ist die bekannte Schwierigkeit, Religion und Wissenschaft zu versöhnen, letztlich komplizierter als das Problem des symbolischen Defizits im zeitgenössischen Säkularismus zu lösen, auf das sie hinweist. Dem Atheismus fehlen noch die Rituale, die es mit der symbolischen Kraft der Religion aufnehmen können und es gibt mehr als einen Hinweis darauf, dass dieser Mangel nicht zufällig ist. Deswegen deutet der Atheismus den Tod Gottes normalerweise als eine Verleugnung des Symbolischen (= dem großen Anderen) an sich. Diese im Grunde postmoderne Verleugnung Gottes – in der die offizielle Verneinung eines großen Anderen kombiniert wird mit der de facto Observanz des Symbolischen auf einer anderen Ebene – und der kapitalistische Realismus liegen sehr eng beieinander. Wie Althusser begriff, funktionieren die Rituale der kapitalistischen Ideologie umso besser, wenn sie nicht als Rituale erkannt werden. Anstelle der unnachgiebigen Feierlichkeit des religiösen Rituals bietet uns der postmoderne Säkularismus entweder eine Vermeidung des Rituals überhaupt (es braucht überhaupt keine Zeremonie) oder Personalisierungen á la »Schreibt eure Eheversprechen selbst«, eine Art humanistischen Ersatz-Kitsch, in der die religiöse Form erhalten wird, selbst wenn der Glaube an einen übernatürlichen Gott verleugnet wird. Das Problem ist nicht ein säkularer »Mangel an Sinn«, sondern das Gegenteil: Es ist die Sinnlosigkeit religiöser Rituale an sich, ihr Mangel an persönlicher Bedeutung, die ihnen ihre Kraft verleiht. Zum Teil, wie Jameson in seiner Rezension von Das Jahr der Flut vorschlägt, hat das Problem mit Zeit zu tun: Jedes neue »Glaubenssystem« braucht »ein Supplement in Gestalt tiefer Zeit, alter kultureller Bräuche oder der Offenbarung selbst«. Die Zeit erlaubt dem Ritual, zu einem Brauch zu werden, einer leeren Form, der das Individuum unterworfen wird – und das ist alles andere als ein Nachteil, es ist der Grund, warum Beerdigungsriten eine solche Kraft, zu trösten haben.
Trauer und Verlust liegen nicht nur in den Ursprüngen der Religion, sondern sorgen natürlich auch für ihre anhaltende Anziehungskraft. Eine der heftigsten – und fast schon verbitterten – Diskussionen unter Studenten, die ich seit langer Zeit erlebt habe, kam während eines Seminars über Religionsphilosophie auf, das ich gegeben habe. Ausgangspunkt war meine These, dass der Atheismus ein weit größeres Problem mit dem Bösen und dem Leid hat, als die Religion – nicht zuletzt aufgrund des Leides derer, die nun tot sind. Iwan Karamasows Klage kann sich genauso gut gegen die atheistischen Architekten der strahlenden Stadt wie gegen Gott richten, denn was soll die revolutionäre Eschatologie, egal wie glorreich sie ist, gegen das Leiden jener tun, die längst tot sind? Kein säkularer guter Wille kann eine Korrelation zwischen Tugend und Glück garantieren, wie Kant in einer skandalösen Passage der Kritik der Urteilskraft ausführt:
»Betrug, Gewalttätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden, unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt, und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurückwirft, aus dem sie gezogen waren.«58
Bemerkenswert ist, dass Kants Argument sowohl auf die neoheidnischen Gottes-Gärtner als auch auf die »ungläubigen Gerechten« anwendbar ist, weil Kant sich strikt weigert, Natur mit Güte gleichzusetzen, wie es die Gottes-Gärtner predigen. Im Gegenteil, laut Kant ist Gott notwendig, um eine Welt wieder gut zu machen, die durch amoralische Zwecklosigkeit gekennzeichnet ist. Der wahre Atheist muss fähig sein, dem »weite[n] Grab«, dem »Schlund des zwecklosen Chaos« ins Gesicht zu schauen – während ich annehme, dass die meisten (von uns) Ungläubigen es lediglich schaffen, wegzusehen. Doch Kants moralisches Argument ist weniger leicht beiseite zu wischen, als es scheinen mag, denn es ist weit schwieriger, den Glauben an eine göttliche Struktur des Universums zu widerlegen als wir uns vorstellen können – gerade weil dieser Glaube weit unter allem liegt, was wir uns trauen würden zuzugeben. (Schau allerdings eine Folge Deal or No Deal und es wird klar, dass viele genau einen solchen Glauben hegen.) Vielleicht braucht es wirklich Crakes gentechnologische Spielereien, um diesen Glauben abzuschaffen.
Das Problem an Das Jahr der Flut ist, dass Politik und Religion synonym werden – und weil es allen Grund gibt, positiv gegenüber einer politisierten Religion eingestellt zu sein, gibt es tiefgreifende Probleme mit einer Politik, die es nicht schafft, den eschatologischen Mantel der Erlösung und des Messianismus abzulegen. Es ist bezeichnend, wie sehr die Gottes-Gärtner den Grünen ähneln, die Sorman so verabscheut, wie hier in einer Passage aus Žižeks First as Tragedy, Then as Farce:
»Alles andere als normale Krawallmacher, sind die Grünen die Priester einer neuen Religion, die die Natur über die Menschheit stellen. Die Ökobewegung ist keine schöne Frieden-und-Liebe-Lobby, sondern eine revolutionäre Kraft. Wie viele andere moderne Religionen, klagen sie das Böse angeblich auf der Basis von wissenschaftlichem Wissen an: globale Erwärmung, das Aussterben der Arten, Verlust der Biodiversität, Supergetreide. Tatsächlich sind all diese Bedrohungen Produkte der grünen Phantasie. Die Grünen borgen sich ihr wissenschaftliches Vokabular, ohne von dessen Rationalität Gebrauch zu machen. Ihre Methode ist nicht neu; Marx und Engels haben auch so getan, als wäre ihre Weltsicht in der Wissenschaft ihrer Zeit verankert, dem Darwinismus.«59
Atwood wirbt für eine solche Religion. (Zur Klärung: Nur um 100 Prozent richtig verstanden zu werden – Ich unterstütze Sormans Sicht auf die Grünen in keiner Wiese. Ich war nur der Meinung, dass es amüsant ist, dass Atwood einen Ökokult erfunden hat, der so gut auf Sormans Stereotyp passt.) In einer Unterhaltung mit Richard Dawkins bei Newsnight vor ein paar Wochen beharrte Atwood darauf, dass es wenig Sinn mache, gegen Religion vom Standpunkt der Evolution aus zu argumentieren, weil die Beharrlichkeit der Religion selbst darauf hinweise, dass sie für die Menschen einen evolutionären Vorteil bringe. In Anbetracht dieser Tatsache, so Atwood, solle Religion als Werkzeug für »progressive« Kämpfe genutzt werden; und Adam Eins, der Anführer der Gottes-Gärtner, ist nur dann interessant, wenn er wie Machiavelli oder Strauss klingt, die die Religion nutzen, um das Volk zu manipulieren – die restliche Zeit ist seine Ökofrömmigkeit nur aufgrund Atwoods zarter, satirischer Spitzen erträglich (man denke zum Beispiel an die Verrenkungen, die die Gärtner-Doktrin durchmachen muss, bei dem Versuch, den Vegetarismus sowohl mit der karnivoren Tendenz der Bibel und dem »amoralischen Chaos« einer blutrünstigen Natur zu versöhnen). Was zu Beginn an der Idee der Gottes-Gärtner interessiert, ist die Aussicht, dass Atwood eine neue Art politischer Organisation beschreibt. Doch die Doktrin und die Struktur der Gärtner stellt sich als enttäuschendes Sammelsurium alter, langweiliger No Logo-ähnlicher, antikonsumistischer Askese, primitivistischer Märchen, Naturheilmittel und Selbstverteidigung heraus, die so verlockend wie das Patschuli-Öl von letzter Woche ist. In letzter Instanz wirkt Das Jahr der Flut wie ein Symptom der libidinösen und symbolischen Sackgassen, die den Großteil des sogenannten Antikapitalismus auszeichnen. Atwood imaginiert das Ende des Kapitalismus, aber nur nach dem Ende der Welt. Oryx war wie der erste Teil von Wall-E; Das Jahr der Flut ist der zweite Teil, in dem wir sehen, dass der letzte Überlebende überhaupt nicht der letzter Überlebende war, sondern dass es herumziehende Gruppen von Menschen gab, die rätselhafterweise außer Sichtweite waren. (Bei Wall-E waren die Menschen wenigstens auf einer anderen Welt, während uns bei Oryx Glauben gemacht werden soll, dass sie irgendwie außerhalb Schneemanns Sichtfeld waren.) In der Rückschau hat dies einen deflationären Effekt, der meiste Pathos und die Nobilität von Schneemanns Leid wird abgezogen, und was wie eine Cyberpunk-Beckett-Tragik-Komödie wirkte, verwandelt sich in eine schlichte Komödie. (Interessanterweise ist vielleicht die größte »Leistung« von Das Jahr der Flut, dass es sich am Ende gar nicht mehr wie ein Roman von Atwood liest. Stattdessen ist es in der funktionalen Prosa eines mittelmäßigen Buches von Stephen King geschrieben, voll von standardmäßig zum Cyberpunk-Genre gehörenden harten Frauen, in einem postapokalyptischen Setting, dem überraschenderweise jede Lebendigkeit fehlt. Das Ergebnis hat Robert Macfarlane unvergesslich als »Dystoap-Opera« bezeichnet.)
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