Joachim Ackva

rüffer&rub visionär / Ein Konto für die ganze Welt


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Thronfolger Österreichs – Vorwand für den Ersten Weltkrieg. 1933: Der deutsche Reichstag brennt, angeblich angezündet von einem jungen Mann. Vorwand für die Aufhebung der Grundrechte aller Deutschen. 1939: Fingierte Schüsse auf deutsche Zollstationen und vorgetäuschter Überfall auf einen deutschen Radiosender an der polnischen Grenze. Vorwand für den Überfall auf Polen. Interessante Notizen dazu hinterließ der amerikanische Gerichtspsychologe Gustave Gilbert in seinem »Nürnberger Tagebuch«.17 Er begutachtete die angeklagten NS-Funktionäre und führte intensive Gespräche, unter anderem mit Hermann Göring, dem Zweiten Mann im Staat und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe. Auf Gilberts Frage, ob das Volk dankbar für Führer ist, die ihm Krieg und Zerstörung bescheren, antwortete Göring achselzuckend: »Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. Warum sollte irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt. Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Russland noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt.«

      »Nur mit einem Unterschied«, entgegnete Gilbert, »in einer Demokratie hat das Volk durch seine gewählten Volksvertreter ein Wort mitzureden, und in den Vereinigten Staaten kann nur der Kongress einen Krieg erklären.«

      »Oh, das ist alles schön und gut, aber das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.«

      Ihr aktuelles Funktionieren beeindruckt: Seit zehn Jahren zieht sich die Zivilgesellschaft kontinuierlich zurück. Im Jahr 2015 beispielsweise gewannen 43 Länder an bürgerlichen Freiheiten, während 72 auf der Verliererseite standen.18 Meinungsfreiheit und Journalismus bekommen das besonders zu spüren. Inzwischen verfügen noch 13 % der Weltbevölkerung über eine freie Presse.19 »Die Pressefreiheit ist weltweit unter Druck, ganz klar«, sagt Christian Mihr, Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation »Reporter ohne Grenzen«.20 Der autoritäre Welt-Trend steuert auf die These zu: Wer die globale Aufgabe verschläft, erwacht in Unfreiheit.

      UN-Generalsekretär Ban Ki-moon schildert 2014 die Aufgabe aus Sicht der UN:21 »Mit unserer globalisierten Wirtschaft und unserer ausgereiften Technik können wir beschließen, die uralten Übel von extremer Armut und Hunger zu beenden. Oder wir können unseren Planeten weiter herunterwirtschaften und unerträglichen Ungleichheiten erlauben, Bitterkeit und Verzweiflung zu säen. Unser Ziel ist, die nachhaltige Entwicklung für alle zu erreichen. […] Im großen Reichtum für einige erleben wir allgegenwärtige Armut, krasse Ungleichheiten, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Entbehrung für Milliarden. Die Vertreibung ist auf dem höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Bewaffnete Konflikte, Kriminalität, Terrorismus, Verfolgung, Korruption, Straflosigkeit und die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit sind tägliche Realität. Die Auswirkungen der globalen Wirtschafts-, Nahrungsmittel- und Energiekrisen sind immer noch zu spüren. Die Folgen des Klimawandels haben gerade erst begonnen. Diese Mängel und Unzulänglichkeiten haben ebenso viel getan, um die moderne Zeit zu beschreiben, wie unsere Fortschritte in Wissenschaft, Technik und die Mobilisierung von globalen sozialen Bewegungen. […] Die heutige Welt ist eine Welt in Unruhe, in Aufruhr und Turbulenzen, ohne Mangel an schmerzhaften politischen Umwälzungen. Gesellschaften stehen unter ernsthaftem Druck, resultierend aus der Erosion unserer gemeinsamen Werte, aus dem Klimawandel und der wachsenden Ungleichheit, aus Migrationsdruck und grenzüberschreitenden Pandemien. […] Art und Umfang dieser gewaltigen Reihe von enormen Herausforderungen lassen sowohl Untätigkeit als auch Business-as-usual als Optionen nicht infrage kommen. Wenn die Weltgemeinschaft keine nationale und internationale Führungsrolle im Dienst unserer Völker ausübt, riskieren wir eine weitere Fragmentierung, Straflosigkeit und Unruhe, gefährden sowohl den Planeten als auch eine Zukunft in Frieden, die nachhaltige Entwicklung und Achtung der Menschenrechte. Einfach ausgedrückt, ist diese Generation in der Pflicht, unsere Gesellschaften zu verwandeln.«

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      Mehrere Jahre arbeitete der UN-Dienst an einer Voraussetzung für die Verwandlung. Unter seinem Dach verhandelten die Vertreter verschiedenster Länder gemeinsame, globale Ziele. Begleitet wurden diese Beratungen u.a. von großen Bürgerbefragungen wie »The World We Want 2015« und »MyWorld2015« sowie den Empfehlungen eines Ausschusses bedeutender Persönlichkeiten. Für die holländische Online-Zeitung »De Correspondent« schilderte die Journalistin Maite Vermeulen Szenen aus den Beratungen inklusive auf den Tisch krachender Fäuste und umkippender Stühle.22

      Das Thema »Maßnahmen gegen den Klimawandel« lehnte ein starker Block von Nationen als Ziel ab. In der letzten öffentlichen Tagung wurden der zuständigen Versammlung drei Klima-Entwürfe vorgelegt, doch sie blieben ohne Mehrheit. Der Vorsitzende Csaba Kőrösi aus Ungarn ergriff das Wort. Er berichtete den Teilnehmern von seiner 16-jährigen Tochter Lili: »Als ich ihr erzählte, dass viele Länder kein Klima-Ziel haben wollen, meinte sie sehr direkt: Papa, du bist verrückt. Sage den Leuten, dass sie kein Recht haben, meine Zukunft zu riskieren. Wenn es kein Klima-Ziel gibt, kann man genauso gut keine Ziele machen.« Es wurde still im Saal. Und dann fing der Applaus an.

      Am selben Abend gab es ein Klima-Ziel – auf dem Papier. Um Ziel für Ziel wurde zäh gerungen, das Gesamtergebnis bekam den Namen »Globale Ziele für Nachhaltige Entwicklung« – Global Goals for Sustainable Development. Am 25. September 2015 wurden sie einer Gipfelkonferenz der UN in New York vorgelegt. Mehr führende Politiker als je zuvor kamen aus aller Welt zu dieser UN-Vollversammlung: über 150 Staats- und Regierungschefs und viele Minister. »Wir verpflichten uns, auf dieser großen gemeinsamen Reise, die wir heute antreten, niemanden zurückzulassen«, lautete die zentrale Botschaft.23 Der rechtlich unverbindliche Zielkatalog wurde einstimmig angenommen. Er umfasst 17 global gültige Ziele mit 169 Unterzielen, von denen viele bis zum Jahr 2030 erreicht sein sollen.24 Hier die Kurzform:

      1 Weltweite Beendigung der Armut in all ihren Formen

      2 Beendigung von Hunger und Hungertod

      3 Gesundheit und Förderung des Wohlbefindens aller Altersgruppen

      4 Hochwertige Bildung und lebenslange Lernchancen für alle

      5 Gleichberechtigung der Geschlechter durch Stärkung von Frauen und Mädchen

      6 Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen für alle

      7 Erschwingliche, zuverlässige, nachhaltige und moderne Energie für alle

      8 Inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, menschenwürdige Beschäftigung für alle

      9 Ausbau von Infrastruktur, nachhaltiger Industrialisierung und Innovation

      10 Reduzieren der Ungleichheit in und zwischen Ländern

      11 Schaffung inklusiver, sicherer und nachhaltiger Städte

      12 Nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen

      13 Dringende Maßnahmen fürKlimastabilität

      14 Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Meeresressourcen

      15 Nachhaltige Waldwirtschaft, Stopp von Wüstenbildung, Landdegradierung und des Verlusts an biologischer Vielfalt

      16 Gerechte, friedliche und inklusive Gesellschaften, Justizzugang für alle, Aufbau effektiver, verantwortlicher Institutionen auf allen Ebenen

      17 Wiederbelebung globaler Partnerschaft, um Ziele zu erreichen

      Auf dem Podium des Weltgipfels sang Shakira in einem blütenweißen Kleid John Lennons »Imagine«: »You may say I’m a dreamer, but I’m not the only one. I hope someday you’ll join us and the world will be as one.« Sie ergänzte: »Jetzt ist es Zeit, sich nicht nur etwas auszumalen, sondern zu handeln!« UN-Generalsekretär Ban Ki-moon trat an das Rednerpult