Barbara Sichtermann

Fremde in der Nacht


Скачать книгу

      »Warte, bis du so weit bist, mein Junge«, sagt er. »Schlimm genug, dass die Jugend vergeht. Da will man doch wenigstens zeigen, dass man noch Freunde hat. Prost, Hahn.«

      Seit Baby Lukas versucht hat, meinen Namen auszusprechen und dabei irgendwo im Mittelteil steckengeblieben ist, nennen mich die Dittrichs »Hahn«. Und ich kann froh sein, wenn sie nicht, wie es Magda schon rausgerutscht ist, »Gockel« zu mir sagen.

      »Hör zu, du Manta-Fahrer«, sage ich, »wenn du doch mal die U-Bahn nimmst und am Alex umsteigst, solltest du dich vorsehen.« Und ich erzähle. Leo reibt sich die Nase. Seiner Ansicht nach habe ich alles richtig gemacht, und da es gut möglich ist, dass Karli einen Schreck gekriegt hat und heute abend schon bei seiner Tante auf der Matte steht, könnte sich die Angelegenheit rentieren. Denn Dankbarkeit und Verpflichtungsgefühl einer ganzen Sippe werden sich über mich ergießen.

      »Mein lieber Mann«, sagt Leo bewundernd, »du lässt nichts aus, was? Ruf die Alte gleich morgen an. Damit sie sieht: Du fühlst mit.«

      »Ich kann sie nicht anrufen, sie hat kein Telefon. Ich weiß nicht mal, ob sie eins haben will. Diese Ossis verstehen nichts von Konsum und nichts von Kommunikation. Sie sehen nicht ein, warum sie einen Apparat bezahlen sollen, wenn sie sich unterhalten wollen.«

      Wir bestellen noch mal dasselbe, und dann muss Leo was loswerden. Seit meiner Trennung von Almut hat er den besseren Kontakt zu ihr. Er versuchte damals, zwischen uns zu vermitteln, aber jetzt hütet er sich, mir von ihr und ihr von mir was zuzutragen. Er ist so diskret, wie man es als Versicherungskaufmann nur sein kann und im übrigen auch sein muss. Ich schätze das äußerst an ihm. Aber manches Mal hat er einen Auftrag. So auch heute.

      »Sie lässt dir ausrichten... und sie hofft, du verstehst... dass sie an eine neue Bindung denkt.«

      » --- «

      »Das bedeutet: Ihr zwei müsst über die Scheidung reden.«

      Pause. Seit langem schon ahne ich, dass meine Frau und ich nicht mehr zusammenfinden. Aber ein anderer?

      »Wer isses? Kenn ich den Knaben?«

      »Bestimmt nicht, ’n Kollege von der Sparkasse. Einer, der erst kürzlich dazugekommen ist. Aus der Chefabteilung. Sie ist mächtig stolz, fällt die soziale Leiter nach oben.«

      Ich schiebe das Weinglas beiseite. Der Schweiß, der mir auf die Oberlippe tritt, kommt nicht von der Hitze. Leo guckt diskret in seinen Humpen. Ich schlucke.

      »Na schön, ich ruf sie an.«

      »Ich sollte dich ein bisschen vorbereiten, damit du nicht... Sie hatte Schiss, es dir selbst zu sagen.«

      Ich grinse in mich hinein.

      »Dieser Leitende von der Sparkasse - weiß der, was auf ihn zukommt?«

      »Das lass mal dem seine Sorge sein.«

      »Warum muss sie ihn gleich heiraten? Sie kennt ihn doch kaum, wenn ich das richtig verstanden habe.«

      »O Hahn, lass deine Eifersucht im Stall. Du weißt doch, wie Almut ist. Sie will den Ring. So wie die meisten.«

      »Sie hat doch noch unsern.«

      »Hahn!«

      »Er wird sie vor die Tür setzen, wenn sie mit ihrer Masche rausrückt.«

      »Hahn -«, er legt mir die Hand auf den Arm, »vergiss es. Sturkopp! Es ist manchmal wirklich nicht einfach mit dir. Mensch, Junge, die Geschichte ist vorbei.«

      Aus seinen runden schwarzen Augen zuckt ein verächtlicher Blitz. Er erwartet von mir Konsequenz. Um ihn zu versöhnen, übernehme ich die Rechnung. Wir winken dem Wirt. Ich greife in mein Jackett und taste nach meiner Brieftasche. Ich rutsche mit meinen Fingern die leere Innentasche längs. Da war, ja ja, den ganzen Abend ein Gefühl von ungewohnter, unangenehmer, bedrohlicher Leichtigkeit über der Herzgegend, ich hatte es mir nur nicht ganz zu Bewusstsein kommen lassen. Leo starrt mich an, er hat verstanden. Ich sehe die Medusa über mir. Was da mein Hemd gestreift hat, ist nicht ihr Finger gewesen, sondern eine Kante von schwarzem Rindsleder. Ein Geschenk von Almut, diese wunderschöne, seidengefütterte Brieftasche. Schätzungsweise vierhundert Mark waren drin. Und von der Umweltkarte über Bahn- und EC-Cards bis zum Personalausweis alles, was den Menschen in den Augen der Banken und Behörden zum Menschen macht.

      Mittsommernacht

      Am 5. Januar des Jahres 1957 fuhr wie jeden Tag am frühen Morgen der Personenzug 341 von Sondrio (Veltlin) nach Milano Centrale. Auf dem Führerstand der E 626 haben der 59jährige Lokomotivführer V. und der 51jährige Hilfsmaschinist G. Platz genommen. Beide versuchen mit scharfem Blick den milchigen Vorhang vor ihnen zu durchdringen, der die Sicht auf wenige Meter beschränkt: Einmal mehr verhüllt dichter Nebel die Mailänder Bannmeile. Eben hat es drei Knallsignale gegeben; danach pflegt das Personal den Zug scharf abzubremsen, da der provisorische Viadukt bei Monza in Sichtweite kommt. Aber an diesem Morgen bremst Zug 341 nicht ab.

      Da werfen auch schon erste Stöße die Fahrgäste quer durchs Abteil. Funken blitzen von überallher auf, als der Wagen nicht mehr auf den Schienen, sondern auf dem Schotter rollt. Mit einem gewaltigen Krachen legt sich das Gefährt auf die Seite, und im Abteil fliegt ein Fahrgast auf den anderen. Das Wagenfenster ist jetzt dort zu finden, wo vorher das Wagendach war. Mit Mühe können es die Reisenden öffnen, um den Wagen zu verlassen. Dieser liegt im Areal einer Wollfabrik. Im Abteil fehlen zwei Frauen. Sie sind verschwunden. Von einer der beiden sind nur die Schuhe gefunden worden, makabrer Überrest!

      Die Lokomotive war auf der Böschung geblieben, zwar nicht mehr auf dem Gleis stehend, aber doch aufrecht, mit eingedrücktem Führerstand. Der Lokomotivführer war tot, sein Gefährte schwer verletzt. Der nachfolgende Wagen erster Klasse hatte sich, nachdem die Kupplung zerrissen war, freigemacht und die Trennmauer zur Lastwagengarage der Wollfabrik eingedrückt. Drei Wagen wurden nach vorne katapultiert und kamen kreuz und quer über die Gleise zu liegen. Der fünfte, der Gepäckwagen, und der sechste stürzten in die im Bau befindliche Unterführung.

      Da glauben die Leute, dass erwachsene Menschen, die sich mit Modelleisenbahnen beschäftigen, vergessen hätten, ihre Kinderschuhe abzulegen, und vom Ernst des Lebens nichts verstünden. Ich habe es aufgegeben, mich gegen solche Verdächtigungen zur Wehr zu setzen, man macht sich damit nur klein. Leos Bedenken gegen mein Hobby konnte ich zerstreuen, indem ich ihm anvertraute, dass ich nicht nur Loks und Wagen verkoppele und Schienen auf Regalbretter klopfe, sondern auch Eisenbahnunglücke sammele. Ich besitze mehrere große Ordner mit Berichten von Zugkatastrophen - nach Möglichkeit mit Bildern. Manchmal hocke ich lange da und starre auf das Foto der zerstörten Dampflok »Dl« von Pomponne, die 1933 in den Express Nancy-Paris hineingedonnert ist. Man sieht nur noch an dem mächtigen Frontzylinder, dass es sich um eine Lokomotive handelt. Der ganze Rest, Räder, Puffer, Pleuelstangen, ist zerstoßen wie von einem kosmischen Steinschlag. Immer wenn Lukas bei mir ist, arrangieren wir im Zugzimmer Eisenbahnunglücke. Mein Patenkind ist von derselben Leidenschaft beseelt wie ich. Oder habe ich ihn angesteckt? Egal. Dass es in so jungen Jahren schon losgeht, war mir neu. Mit fünf, dachte ich, will man, dass die Eisenbahn fährt, nicht, dass sie verunglückt. Bis Lukas mir bewies, dass auch ein kleines Kind den Sinn fürs Verhängnis schon mitbringt.

      Die meisten Menschen sind zu träge, um ein Ereignis wie das Unglück von Monza in Gedanken nachzuerleben - angefangen von dem Moment, wo die gleitende Bewegung der korrekten Fahrt erste Stockungen erleidet, die aber, da sie als Fehler der Strecke oder der Radlage gedeutet werden können, nur mäßige Unruhe auslösen, - bis zu dem fatalen Augenblick, da der Wagen aus dem Gleis springt, schlingert und kippt. Erst wenn er umstürzt, vertiefen die akustischen Schocks des Krachens und Quietschens die Angst zur Gewissheit: »Jetzt ist es aus.« Die Menschen erstarren erst und schreien dann im Griff der Panik. Wie V., der 59jährige Lokomotivführer, empfunden hat, mochte ich mir nie zu Ende ausmalen. Vielleicht, weil ich nicht anders kann, als mir vorzustellen, dass sein jäher Tod infolge des Schlages gegen den Führerstand ihn vorm Bewusstsein der Katastrophe bewahrt hat. Sollte es doch anders