Ernst Bromeis

rüffer&rub visionär / Jeder Tropfen zählt


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      Es wird für kurze Zeit ganz still, und dann ertönt auf der Orgel das Eingangsspiel. Man hat Raum, in der nächsten Stunde sich an die gemeinsame Zeit mit dem Verstorbenen zu erinnern und das eigene Leben zu reflektieren. Ab einem gewissen Alter wissen wir alle von unserer Endlichkeit, von dieser begrenzten Zeit auf Erden, die uns alle verbindet. In den Kirchenbänken sitzend, lässt sich darüber nachdenken, ob das eigene Leben wie ein Fluss an einem vorbeizieht oder ob man selbst auf dem Lebensfluss ist und seinen Weg prägt.

      Während der Abdankung wird der Lebenslauf verlesen, es werden die wichtigsten Stationen des Verstorbenen erwähnt. Erinnerungen und Bilder füllen den Raum: die Geburt, die Kindheit und Jugend, Beziehungen, eventuell war der Verstorbene verheiratet, hatte Kinder und Enkelkinder. Die Pfarrerin fasst die berufliche Laufbahn zusammen, erzählt von Hobbys und womöglich auch die eine oder andere Anekdote aus dem Leben des Verstorbenen.

      Vielleicht kommen im Lebenslauf auch seine Träume vor – wahrscheinlich aber eher nicht. Denn wer erzählt schon öffentlich von seinen Bedürfnissen und seinen Lebensträumen. Unsere tiefsten Sehnsüchte können wir oft schon vor uns selbst nicht aussprechen, geschweige denn anderen davon erzählen.

      Womöglich kennen nicht einmal unsere Partner und engsten Freunde die Orte, die wir in unserem Leben besuchen, und die Taten, die wir realisieren wollten. Unsere westliche, nüchterne Gesellschaft bekundet oft Mühe mit Träumen und Sehnsüchten. Beide sind irrational und diffus, haben mit Gefühlen zu tun. Sie gehören nicht in die Erwachsenenwelt, in eine kalkulierende Gesellschaft. Künstlerinnen und Künstler haben das Privileg, ihre Träume zu leben. Der Rest muss funktionieren und das Tagträumen lassen. Es wäre einigen in den Sitzbänken peinlich, wenn an der Abdankung die Wünsche des Verstorbenen nach Freiheit, Selbstbestimmung oder Abenteuer zur Sprache kämen. Trauergefühle ja, Träume und Sehnsüchte nein.

      Ich schreibe diese Zeilen einen Steinwurf entfernt von der St. Johann Kirche in Davos Platz. Das Büro meiner Firma »Das blaue Wunder« liegt auf Ohrenhöhe der Kirchenglocken, deren Klang mich regelmäßig erreicht: Trauerklänge, Hochzeitsklänge, Taufklänge, Weihnachtsklänge, Silvesterklänge und Neujahrsklänge. Die Klänge erinnern mich von Zeit zu Zeit daran, wie die Zeit, meine Lebenszeit, verfließt.

      Warum haben wir Angst, unsere Träume und Sehnsüchte zu verwirklichen? Ich habe eines Tages beschlossen, mich dieser Angst zu stellen. Dieses Buch erzählt meine Geschichte, wie es dazu kam, warum ich unter anderem durch 200 Seen im schweizerischen Bündnerland und 1247 Kilometer von der Quelle bis zur Mündung des Rheins geschwommen bin und weshalb ich »Das blaue Wunder« ins Leben gerufen habe.

      Vor acht Jahren habe ich mein »normales« Berufsleben gekündigt, um mich voll meinen Wasserprojekten zu widmen. Aus dem All betrachtet, ist für mich die Welt, die auf Wasser baut, betörend schön. Am Wasser führt kein Leben vorbei. Auf Erden, aus der Nähe, sehen wir, wie verletzlich dieses »blaue Wunder« Erde ist. Wir sehen die Zwischenbilanz einer globalen Zivilisierung und bemerken, wie ungleich Glück und Unglück, Reichtum und Armut, Überfluss und Dürre, Naturreservate und Umweltkatastrophen, Wasser-Rechte und -Unrechte oder frei fließende Quellen und Quellenbesitztum die Weltgemeinschaft vor die Aufgabe stellt, Lösungen umzusetzen – nicht für morgen und übermorgen, sondern für heute.

      Mein Engagement für das Wasser gründet in der Summe meiner Lebensphilosophie, dass jedes Leben ein Recht auf Leben und deshalb auf Wasser hat. Dieser Satz tönt banal und ist doch so schwierig umzusetzen. Das einzufordern ist das eine, das umzusetzen ist die wahre Herausforderung in einem Meer zwischen globalen und lokalen Partikularinteressen. Das Buch ist eine Antwort darauf, was wir Einzelne beitragen können für einen sinnvollen Umgang mit der kostbaren Ressource Wasser.

      Seit acht Jahren lebe ich aber auch die Schönheit und Poesie, die sich durch die körperliche Ausdruckskunst des Schwimmens zeigt. Von diesem Spannungsfeld zwischen schwimmerischer Poesie und globalem Wasserstress erzählt dieses Buch.

      Meine Zeit ist begrenzt, und ich will meiner Lebenszeit mit dem »Blauen Wunder« einen eigenen Sinn geben. Wenn die Kirchenglocken für mich läuten, will ich gelebt und gestaltet haben.

       »Sie sind naiv!« – Der Beginn einer Passion

      Es war keine Erleuchtung und keine Nahtoderfahrung, die mich dazu brachten, mich für das Thema Wasser einzusetzen. Es gibt in meiner Biografie kein Damaskus-Ereignis wie beim Sturz vom Pferd bei Saulus, der zum Paulus wurde.1 Dass ich zunächst Expeditionsschwimmer und später Wasserbotschafter wurde, ist die Summe kleinerer Ereignisse, die mich geprägt haben. Diese Ereignisse haben sich gestaut, und irgendwann musste der Damm brechen. Für einige ist es logisch, was und warum ich es tue. Menschen, die mich schon lange kennen, sagen: »Das passt zu dir, Ernst!« Es sind diejenigen, die mich im Sportstudium erlebt haben, mit denen ich die Spitzensport-Trainerausbildung absolvierte, meine ehemaligen Lehrerkolleginnen und -kollegen an der Volksschule in Zuoz. Für andere, so musste ich immer wieder erfahren, die mich erst mit der ersten Expedition in Graubünden aus dem Medien »kennen«-lernten, ist es oft nicht nachvollziehbar, wieso ich diesen Weg gewählt habe. Sie reden von Midlife-Crisis, von Aussteigen, vom großen Egotrip oder von Selbstdarstellung. Eine Dame kam nach einem Vortrag auf mich zu und sagte ganz offen zu mir: »Sie sind naiv! Warum machen Sie das!?« Der Ton war herablassend und vorwurfsvoll. Wie konnte jemand sein Leben für eine Vision und Mission auf den Kopf stellen?

      Wie bei wohl allen Menschen ereignete sich auch bei mir das Essenzielle in der Kindheit. Ich erinnere mich gut an einen wichtigen Moment in meinem Leben. Er fand an einem kleinen Bach in der Nähe von Ardez im Unterengadin statt, wo ich aufwuchs. Mein Vater war Dorflehrer und in der Freizeit leidenschaftlicher Musiker und ebenso leidenschaftlicher Imker. Im August, am Ende der Sommerferien, war es immer meine Arbeit als Knabe, meinem Vater bei der Honigernte zu helfen. Zusammen hievten wir die Honigwaben aus den Bienenkisten, klopften die Bienen in den Auffangbehälter runter und verstauten die Honigwaben separat in einer großen Kiste für den Heimtransport.

      Die Bienenhütte stand alleine mitten auf einer Wiese vor Ardez, umgeben von Sträuchern, Blumen und Laubbäumen. In meiner Erinnerung schien bei der Honigernte immer die Sonne, und in der Bienenhütte war es brütend heiß. Es war die Maxime meines Vaters, dass nicht aller Honig geerntet wurde, sondern dass einige volle Honigwaben für die Bienen zum Überwintern in der Kiste belassen werden mussten. Mein Vater hatte ein enges Verhältnis zu seinen Bienen. Es waren Tausende und Abertausende Bienen, alle anonym, ohne Namen, und doch hatte mein Vater einen persönlichen Bezug zu seinen »Arbeiterinnen«. Ich glaube, ihm war es wichtig, Teil von einem größeren Kreislauf zu sein, mit seinen Bienen zu leben, sie zu respektieren und zu pflegen, den Honig zu ernten und auch zu danken, indem er nicht die ganze Ernte nahm. Es war kein Plündern und Ausbeuten. Es war ein Miteinander von Nützen und Schützen, von Leben und Lebenlassen.

      Nachdem wir zwei Stunden in der saunaheißen Hütte gearbeitet hatten, zogen wir uns für eine Pause zurück. Ungefähr zehn Gehminuten von der Bienenhütte entfernt, fließt der kleine Bach im Tal Valdez, der weiter unten in den Fluss En/ Inn mündet. In einem Korb nahmen wir Süßmost, Kaffee und Guotzli mit. Bevor wir uns hinsetzen und die Verpflegung genießen konnten, prüften wir gegenseitig, ob nicht noch Bienen in einer Jackenfalte oder unter dem Schleier versteckt waren.

      Die Aggressivität der Bienen nach der für uns mehr oder minder erfolgreichen Ernte konnte sehr unangenehm sein. Wenn die Biene sticht, stirbt sie, und einen von uns würde es schmerzen. Wir wollten beides nicht. Einmal fragte ich bei der gemeinsamen Pause, die Füße plantschten im Wasser, meinen Vater in unserer Muttersprache Romanisch: »Bap, che fessast auter in Tia vita?«, was er anders in seinem Leben gemacht hätte. »Eu nu vess plü tant respet dad autoritats.« – »Ich hätte nicht mehr so viel Respekt vor Autoritäten.« Mein Vater meinte nicht, dass er frecher, unanständiger oder arroganter hätte sein sollen. Er wünschte sich nur, mutiger in seinem Leben gewesen zu sein.

      Der Bach umspülte unsere Füße, trug aber die Worte meines Vaters nicht fort, sondern prägten und prägen mich. Heute bin ich so alt wie mein Vater damals. Ich verstand schon als Knabe, was er sagte, inzwischen wurde es mir noch klarer. Als Wasserbotschafter