sich diese Szenen abspielten, hört man fast die Zeilen Johnny Rottens: »When there’s no future how can there be sin? // Ohne Zukunft, gibt es dann Sünde?« (Obwohl es für Deutschland eigentlich nichts anderes als die Zukunft gab: Nachkriegsdeutschland unterlag einer willfährigen Amnesie, einer Verleugnung der kulturellen Erinnerung.) Es ist kein Zufall, dass der Post-Punk in vielerlei Hinsicht hier ansetzt. Die Sex Pistols begannen ihre eigene Abschaffungslinie auf den Weg zum Nihilismus der verbrannten Erde mit »Belsen was a Gas« und »Holidays in the Sun« und kehrten immer wieder zu der von Stacheldraht überzogenen, wie von Hieronymus Bosch gezeichneten Landschaft des nationalsozialistischen Berlins und der Pynchon-Zone zurück, die nach dem Krieg existierte. Siouxsie war bekanntermaßen ein paar Mal mit einem Hakenkreuz zu sehen, und obwohl es bei dem Spiel mit Nazi-Symbolik vorgeblich um Schockeffekte ging, bestand die Verbindung zwischen Punk und Nationalsozialismus in mehr als der Lust an der Überschreitung. Die sehr englische Fixierung in den 1970er Jahren auf die Nazis warf ethische Fragen auf, die so beunruhigend waren, dass man sie kaum aussprechen konnte: Was sind die Grenzen liberaler Toleranz? Konnte sich England so sicher sein, dass es nichts mit dem Nazismus zu tun hatte (gerade in jener Zeit als die National Front eine bis dato unbekannte Unterstützung erhielt)? Und vor allem: Was unterscheidet das Böse der Nazis vom heroischen Guten?
Der Untergang stellt diese Fragen auf überzeugende Weise, vor allem in Hinblick auf Žižeks und Zupančičs Theorie vom unbedingten Akt als Bestimmung des Ethischen. Als ich die »monströseste« Tat des Filmes sah, die Szene, in der Frau Goebbels ihre Kinder betäubt und vergiftet – lieber diese »Erlösung«, so ihr Gedanke, als in einer Welt ohne den Nationalsozialismus zu leben –, war ich verblüfft von den Parallelen zu Sethe in Toni Morrisons Menschenkind, die eines ihrer Kinder umbringt, anstatt es in die Hände der Sklavenhalter geraten zu lassen. Was unterscheidet Frau Goebbels’ abscheuliche Tat des Bösen von Sethes heroischem Akt des Gutes? (Wer Das fragile Absolute gelesen hat, wird sich daran erinnern, dass Žižek Sethe als Beispiel für einen Akt des Guten anführt, der der liberalen Moral und ihrer Ethik des aufklärten Selbstinteresses vollkommen entgegensteht.)
Der Untergang scheint uns dazu anzuhalten, mit den »liberalen Nazis« zu sympathisieren, dem »vernünftigen Arzt« zum Beispiel, der die Krankenversorgung aufrechterhalten will und das »sinnlose, suizidale« Verhalten entsetzlich und abscheulich findet, das entsteht, wenn man seiner Pflicht bis zum Ende folgt; oder der General, der den Krieg beenden will, um das Leben von Zivilisten zu retten. Doch diese »pragmatischen Humanisten« sind am wenigsten zu verteidigen, da sie den Prinzipien ihrer Handlungen nicht bis zum Schluss folgen können. (Wenn sie wirklich auf den Nazismus schwören, warum nicht dann auch für ihn sterben? Und wenn sie es nicht tun, warum leisten sie keinen Widerstand?) Merkwürdigerweise scheint der Film nahezulegen, dass das untilgbar Böse des Nationalsozialismus in seinem Willen liegt, für die Sache zu sterben.
Ohne dass wir es wollen, erwischen wir uns plötzlich bei dem Gedanken, dass den bösen Nazis – also jene, die sich vollkommen mit dem nationalsozialistischen Projekt identifizieren, auch dann noch, als sie bemerken, dass es scheitert – eine Art tragischer Heroismus eigen ist, weil sie sich weigern, von ihren Überzeugungen abzulassen. All das führt uns wieder zu der Frage zurück: Legitimiert Kants unbedingte Pflicht das Böse des Nationalsozialismus?
Zupančič, die sich der kantischen Ethik aus der Perspektive der Theorie Lacans genähert hat, widmet sich dieser Frage in einem Interview mit der Zeitschrift Cabinet:
»Frage: Man denke daran, dass, nach Hannah Arendts berühmten Beispiel, Nazifunktionäre wie Eichmann sich selbst als Kantianer verstanden habe: Sie behaupten, aus Pflichterfüllung gehandelt zu haben, ohne an die Folgen ihrer Taten zu denken. Inwiefern ist das eine Verkehrung von Kant?
Antwort: Diese Haltung ist ›pervers‹ im strengen, klinischen Sinne: Das Subjekt übernimmt hier die Rolle eines bloßen Instruments für den Willen des Anderen. Mit Blick auf Kant würde ich folgendes Moment betonen, auf das schon Slavoj Žižek aufmerksam gemacht hat: In der kantischen Ethik sind wir verantwortlich für das, was wir als unsere Pflicht anerkennen. Das moralische Gesetz ist nichts, was uns aller Verantwortung enthebt; im Gegenteil, es macht uns nicht nur für unsere Handlungen verantwortlich, sondern auch – und vor allem – für die Prinzipien, nach denen wir handeln.«68
Reicht das, um Goebbels von Sethe zu unterscheiden? Stimmt es wirklich, dass sich Frau Goebbels zu einem »bloßen Instrument des Willen des Anderen« gemacht hat? Oder hat sie sich frei entschieden, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und für die Prinzipien, nach denen sie gehandelt hat? Man denke daran, dass Freiheit bei Kant darin besteht, sich zu entscheiden, sich dem Gesetz zu unterwerfen. Von etwas anderem als »Pflichterfüllung« motiviert zu sein, heißt »pathologischen« Leidenschaften zu unterliegen und damit unfrei zu sein. Freilich gibt es keine offenkundig pathologischen Gründe für die Tat von Frau Goebbels. Sie hat nichts gewonnen durch diesen Akt der »Zerstörung dessen, was ihr am liebsten war« (und tatsächlich lässt sie sich kurz nach dem Mord an ihren Kindern von ihrem Ehemann erschießen).
Die einzige Antwort, die übrigbleibt, ist, dass der Nationalsozialismus selbst etwas Pathologisches ist. Per definitionem kann die nationalsozialistische Tat nicht universell sein, weil sie darauf beruht, die besonderen, pathologischen Eigenschaften eines »erwählten Volkes« zu erhalten – wenngleich am Ende auf der Ebene des Mythos –, und damit, etwas abstrakter gesagt, das Prinzip der »ethnischen Pathologie«. Sethes schreckliche Tat in Menschenkind ist ein tödliches Aussteigen aus einer gesellschaftlichen Situation, die von einem wiederum tödlichen und idiotischen Rassenwahn unrettbar korrumpiert wurde; Frau Goebbels mehrfacher Kindsmord hingegen, ist ein Versuch, sich selbst und ihre Kinder auf ewig mit einem ethnozidalen Wahn zu verbinden, der nur durch ihren Tod und den Tod von Millionen anderer Menschen am Leben bleiben kann.
Wir wollen alles 69
Welchen Nutzen könnte Nietzsche heute haben? Oder anders gesagt, welcher Nietzsche könnte heute nützlich sein?
Es dürfte kaum überraschen, dass ich den perspektivistischen Nietzsche – also den, der nicht nur die Möglichkeit, sondern auch den Wert der Wahrheit infrage stellt – als den Feind begreife. Noch weniger überraschend dürfte meine Ablehnung des dionysischen Nietzsche sein, den Zelebranten des transgressiven Begehrens. Dieser Nietzsche ist größtenteils ein retrospektives, post-Bataille’sches Konstrukt (selbst in der Geburt der Tragödie betrauert Nietzsche den Verlust der Spannung zwischen dem Dionysischen und Apollinischen; und in den späteren Schriften neigt er eher dazu, die Notwendigkeit von Grenzen und Einschränkungen zu loben, als dass er für eine zügellose Freisetzung der Libido argumentiert). Der perspektivistische und der dionysische Nietzsche sind beide viel zu zeitgemäß.
Der immer noch unzeitgemäße Nietzsche – und damit meine ich nicht veraltet, ganz im Gegenteil – ist Nietzsche, der Aristokrat. Nicht als politischen Theoretiker sollte man Nietzsche ernstnehmen, zumindest nicht auf der Ebene seiner positiven Aussagen. Es ist der Nietzsche, der die Geschmacklosigkeit und Mittelmäßigkeit denunziert, die aus den einebnenden Impulsen der Demokratie resultieren, der aktueller kaum sein könnte. In dieser Zeit der gruppenbezogenen Freundlichkeit und der »autonomen Herden« besticht Polemik um Polemik in Jenseits von Gut und Böse durch ihre unheimliche Triftigkeit. Nietzsches wahre Interessen lagen in der Kulturpolitik; Regierungen und gesellschaftliche Institutionen beschäftigten ihn nur insofern, als sie kulturelle Effekte hervorriefen. Seine ultimative Frage war: »Was sind die Bedingungen, unter denen großartige, kulturelle Artefakte entstehen?«
Als Chantelle Houghton vor einer Woche oder so Celebrity Big Brother gewann (es scheint schon viel länger her), musste ich an Nietzsches Warnungen denken, was passieren würde, wenn alle »Sonderforderungen und Privilegien« abgeschafft wären, wenn überhaupt die Idee der Überlegenheit verschwunden ist. Ich dachte auch an Nietzsches glühendes Plädoyer für die Kultivierung von »Härte« und »Grausamkeit«, wenn das menschliche Tier wirklich durch Hammerschläge und die Kraft des Willens in ein großes Kunstwerk verwandelt werden soll; vor allem als