Wir (er)denken keine Gedanken. Gedanken tauchen spontan aus der reinen Bewusstheit auf. Das Ego bringt keine Gedanken hervor, doch es rechnet sich das ganze Denken als Verdienst an. Ein Gedanke taucht ohne großes Trara auf der Bildfläche auf. Er entsteht aus der Stille und bewegt sich mühelos in den ruhigen Tiefen des Geistes. Wenn wir uns eines Gedankens bei seinem Entstehen bewusst werden, dann schätzen wir ihn als eine Schöpfung der reinen Bewusstheit. Ist unser Bewusstsein hingegen im Außen verankert und richtet sich auf den Wirrwarr des Lebens rein durch die Sinne, dann entgeht ihm das Entstehen dieses zarten Lebensfunkens. Solch ein unbewusster Geist schnappt einen Gedanken weit entfernt von der Stille auf, die ihm das Leben schenkte. Wenn sich dieser Geist der Gedanken bewusst ist, dann schätzt er nur ihre aktive und aufgeregt-bewegte Form. Dieser Geist strebt ständig danach, seine Wünsche zu kontrollieren, die an ein Wespennest erinnern, und findet nie Ruhe. Ein vertrauensvoller und ruhiger Geist, der vollkommen im Frieden ist mit seiner Rolle als Beobachter der Schöpfung, nimmt einen Gedanken bei seinem Entstehen wahr.
Je weiter entfernt von seinem Entstehen ein Gedanke wahrgenommen wird, desto schwächer und verzerrter wird er und desto mehr Schwierigkeiten begegnet er. Jeder fahrige Gedanke ermuntert uns, nein, fleht uns an, uns nach innen zu wenden und uns der Autonomie der Gedanken an ihrem Ausgangspunkt bewusst zu werden. In dieser Hinsicht waren wir bequem und das hat uns ganz schön in die Bredouille gebracht. Man braucht sich nur derzeit in der Welt umzusehen, um zu erkennen, dass wir nicht annähernd unser Potenzial leben. Die Symptome einer egozentrischen Lebensweise sind überwältigend und werden uns am Ende erdrücken. Unsere einzige Rettung besteht – wie immer schon – darin, die Auffassung, wir seien die Urheber unserer Gedanken, hinter uns zu lassen. Damit überlassen wir die Bürde des Denkens und alles, was damit zusammenhängt, der reinen Bewusstheit.
Ich weiß, die Vorstellung, das eigene Denken nicht kontrollieren bzw. steuern zu können, ist ziemlich schwer zu akzeptieren, doch sobald Sie Ihre gegenteilige Überzeugung loslassen, werden Sie erleben, dass Ihnen eine große Last von den Schultern genommen ist. Diese Möglichkeit möchte ich mit Ihnen noch ein wenig eingehender betrachten. Ich möchte gern, dass Sie selbst erkennen, wie wunderbar einfach sich das Leben jenseits von Anstrengung und Kontrolle gestalten kann. Die meisten von uns haben das Gefühl, sie hätten die Kontrolle über ihr Denken. Das heißt: sie könnten ihre Gedanken wählen und nach Belieben lenken. Das ist eine gewaltige Illusion, die das Ego leichter aufrechterhält, indem es allein die Menge der Gedanken anschaut und sagt: „Das sind alles meine. Ich brauche es nicht zu beweisen, denn alle wissen, dass das so ist.“ Aber falls Sie tatsächlich Herr über alle Ihre Gedanken wären, dann sollten Sie jeden einzelnen, einfachen Gedanken kontrollieren können, oder nicht? Schauen wir mal.
Wo immer Sie sich in diesem Moment aufhalten, denken Sie eine Minute lang nur einen Gedanken. Genau, schalten Sie eine ganze Minute lang alle anderen Gedanken aus, außer diesem einen, den Sie sich ausgesucht haben. Denken Sie beispielsweise den Gedanken „Baum“ 60 Sekunden lang … Konnten Sie diesen einen Gedanken mühelos eine Minute lang in Ihrem Bewusstsein halten, ohne dass es abschweifte? Wahrscheinlich konnten Sie das nicht, ohne dass sich nach ein paar Sekunden ein anderer Gedanke einschlich. Es kostet viel Mühe, sich gegen den natürlichen Gedankenstrom aus dem reinen Gewahrsein zu stemmen. Und ist Ihnen aufgefallen, wie leicht andere Gedanken in Ihr Alltagsbewusstsein schlüpften? In diesem Fall ist der Kampf um den einen Gedanken ein Zeichen dafür, dass Sie sozusagen flussaufwärts gegen den natürlichen Strom des Lebens schwimmen. Doch man hat uns etwas anderes beigebracht. Woher wissen wir, wann wir „im Flow“ sind (also: mit dem Strom schwimmen) und wann wir Disharmonie erzeugen? Diese Frage wollen wir uns nun ein wenig genauer anschauen.
Fangen wir ganz von Anfang an: Wir können nicht kontrollieren, wer wir sind. Wir konnten nicht kontrollieren, wer unsere Eltern waren, und genauso wenig, welcher Same unseres Vaters welches Ei unserer Mutter befruchtete. Haben wir den Aufbau unseres Körpers überwacht, als sich das Wunder – wir – Zelle für Zelle entwickelte? Konnten wir uns bei unserer Geburt die Kräfte in unserem Umfeld aussuchen, die körperliche und emotionale „Atmosphäre“, die Nahrung, die wir dann bekamen, unsere Geschwister und all das, was das neugeborene „Ich“ prägte? Wir waren unserer genetischen Verdrahtung ziemlich ausgeliefert und ebenso den einzigartigen Kräften in unserem Umfeld, die uns zu dem Menschen geformt haben, der wir heute sind.
Aus einem umfassenderen Blickwinkel erkennen wir, dass wir reflexartig reagieren. Selbst unsere momentanen Gedanken sind Reaktionen auf vorangegangene Gedanken, Umstände und Reize. Indem wir über die Lösung eines komplexen Problems sinnieren, reagieren wir auch nur auf einen früheren Gedankengang mit einem anderen Gedanken. Wie wir reagieren, das hängt völlig von unserer genetischen Disposition und der Prägung durch unsere Umgebung ab. Wenn ich genau die gleichen Gene und die gleiche Umweltstruktur hätte wie Sie, dann wäre ich Sie. Ich hätte gar keine andere Wahl. Wenn ich in jeder Hinsicht wie Sie wäre, dann müsste ich wie Sie handeln und reagieren. Wo käme dann meine Wahl, anders zu sein, zum Tragen? Sie sehen, wir können gar nicht so steuern und kontrollieren, wie wir das glaubten. Kontrolle ist eine großartige Illusion, die das Ego stärkt und uns weiterhin an Ursache und Wirkung, an das „Rad des Karma“, gekettet hält.
Karl Renz drückt es in seinem Buch Das Buch Karl – Erleuchtung und andere Irrtümer (S. 51) so aus: „Sieh einfach, dass es immer von allein gegangen ist. Es hat immer von selbst funktioniert und brauchte deine Entscheidung nicht. Die Angst davor, dass es ohne deine Entscheidung nicht weiterginge, ist nur eine Idee.“ Er fährt fort: „Nichts liegt an dir. … Jede Idee ist eine spontane Idee. Jede scheinbare Entscheidung kommt aus dem Nichts. Aus dem Blauen, aus dem großen Jenseits.“
Betrachten wir es aus einer anderen Perspektive: Wann hat sich etwas genau so verwirklicht, wie Sie es geplant hatten? Ich sagte „genau“, nicht „grundsätzlich“. Natürlich können Sie sagen: „Ich wünschte mir ein neues Haus und nun habe ich es.“ Aber ich wette, dass Ihre konkreten Pläne auf dem Weg dahin ständig durchkreuzt wurden: unerwartete Rechnungen, Schwierigkeiten mit der Bank, unerwartete Erbschaft, Krankheit und so weiter … Ihr Leben funktioniert nie genau so, wie Sie es wollen; manchmal nicht so gut, zu anderen Zeiten viel besser.
Nehmen wir einmal an, Sie lernen einen neuen Menschen kennen, mit dem Sie Ihr Leben verbringen wollen. Auf der Grundlage dessen, was Sie diesem Menschen mitgeteilt und über ihn erfahren haben, haben Sie eine recht gute Vorstellung davon, wie sich Ihr gemeinsames Leben entwickeln wird, nicht wahr? Sie haben Pläne und Hoffnungen, wie sich Ihr Leben in den nächsten paar Monaten, Jahren und Jahrzehnten gestalten wird. Doch hat sich eine Beziehung jemals auch nur annähernd so entwickelt, wie Sie sich das gewünscht oder erwartet haben? Ich glaube nicht. Es ist doch so: Wenn Sie die holprige Fahrt etwas angenehmer, etwas weniger holprig gestalten wollen, dann lehnen Sie sich am besten zurück und lassen der Beziehung ihren Lauf.
Sogenanntes Micromanagement, Erbsenzählerei und Nörgeln verschlechtern eine Beziehung nur. Seltsamerweise bekommen wir das, was wir uns wünschen, indem wir loslassen. Anstrengung und Kontrolle sind unvereinbar mit Erfüllung und Frieden.
Worum geht es also? Welchen Wert hat es, das Ego herauszufordern und ein Konzept aufzustellen, das so seltsam ist, dass man schon lachen muss? Wenn wir erkennen und akzeptieren, dass wir unser Handeln und Denken sogar noch weniger kontrollieren können, dann entdecken wir, dass allmählich der Frieden unseren Geist in den Griff bekommt. Das letztendliche Ziel jedes Impulses, etwas zu kontrollieren, ist innerer Frieden. Wenn wir darum kämpfen, die Kontrolle zu behalten, schlagen wir nur weiterhin an der Oberfläche unseres Geistes wild um uns; dann gleichen wir einem Ertrinkenden, über den ein Meer aufeinandertreffender Kräfte hinwegschwappt. Wenn wir aber aufhören zu strampeln und loslassen, gehen wir paradoxerweise nicht unter. Richtig, wir sinken in die stillen Tiefen unseres meergleichen Geistes. In der reglosen Tiefe der völligen Stille finden wir zu unserem Erstaunen, dass alles von reinem Gewahrsein durchdrungen ist. Dort finden wir die vollkommene Harmonie, ohne auch nur den Ansatz einer Bemühung.
Nisargadatta Maharaj, einer meiner „Lieblingsheiligen“ des 20. Jahrhunderts, beschreibt in seinem Buch I am that, wie er von der Kontrolle loskam. Einem Suchenden, der sich an ihn wandte, weil er seinen inneren Konflikt beenden wollte, teilte er liebevoll mit: „Wenn der Geist im Körper verankert ist und das Alltagsbewusstsein