Lynn Blattmann

Sozialfirmen


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Weltkrieg sind in Europa die Sozialstaaten stark auf- und ausgebaut worden. Strukturelle Risiken der Armut wurden mit Sozialleistungen abgefedert; so wurden beispielsweise in den meisten europäischen Staaten für Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall und Invalidität staatliche Absicherungen geschaffen, die sich bislang als recht tragfähig erwiesen haben. Gut ausgebaute Wohlfahrts- und Sozialleistungen und ein vergleichsweise tiefes Einkommensgefälle zwischen Arm und Reich sind seither zum wichtigsten Merkmal der europäischen Länder geworden. Dies mag uns Europäerinnen und Europäern nicht immer als Vorteil erscheinen, denn die hohen Sozialleistungen, die mit hohen Sozialabgaben auf den Löhnen verbunden wurden, sind in den letzten Jahren oft verantwortlich gemacht worden für Firmenschließungen und Produktionsverlagerungen nach Osteuropa oder Asien, wo sowohl Lohnnebenkosten als auch Steuern deutlich tiefer liegen. Der Ruf nach mehr Deregulierung wurde lauter, und es schien, als ob die sozialen Abfederungen der Marktwirtschaft schuld wären an den globalisierungsbedingten Verschiebungen. Dabei ist der Umstand in Vergessenheit geraten, dass das europäische Modell der Sozialversicherungssysteme zwar bei Weitem nicht optimal ist, die soziale Absicherung jedoch eine Stärke Europas darstellt, an der es anzuknüpfen gilt. Soziale Sicherungssysteme sind nie perfekt. Sie müssen laufend den wechselnden gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden; und es ist wichtig, sie so auszugestalten, dass für Menschen, die an den Rand gedrängt werden, wieder Möglichkeiten und Handlungsperspektiven entstehen. Denn: Undurchlässige Systeme und starre Abgrenzungen zwischen Stellenbesitzenden und Arbeitslosen bergen nicht nur ein enormes politisches Konfliktpotential, sie blockieren auch die Innovationskraft und die Lebendigkeit einer Gesellschaft.

      Die Schweiz wird von der aktuellen Wirtschaftskrise in Folge der Subprime Crisis in den USA nach einer Phase mit einer Arbeitslosigkeit von unter 2% getroffen. Die Krise erschüttert auf der Arbeits- und Wohlstandsinsel Schweiz nicht nur den Konsumgütersektor, sondern trifft den bisherigen Kern der Prosperität, den Finanzdienstleistungssektor, empfindlich. Es zeigt sich, dass auch Stellen in der scheinbar so sicheren und bislang hochangesehenen Bankenwelt, die vorzügliche Karrieremöglichkeiten und höchste Löhne bot, plötzlich bedroht sind. Das Prekariat in Form einer ungewissen Arbeitsstelle ist auch in der Schweiz angekommen; Manager, Banken- und Versicherungsangestellte sind davon ebenso betroffen wie Hilfsarbeiter, Langzeiterwerbslose, Bauhandwerker oder allein erziehende Mütter. Es sieht so aus, als ob die Einkommenssicherung durch Vollbeschäftigung auch in der Schweiz, die tatsächlich Jahrzehnte der Vollbeschäftigung kannte, in Zukunft vollends aus dem Bereich des Möglichen fällt.

      Diese Entwicklung verunsichert auch die politisch Verantwortlichen: Es ist viel Ratlosigkeit und Aktivismus im Bereich der Arbeitsmarktpolitik zu spüren. Die Aufgeregtheit vermag jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es wenige zukunftstaugliche Modelle für die Arbeitsintegration gibt. Mehr vom Gleichen ist zu teuer und die Integrationswirkung des bisherigen Modellcocktails ist umstritten. Verschiedene Untersuchungen in Deutschland und in der Schweiz belegen, dass gutausgebildete jüngere Arbeitslose recht gute Chancen haben, wieder eine Stelle zu finden. Schwieriger ist die Situation für die Gruppe der kaum beruflich qualifizierten und der älteren Arbeitnehmer. Berufliche Qualifikation kann nur sehr schlecht nachgeholt werden; auch sehr teure Umschulungsprogramme oder Praktika zeigen oft nicht die gewünschte Wirkung.

      Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Rolle der Staat in der Arbeitsintegration spielen soll. Während linke und gewerkschaftliche Kreise in Deutschland Sozialpolitik in Form einer klassenkämpferischen Anspruchshaltung betreiben, die sich an der Idee eines grundsätzlich einklagbaren Rechts auf Arbeit beziehungsweise auf einen Arbeitsplatz orientiert, greifen konservative und liberale Politiker zu Begriffen wie mehr Eigenverantwortung, Anreizsysteme und Leistungsförderung. In der Schweiz werden die linken Positionen etwas weniger heftig vertreten, der Ton ist versöhnlicher, und Themen wie Arbeitsplatzgarantien und Kündigungsschutz werden nicht so vordringlich diskutiert wie in Deutschland. Dennoch wird auch in der schweizerischen Sozialpolitik versucht, mit den sozial- und wirtschaftspolitischen Konzepten des 20. Jahrhunderts politische Lösungen für das 21. Jahrhundert zu finden. Dies hat immer wieder zu unbefriedigenden politischen Entscheidungen geführt. So wurden etwa die Leistungen der Arbeitslosenversicherung etwas reduziert, oder die Verpflichtung, Beschäftigungsmaßnahmen für Sozialhilfebeziehende zu schaffen, in schweizweit gültige Richtlinien eingeschrieben. Diese Maßnahmen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass keine nachhaltigen Lösungen in Sicht sind für die anstehenden sozialpolitischen Probleme, die sich darin zeigen, dass alle Sozialversicherungen mit Überlastungen zu kämpfen haben, die ihre Finanzierung schon mittelfristig in Frage stellen.

      Eines steht fest: Wir können uns den Sozialstaat, wie er im 20. Jahrhundert angedacht war, nicht mehr länger leisten. Es stellt sich daher die drängende Frage, was für einen Sozialstaat wir in Zukunft wollen, welche Rolle die Bürger in diesem Sozialstaat spielen sollen, wie die Aufgaben zwischen den leistungsfähigeren und leistungsschwächeren Mitgliedern der Gesellschaft verteilt werden sollen und was mit der wachsenden Zahl von Menschen geschieht, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch eigene Arbeit in der freien Wirtschaft verdienen können, weil sie wahrscheinlich keine Stelle mehr finden.

      Die Schere: Vermehrung der arbeitsfreien Einkommensquellen für die einen, nichts als prekäre Arbeit für die anderen

      In allen EU-Ländern, wie auch in der Schweiz, sind die sozialen Sicherungssysteme immer noch eng an die Erwerbsarbeit geknüpft. Dies ungeachtet der Tatsache, dass eine steigende Zahl von Menschen in den letzten Jahren andere Einkommensquellen erschlossen hat. Diese kennen keine Sozialabgaben, oft sind sie sogar steuerfrei, denn die Chance wurde verpasst, die sozialen Sicherungssysteme breiter abzustützen. Es gab zwar in Europa einige Vorstöße, die versucht haben, Steuern auf diese Geldquellen zu erheben; die Sozialwerke finanzieren sich jedoch immer noch fast ausschließlich über Lohnprozente.

      In einer Art der Sozialpolitik vorauseilenden Anpassungsleistung haben viele Menschen ihre Einkommenssicherung diversifiziert. Heute droht ob der vielen Klagen über die Krise vergessen zu gehen, wie erfolgreich diese Strategien für viele Menschen waren. Der individuelle Versuch, das Erwerbseinkommen durch andere Einkommensquellen abzusichern oder aufzustocken, ist in den letzten Jahren zu einem eigentlichen Trend geworden. Am oberen Ende der Sozialskala ist diese Entwicklung ebenso deutlich ablesbar wie am unteren Ende. Im Finanzsektor, wo traditionell gut bis sehr gut verdient wird, sind die Löhne mit hohen Bonuszahlungen aufgestockt worden, was teilweise dazu führte, dass die Höhe des Einkommens nicht mehr mit einer Leistung zu korrelieren war. Dies führte zu grotesken Einkommensverzerrungen zwischen den Angestellten der kleinen und mittleren Unternehmen, die in vielen Ländern Europas die Wirtschaft prägen, und den Mitarbeitern von Finanzdienstleistungs- und anderen Großunternehmen. Diese Entwicklung hat gerade in wirtschaftsnahen Kreisen politische Gräben und Entfremdungen geschaffen, die noch zu wenig Beachtung gefunden haben.

      Eine zweite Quelle bildeten die hohen Einkommen aus Kapitalgewinnen; »Aktiensparen«, wie das Geldverdienen durch Börsenspekulation etwas irreführend genannt wird. Dieses erfreut sich gerade in höheren Einkommensklassen in den letzten Jahren immer größerer Beliebtheit. Hinzu kam eine dritte sprudelnde Geldquelle, die besonders in den oberen Einkommensschichten zu einem massiven Einkommens- und Vermögenszuwachs führte: die Erbschaften. Die Zahl derjenigen, die ihr Arbeitseinkommen mit beträchtlichen Erbschaften aufstocken konnten, ist in den letzen Jahren in den reicheren Ländern Europas markant gestiegen. Das Ausmaß und die Anzahl der Erbschaften sind in den europäischen Industrieländern seit den 1990er Jahren in eine bis dahin ungekannte Höhe geschnellt, zudem sind vorgezogene Erbschaften zum Normalfall geworden. Allein in der Schweiz wurden im Jahr 2000 35 Milliarden CHF (rund 23 Milliarden EUR9 ) vererbt, das sind rund zehnmal mehr als die Gesamtkosten für die Sozialhilfe.10

      Während in den oberen Einkommensligen Schwankungen der Zusatzeinkommen zum Risiko gehören und dank der hohen Erwerbseinkommen auch ausgesessen werden können, sind Menschen mit tieferem Erwerbseinkommen auf stabilere und kontinuierlichere Einkommen angewiesen. Außerdem können sie die Zusatzeinkommen der oberen Lohnklassen meist gar nicht nutzen. So gibt es meist nur wenige oder sehr kleine strikt gewinn- und somit konjunkturabhängige Boni für niedrige Einkommensstufen. Wer wenig verdient, hat statistisch eine weitaus geringere Chance auf eine Erbschaft als jemand, der gut verdient. Arbeitnehmende mit niedrigen