Hans Rudolf Herren

rüffer&rub visionär / So ernähren wir die Welt


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die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auftut – auf internationaler wie auch auf nationaler Ebene. Was wiederum das Hungerproblem perpetuiert – ein Teufelskreis. Um ihm zu entkommen, sind reduktionistische Lösungen, wie sie die industrielle Landwirtschaft anbietet, untauglich, ja kontraproduktiv. Es braucht ganzheitliche Ansätze zur Bekämpfung der Armut, durch eine auf dieses Ziel ausgerichtete Entwicklungs-, Handels-, Sozial- und Steuerpolitik, und dies sowohl auf internationaler Ebene wie in den einzelnen Ländern. Ein nachhaltiges Ernährungssystem, wie es mir vorschwebt, kann dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.

       2. Bedrohte Ressourcen

       Agrarland degradiert

      Bis 2050 wird die Weltbevölkerung von gegenwärtig rund 7,433 auf über 9 Milliarden anwachsen. Das größte Wachstum ist in Afrika südlich der Sahara zu erwarten, der am stärksten vom Hunger betroffenen Weltregion. Hier wird sich die Zahl der Menschen ungefähr verdoppeln.34 Derweilen schrumpfen die Ressourcen der Landwirtschaft. Derzeit stehen für sie weltweit etwa 5 Milliarden Hektar Land zur Verfügung: 1,5 Milliarden Hektar Ackerland und Dauerkulturen sowie 3,5 Milliarden Hektar Gras- und Weideland.35

      Eine Ausdehnung der Agrarfläche ist nur noch begrenzt möglich und geht zulasten von Wald- und Feuchtgebieten. Weltweit erfolgen 60% der Waldrodungen durch die Landwirtschaft.36 Von den heute genutzten Agrarflächen sind ein Drittel durch Erosion, Versalzung, Verdichtung, Versauerung und Schadstoffbelastung mehr oder weniger stark degradiert.37 Jedes Jahr gehen 10 Millionen Hektar wegen unangepasster Nutzung durch Erosion verloren.38 Das ist fast zehnmal mehr als die landwirtschaftliche Nutzfläche der Schweiz. Und auch in den Entwicklungsländern verschlingen die wachsenden Siedlungen immer mehr Agrarland. Hier wie dort werden vielfach die besten Landwirtschaftsböden überbaut.

       Land Grabbing

      Der Kampf um die knappe Ressource »Boden« ist bereits im Gang. Reiche Ölstaaten, Schwellenländer wie China und Südkorea, zunehmend aber auch Finanzfonds aus dem Norden kaufen Land in Entwicklungsländern oder pachten es langfristig. Die auf dieses Thema spezialisierte Nichtregierungsorganisation Grain listete im Oktober 2009 bereits 140 Hedge Fonds, Private Equity Groups und andere Finanzagenturen auf, die solche Investitionen tätigen.39 Auf riesigen Flächen werden in Monokulturen Nahrungs- und Futtermittel oder Agrotreibstoffe für den Export angebaut – auch in Ländern, in denen Teile der Bevölkerung an Unterernährung leiden. Gemäß Schätzungen der Weltbank hat beispielsweise der Sudan zwischen 2004 und 2009 annähernd 4 Millionen Hektar Land – ungefähr die Landesfläche der Schweiz – an ausländische Investoren verpachtet oder verkauft.40 Die Organisation Landmatrix registriert sämtliche Landkauf- und Pachtgeschäfte. Ihr zufolge umfassen diese derzeit weltweit mehr als 44 Millionen Hektar.41

       Wassermangel

      Rund 20% der Ackerflächen der Welt werden heute bewässert. Auf ihnen gedeihen 40% aller Nahrungsmittel.42 Enorme Investitionen in Bewässerungsanlagen waren ab 1950 ein wichtiger Faktor der Ertragssteigerung. Bis 1990 hat sich die bewässerte Landfläche nahezu verdreifacht. Zurzeit gehen 70% des globalen Süßwasserverbrauchs auf das Konto der Landwirtschaft.43

      Wasser wird zunehmend eine knappe Ressource der Nahrungsmittelproduktion. 1,6 Milliarden Menschen leben in Gebieten, in denen Wasserknappheit herrscht.44 In verschiedenen Regionen Asiens und Afrikas ist die Übernutzung der Wasservorkommen zum Problem geworden, die Grundwasserspiegel sinken rapid. Alarmierende Ausmaße angenommen hat der Wassermangel auch in den industriellen Getreideanbaugebieten des Mittleren Westens in den USA.45

       Schwindende Biodiversität

      Brüchig geworden ist auch die biologische Basis für unsere Ernährung. Mehr als 10 000 Nahrungspflanzen hat die Menschheit über die Jahrtausende hinweg genutzt, heute sind es lediglich noch um die 150, und die wenigen noch angebauten Nahrungspflanzen gleichen sich immer mehr. 12 Arten steuern 80% zur pflanzlichen Nahrungsmittelproduktion bei.46

      Der enorme Sortenreichtum, den die Bäuerinnen und Bauern durch Anbau und Zucht unter unterschiedlichsten Bedingungen hervorgebracht haben, schrumpfte parallel zum Siegeszug weniger weltweit verwendeter Hochertragssorten. Allein die Kartoffel, das viertwichtigste Grundnahrungsmittel, könnte in Zukunft eine viel größere Rolle bei der Bekämpfung des Hungers in der Welt spielen. Schon vor 8000 Jahren wurde die Kartoffel von den Ureinwohnern Südamerikas in den peruanisch-bolivianischen Anden um den Titicacasee in Höhen bis zu 4300 m kultiviert. Neben den Wildarten sind in Süd-und Mittelamerika mehr als 3000 traditionelle Kartoffelsorten bekannt,47 die unbedingt geschützt werden müssen, denn: Schätzungsweise 75% aller Nutzpflanzensorten sind bereits von den Äckern der Erde verschwunden.48

      Ebenfalls rasant schrumpft die biologische Basis der Tierhaltung. Seit 1900 sind weltweit rund 1000 Nutztierrassen für immer verschwunden49 – darunter beispielsweise die Frutiger Kuh, die Freiburger Kuh, das Frutiger Schaf oder das Galloway Pony. Gemäß Angaben der Welternährungsorganisation FAO sind weltweit 1458 Nutztierrassen wie das brasilianische Pantanerio-Rind oder das ungarische Mangalica-Schwein, auch Wollschwein genannt, vom Aussterben bedroht, das sind etwa 17% aller Nutztierrassen.50 Ursache der Entwicklung sind wahllose Kreuzungen, der Einsatz nicht heimischer Tierarten, der Rückgang traditioneller Produktionsformen sowie die Vernachlässigung von Rassen, die nicht als leistungsfähig genug gelten. Wo nur noch auf maximale Produktion gesetzt wird, gehen wertvolle Merkmale verloren – wie zum Beispiel die Eigenschaft, Hitze oder Kälte zu ertragen, mit wenig Wasser oder minderwertigem Futter auszukommen.

      Die Ernährungssicherheit hängt aber nicht allein von den Nutzpflanzen und -tieren ab. Um in die Kulturpflanzen neue Eigenschaften einzukreuzen, greift die Zucht auch auf deren wilde Verwandte zurück. Das tat man zum Beispiel bei der Hirse. Ein Krankheitserreger namens Gerstengelbverzwergungsvirus kann bei ihr massive Schäden anrichten. Bekämpfen lässt es sich nur durch rechtzeitiges Abtöten der Überträger mit Insektiziden. Das könnte sich bald ändern. Züchtungsforscher haben in der wildlebenden Gerstenart (Hordeum bulbosum), die im Mittelmeerraum und in Mittelasien verbreitet ist, ein Resistenz-Gen gegen das Virus gefunden. Dieses wurde durch Einkreuzung in die Kulturgerste Hordeum vulgare übertragen. Das Ergebnis ist eine neue Sorte, die dem Krankheitserreger Paroli bietet.51

      Hordeum bulbosum ist eine CWR. Die Abkürzung steht für »crop wild relative«, wie im Fachjargon Wildpflanzen heißen, die mit Kulturpflanzen nahe genug verwandt sind, um mit ihnen Gene austauschen zu können. Sie besitzen damit ein hohes Potenzial für die Zucht neuer Sorten.

      Es gibt mehr CWRs, als man denkt. 83% der Schweizer Flora können als solche bezeichnet werden, ergab eine Studie. 143 Arten wurden aufgrund ihres Nutzungspotenzials auf eine prioritäre CWR-Liste gesetzt.52

      Das Genreservoir erodiert. Derzeit sterben jährlich 10 000 bis 25 000 Tier- und Pflanzenarten aus.53 Dass Arten verschwinden, gehört zum Lauf der Evolution, doch die derzeitige Aussterbensrate ist etwa tausendmal höher als die natürliche.54

      Die Landwirtschaft ist direkt oder indirekt – über die Zerstörung der Wälder – einer der wichtigsten Faktoren der Biodiversitätskrise.

      Eine vielfältige Tierwelt ist auch eine Versicherung gegen Schädlingsprobleme. Schädlinge haben natürliche Gegenspieler – räuberische Insekten oder solche, die sie parasitieren. Doch der Artenschwund betrifft Nützlinge ebenso wie Schädlinge. 35% der weltweit angebauten Nahrungspflanzen sind abhängig von bestäubenden Insekten.55 Mehr als 100 000 Arten tun ihre Dienste als Erntehelfer in der Landwirtschaft. Ob sie diese Dienstleistung auch in Zukunft werden erbringen können, ist unsicher. Schwindende Lebensräume und sinkende Kulturvielfalt sowie Pestizide schwächen ihre Populationen.

       Pestizide in der Umwelt

      Neuere Studien zeigen, dass auf Feldern, auf denen Insektizide aus der Klasse der Neonicotinoide versprüht werden, 11 bis 24% der Pollen und 17 bis 65% des Nektars mit Rückständen dieses Insektengifts kontaminiert sind.56 Diese Stoffe gefährden das Überleben der Bestäuber massiv.

      Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine britische Studie: Daten zur