er sich zugeschrien: »Ich hätte bremsen müssen?« Ich denke: Ja. Almut meint: Nein.
Wie gern habe ich ihr aus meinem Lieblingsbuch, dem in einem Züricher Verlag herausgekommenen Werk mit Titel »Katastrophen auf Schienen« von Ascanio Schneider und Armin Mase vorgelesen, besonders das Unglück von Monza. Denn damit hat es was auf sich. Ich selbst, Hagen Schäfer, wurde an eben dem Tag geboren, an dem es geschah, sogar fast um dieselbe Stunde. Almut legte die Hand vor den Mund, als ich es ihr erzählte. Aber dann grinste sie. »Meinst du, dass das was bedeutet?« Ich zuckte die Achseln. Und gestand ihr nicht, dass ich manchmal glaube, der wiedergeborene Lokführer V. von Monza in Person zu sein. Sie hätte mich, zu Recht, ausgelacht und ein Gedankenspiel zerstört, das nur V. und mich etwas angeht.
Ich hatte Lehrer werden wollen. So einer wie Herr Engelbrecht, der Deutsch gab und unter meine Aufsätze die besten Noten schrieb, die ich bekam, und mit dem ich immer noch in Kontakt stehe. Ich war sonst in Sport nicht übel, und so lag es nahe und alle fanden es richtig, dass ich Deutsch und Sport studieren sollte, um später mal beides zu unterrichten. Dann aber hieß es: Lehrer werden auf absehbare Zeit nicht mehr gebraucht, und ich sollte mir überlegen, was sich mit meinen Talenten und Semestern sonst noch anfangen ließe. Leute, die gut reimen, von Zehnmeter-Brettern springen und die schrecklichsten Eisenbahnunglücke auswendig hersagen können, erwerben mit ihrem Qualifikationsprofil nicht schon den Anspruch auf die Beamtenlaufbahn. Meine Mutter sorgte sich sehr. Mein Vater hatte sowieso vom Studium abgeraten. Seine Vorstellung von einem ordentlichen Beruf verband sich mit Handwerk und machte vor jeder Art Reflexion entsetzt Halt. Aber ich gab nicht so schnell auf - schon um es dem Alten zu zeigen. Ich fuhr nach Nürnberg zu einem Kongress, der sich mit der Zukunft des Lehrerstandes beschäftigte. Dort lernte ich Leo kennen.
Nicht dass er etwas mit der Pädagogenzunft zu tun gehabt hätte - er begleitete nur seine damalige Freundin, die schon am Gymnasium unterrichtete und eine Arbeitsgruppe leiten sollte: »Ist Teilzeit die Lösung?« Leo durfte nicht zuhören, das hätte sie nervös gemacht. So ging er raus in den Park neben der Schule, wo die Tagung stattfand, und da begegneten wir uns. »Na?« sagte er zu mir. Wir kamen ins Gespräch - über Berlin, aus dem wir ja beide herbeigereist waren. Ich fragte Leo, welches Fach er unterrichtete, und er sagte: »Sicherheit.« Und erzählte von seinem Beruf.
Ich hatte später, als ich längst erfolgreich als Vertreter arbeitete und bei meinem Stammhaus hochangesehen war, öfter ein schlechtes Gewissen, da ich es ja nun in einem Job zu etwas brachte, für den ich gar nicht ausgebildet war. Schon damals in Nürnberg aber hat Leo mir verraten, dass von hundert Versicherungsvertretern achtundneunzig als Seiteneinsteiger anfangen, die einfach mal ihr Glück probieren. Vierzig Prozent etwa bleiben dabei, die Branche ist Fluktuation gewohnt und dennoch wachstumsorientiert, also flexibel.
»Ich war Hotelmanager«, gab Leo zu, »und Kopelke, unser Verkaufsleiter, Kapitän zur See.« Sie hatten sogar einen ehemaligen Eintänzer dabei und eine Meeresbiologin. »Vielleicht wär’s ja auch was für Sie.« Ich lachte geschmeichelt und schüttelte den Kopf. Leo deutete auf das Transparent über dem Eingang der Schule, auf dem der Slogan des Kongresses - irgendwas mit »Keine Zukunft...« - geschrieben stand und machte ein paar Bemerkungen über die alles in allem ziemlich miese Stimmung unter den jungen Lehramtskandidaten. Ich sagte: »Ich bin der geborene Pauker. Ich weiß immer alles besser.« Darauf Leo: »Wenn das wirklich stimmt, sollten Sie mich in den nächsten Tagen mal aufsuchen.«
Er gab mir seine Karte. So fing es an.
Es war der Anfang unserer Freundschaft - und eines neuen Lebens für den nicht besonders rührigen Germanistikstudenten Hagen Schäfer. Zwar fühlte ich mich nach wie vor motiviert und imstande, vor eine Klasse zu treten und ihr zu erläutern, warum es schade ist, wenn der Genitiv ausstirbt, aber die großen Umwege, die man auf der Universität betreffs dieses Ziels einzuschlagen hat, schienen mir immer sinnloser. Leo betraute mich mit ersten Akquisitionen als sein Stellvertreter, und ich machte meine Sache gut. »Wo bleiben die Anfängerfehler, die sonst dazugehören?« scherzte mein Mentor. »Warum beschweren sich keine übertölpelten Kunden, und warum kapierst du gleich alles?« Meine Studienfreunde reagierten neiderfüllt, wenn ich von meinem Nebenjob erzählte. Als ich dann aber den Schritt tat und die Germanistik aufgab, um mich ganz der KWP-Versicherung zu widmen, schüttelten sie die Köpfe und prophezeiten mir ein geistig armes Leben. »Geld ist nicht alles«, sagten sie. Nicht mal meine Jugendfreundin Elfie hielt zu mir. Nur Leo.
Es stimmt nicht, dass ich des Geldes wegen Versicherungsagent geworden bin. In meiner freiberuflichen Position bin ich selbst nicht besonders gut abgesichert, leicht kündbar und auf private Vorsorge angewiesen. Außerdem schwankt mein Einkommen. Wäre es mir auf eine perfekte Versorgung angekommen, hätte ich das Examen machen und um das Lehramt kämpfen müssen. Ich folgte Leos Rat und ging zur KWP, weil ich unabhängig sein wollte, musste. Das Liebkind-Spielen hing mir zum Halse heraus. Wer wie ich einen Vater hat, dessen Leib- und Magenthema der Monatswechsel für einen spinnerten Sohn ist, wird mich verstehen. Als ich auf eigenen Füßen stand, war ich so erleichtert, dass mir die akademischen Würden, Zeigestock und Klassenzimmer sehr bald egal waren. Ich ordnete meine Verhältnisse neu, gab Elfie den Laufpass, mietete meine Wohnung in Wilmersdorf mit viel Platz für die Eisenbahn und kaufte mir einen PC. Mein Telefon klingelte oft und öfter. Ich war im Geschäft.
Als dann noch Almut in mein Leben trat, schien sich mir alles zu fügen. Sie schätzte meinen Beruf, meinen Status und meinen Freundeskreis. Und ärgerte mich gern, wenn sie feixend erklärte, wie glücklich sie sei, dass sie keinen Schulmeister heiraten müsse. Ihr war die Schule verhasst gewesen, so konnte ich Verständnis aufbringen für ihre Abneigung gegen mein Vorleben. Immerhin hatte ich jetzt einen weiteren Grund, mich zu meiner beruflichen Entscheidung zu beglückwünschen.
Unsere Hochzeit war ein enormes Gelage. Zum ersten Mal erlebte ich Leo betrunken. Er benahm sich korrekt, außer dass er Magda Silberpapierkügelchen in den Ausschnitt warf. Ich musste die ganze Nacht Flaschen öffnen. Es war die erste Hochzeit, an der ich teilnahm, ohne dass ich das Festgedicht geschrieben hatte.
Am Morgen danach sagte Almut, den Eisbeutel auf dem Kopf, dass sie noch glücklicher gewesen wäre, wenn ein alter Freund von ihr, Ralph Schaufuß, mitgefeiert hätte. Ralph Schaufuß? Ich tat so, als hätte ich den Namen nicht mehr in Erinnerung, dabei wusste ich genau, dass dieser Mensch, zusammen mit einem gewissen Lennart Miller, ihr Liebhaber gewesen war. Sie sagte, sie habe ihn meinetwegen nicht eingeladen, das sei ihr unpassend erschienen; aber ob sie uns zwei nicht bald mal bekannt machen sollte? Ein kleines Abendessen hier bei uns?
»Was denn«, sagte ich, »du siehst diesen Herrn immer noch?« Sie gab mir den Treppenblick. »Ach komm, Hagen, warum soll ich mit ihm brechen, wo ich gar nichts gegen ihn habe? Das war doch wirklich nicht fair. Nu lass mal deine Vorurteile beiseite und sei ’n bisschen aufgeschlossen. Ralph ist okay. Du wirst ihn mögen.« - Herr Schaufuß war Drogist. Er sprach Dänisch, seine Mutter stammte aus Bornholm. Als er auf Almuts Einladung bei uns erschien, trug er einen weinroten Anzug, dazu ein offenes Hemd, er brachte Champagner mit. Ganz gegen meine Erwartung fand ich ihn sympathisch. Sein Jungengesicht war sommersprossig und frisch, sein Haar rotbraun und sehr dicht; er trug einen Ring mit einem Glasbrillanten am kleinen Finger.
»Herr Schäfer! Na endlich... Almut hat...« Und so weiter. Die Konversation mit ihm war leicht und etwas hastig. Almut holte einen Kühler und machte den Champagner auf. Wir redeten ungefähr zwei Stunden über die Wiedervereinigung, die damals noch nicht lange her war, und über die Auspizien für Drogerien und Versicherungen im neuen deutschen Osten. Zum Abschied nahm Herr Schaufuß meine Hand und lächelte ein paar Sekunden länger, als die Höflichkeit es verlangt hätte.
Er kam bald wieder. Verwundert registrierte ich, dass er und Almut Pläne machten: rauszufahren an die Ostsee, in den Spreewald, in die Pilze. Ich trank Brüderschaft mit ihm. Ganz wie damals in der Zeit zwischen dem »Crystal« und Paris versuchte ich, obwohl die Hinweise deutlich waren,