keine Meisterleistung. Nachdem die Jungs sie achtlos auf einen zerstobenen Schneehaufen geschmissen hatten. Aber egal, Vladimir fing die Papierkugel erleichtert auf, die Jemeljan ihm zuwarf, zerrte sie auseinander, las mit fiebrig aufgerissenen Augen. Er erstarrte, ließ die Arme sinken. Beachtete nicht, dass ihm diese grauenhafte Zeitungsseite aus den Fingern glitt. Und nicht, dass Jemeljan ihn mit der einen Hand am Jackenärmel hielt und mit der anderen versuchte, das wieder zurück auf den Schneeberg trudelnde Papier aufzuklauben, um selbst einen Blick drauf zu werfen und sich einen Reim auf diesen ganzen, unseligen Wirrwarr zu machen.

      Vladimir riss sich los. Rannte los. Quer über den Schulhof. Zerrte im Eiltempo den Schal fester um den Hals, die Pelzmütze tiefer ins Gesicht. Stürmte die kurze Treppe hinab, stieß das eiserne Schulhoftor auf und lief. Lief durch die eisige Stadt. Den prunkvollen Newski-Prospekt entlang. Durch die Gassen, in denen sich die frierenden Häuser eng aneinanderschmiegten und auf die rüdenpissgelben Löcher im Schnee hinabsahen. Rannte durch den grauschmierigen Schnee auf den Kopfsteinpflastern, die hinunter zum Hafen buckelten. Wo er den guten Salewski wusste, der dem Stellmacher einen Besuch abzustatten hatte, auf dass dieser, sobald das Frühjahr sich ankündigte, die alte Kutsche des Großvaters wieder ans Rollen bringen würde. Jetzt aber stand der Schlitten vor der Werkstatt. Und wartete.

      Vladimir überlegte nicht lange. Sprang mit einem Satz auf den Bock des Schlittens und schrie nach Leibeskräften: »Salewski!« So laut, dass das Ross zusammenfuhr. Die Zugketten des Geschirrs klirrten und unterstrichen den Schrei des Jungen mit gespenstisch greller Farbe.

      Salewski kam aus der Stellmacherwerkstatt gestürzt, sah dann, dass es sich um den jungen Nabokov handelte, und verlangsamte den Schritt sofort. Gemächlich ging er zum Schlitten, wo er es sich auf der Kutscherbank gemütlich machte, die Bremse löste und dem Rappen das Startsignal zuschnalzte. Worauf sich dieser behäbig in Bewegung setzte. Vladimir stand. So holprig die Fahrt des knirschenden Schlittens sich auch gestaltete. Stand auf dem Bock und zitterte mit den Augen.

      »So fahren Sie doch, Salewski,