wenn eine Aktion nicht so verläuft wie geplant. Doch gleichzeitig weiß ich, wenn ich mich nicht für meine Ziele und Werte einsetze, werde ich meine Angst ein Leben lang bereuen.
Vater und ich packten unseren Korb, zogen den weißen Overall und den Schleier über, kontrollierten, ob alles dicht war und liefen ruhig zur Bienenhütte zurück. Das nächste Bienenvolk wartete auf uns. Später, als wir mit den Honigwaben zu Hause im Keller angekommen waren, kam meine Mutter zum Einsatz. Sie war für den Arbeitsgang des Schleuderns und Abfüllens verantwortlich. Beim Schleudern der Waben floss der Honig in die Einmachgläser. Ein gelbes Wunder.
Im Unterengadin fließen Milch und Honig. Doch niemand schwimmt darin – und auch nicht im Wasser! Kein Mensch war in meiner Kindheit Schwimmerin oder Schwimmer. Sport war schon damals meine Leidenschaft. Ich liebte das Radfahren, aber Schwimmen wäre nie eine Option gewesen. Erst als ich im Sportstudium auf meinen Schwimmdozenten Gunther Frank traf, entdeckte ich mit 25 Jahren an der Universität Basel am Rhein eine neue Welt.
Ich bin überzeugt: Wäre ich in meiner Jugendzeit Beckenschwimmer gewesen, hätte ich nie meinen Weg als Expeditionsschwimmer gefunden. Beckenschwimmer sind anders, sehen das Wasser als Sportgerät. Beckenschwimmer betreiben »Sport« mit all seinen Reglementierungen. Ich fühle mich auf meinen Expeditionen mehr als Seefahrer. Ich wähle einen Kurs und schwimme in die Richtung, in die ich will.
Mein Schwimmdozent hat diese Passion in mir entfacht. Er hatte ein Leuchten in den Augen, wenn er von kleinsten Verwirbelungen und Unterwasserströmungen an Händen und Füßen dozierte. Oder wenn er stundenlang am Becken die Schwimmerinnen und Schwimmer mit größter Passion auf kleinste technische Fehler aufmerksam machte.2 Wir waren zwar kein einziges Mal während des Sportstudiums im Rhein oder in einem See schwimmen, doch Gunther Frank gab mir ein grundlegendes Vertrauen, meinen Weg zu gehen. Dass dieser Weg sich in den Expeditionen in Graubünden, der Schweiz oder im Rhein später zeigen sollte (vom Rhein meinte er, soll ich die Finger lassen), wusste ich damals noch nicht. Ohne meinen Freund Gunther und seine Kunst, das Wasser zu lesen, hätte es »Das blaue Wunder« nie gegeben.
Jahre später, als Gunther vor der Pension stand, hat er mich gefragt, ob ich sein Nachfolger an der Universität werden möchte. Ich habe lange überlegt und dann »Nein« gesagt. Ich sah mein Leben nicht als Schwimmdozent am Rand eines Schwimmbeckens eines uniformen Umfeldes.
Kein blaues Blut, aber ein »Blaues Wunder«
Was mir – trotz den Worten meines Vaters – lange fehlte, war der Mut loszulassen, um endlich meinen Weg zu gehen. Es ist nicht einfach, einen eigenen Weg zu gehen, wenn man in kleinen gesellschaftlichen Strukturen aufgewachsen ist. Das Unterengadin ist schön, aber auch schön eng. Die Menschen helfen sich gegenseitig und kontrollieren sich gegenseitig. Der Lebensfluss ist oft vorbestimmt. Vielleicht ist dies inzwischen anders geworden. Ich habe vor dreißig Jahren Ardez verlassen. Doch in meiner Erinnerung kommt auch ein Gefühl von Enge auf, wenn ich an die Zeit am Fluss Inn denke. Gerade meine romanische Muttersprache, deren Klang ich liebe, kennzeichnet die damalige Situation. Romanisch ist für mich auch ein Synonym für Bewahren oder Beschützen. Dieses für mich teils rückwärtsgerichtete Denken einer Minderheit, die sich immer wieder um das Verwalten der Kultur und Traditionen kümmert, lässt kaum Raum für neue Lebensentwürfe und deren Umsetzung. Es kam mir vor wie ein Leben im Einmachglas.
Symptomatisch war für mich eine Begegnung mit einem Unterengadiner Künstler. Weltbekannt, weltweit gereist, Immobilien auf verschiedenen Kontinenten, ein Kosmopolit. Im Gespräch fragte er mich vor ein paar Jahren: »Nu mancan a Tai ils larschs jelgs? Il tschêl blau da l’Engiadina Bassa?« Nein, antwortete ich, mir fehlen die gelben Engadiner Lärchen und ihr Kontrast mit dem blauen Himmel nicht. »Perche, am vess quai da mancar?« – »Warum sollte ich es vermissen?« Der Künstler konnte nicht verstehen, dass ich im Unterengadin aufgewachsen war und mir die Farben und Düfte nicht fehlen würden. Ich erwiderte, dass für mich die Lärchen in Davos oder der blaue Himmel in Lenzerheide die gleichen seien. Dieses Lokalkolorit, dieses Kategorisieren, dieses sich über andere Stellen gefällt mir nicht. Vielmehr liebe ich alle gelben Lärchen, den ganzen blauen Himmel und dies auch im Engadin, wie anderswo. Der Künstler verstand mich nicht.
Vielleicht bin ich kein »echter« Engadiner, denn durch meine Adern fließt nicht Blut mit dem »Gelb« und dem »Blau«, das man nur spürt, wenn man seit Jahrhunderten am Inn lebt. In mir fließt das Blut der Bromeis seitens meines Vaters und der Hateckes seitens meiner Mutter. Es waren deutsche Familien, die im Laufe ihrer Geschichte auswanderten, die unterwegs waren und sich niederlassen konnten, ohne immer wehmütig an das zu denken, was sie zurückgelassen hatten. Aus diesem patriotischen und selbstverliebten Universum wollte ich fliehen. Aus dieser Enge musste ich raus. Und dieses »Raus« zeigte sich mit großer Energie und mit Aggression. Die Aggressionen waren aber nie gegen außen, gegen die Einheimischen gerichtet. Ich respektiere das Dorfleben und die Gemeinschaften in Ardez, Bos-cha oder Guarda. Die Aggressionen waren gegen mich gerichtet, gegen innen. Die Gefühle waren nicht zu ertragen, und so versuchte und versuche ich die aufgestauten Aggressionen in positive Schaffensenergie umzuwandeln.
Vom »Blauen Wunder« war ich aber noch seemeilenweit entfernt. Nach dem Sportstudium und der Trainerausbildung und Trainertätigkeit konnte ich als Quereinsteiger im Tourismus beginnen. Mit der Arbeit als Sport- und Eventmanager der Destination Lenzerheide kehrte ich dem Rheinlauf folgend wieder nach Graubünden zurück. Die Zeit im Tourismus war geprägt von neuen Berufserfahrungen mit der Privatwirtschaft, und vor allem entdeckte ich die Welt der Kommunikation. Als Tourismusdestination gehört es zum Kerngeschäft, zu kommunizieren und sich im Markt zu positionieren. In dieser Zeit durfte ich bei der Kommunikation und Positionierung der Bike- und Langlaufdestination, aber auch bei der Führung von Sportveranstaltungen mitgestalten und vieles lernen und entdecken. Als Quintessenz dieser Jahre habe ich für mich notiert: »Die Welt dreht sich alleine, alles weitere ist Kommunikation!«
Nach einigen Jahren suchte ich eine neue Herausforderung, und fand sie in den Medien. Ich hätte auch auf Mandatsbasis für Swiss Olympic einen Job auf national tätiger Ebene annehmen können, doch entschied ich mich weiterhin für die Umgebung von Chur, weil Cornelia und ich geheiratet hatten und die Kinder unser Leben mitprägten.
Es folgte die kurze berufliche Zwischenetappe bei Radio e Televisiun Rumantscha RTR. Die Zeit als Radioredaktor sollte einschneidend sein. Einerseits bemerkte ich, dass ich lieber selbst aktiv das Geschehen mitpräge und agiere, anstatt als Journalist darüber zu berichten. Andererseits war ich an der Quelle verschiedenster Nachrichtengefäße: von der Romanischen Nachrichtenagentur ANR über die Schweizerische Depeschenagentur SDA bis zu den internationalen Nachrichtenagenturen. Und ich stellte in meiner Arbeit etwas Grundlegendes fest: Das Thema Wasser mit seinen globalen und lokalen Herausforderungen wird medial immer mehr zum virulenten Thema. Ich wollte mich aktiv in die Diskussionen um Gletscherschmelze, Wasserknappheit und Klimawandel einbringen. Nicht als Journalist, sondern als »Macher«.
All diese Jahre in der Sportwelt, im Tourismus und in den Medien waren meine Lehrjahre. Bis im Herbst 2005 war mir nicht klar, wohin mein Weg führen wird. Die Jahre waren geprägt von innerer Unruhe. Es brodelte in mir. Für mich war schon immer klar, dass ich etwas Eigenes kreieren wollte: ein Projekt, an dem ich vielleicht ein Leben lang arbeiten und Erfüllung finden konnte; eine Vision, für die es sich zu leben lohnt. Dieser Anspruch, eine eigene Handschrift und auch Identität zu finden, ist eine Besessenheit. Es ist die Besessenheit des Künstlers oder der Künstlerin, die Kreativität bis zur Schmerzgrenze auszuleben. Leute, die mich aus den Medien kennen, sehen wohl einen Schwimmer, der versucht, von A nach B zu schwimmen, und dazwischen den Wasserbotschafter »spielt«. Für mich sind die Projekte, ob zu Wasser oder zu Land, Kunstinstallationen oder Performances. Sie sind im Augenblick Fragmente, die sich erst mit dem Ende meiner Lebenszeit hoffentlich zu einem Ganzen ordnen. Sodass »Das blaue Wunder« als gesamtes Kunstwerk wahrgenommen werden kann.
Prägend auf meinem Weg war eine Buchsequenz der Abenteuerlegende Reinhold Messner. Messner erwähnt im Zusammenhang mit einer Arktis-Expedition, dass er nicht schwimmen kann.3 Diese kleine Randnotiz wurde für mich zum Schlüssel der Quelle meiner Projekte. »Eu noud intuorn il muond!« – »Ich schwimme um die Welt!«, war mein erster Gedanke. Das ist es! So trete ich aus dem