„Standardeinstellungen“
Wir alle haben in Bezug auf unsere Besonderheit eine Art „Standardeinstellung“, das heißt, eine Tendenz, die meiste Zeit über entweder in der Vorstellung einer depressiven oder in der Vorstellung einer großartigen Besonderheit zu verharren:
1. Derjenige Teil der Menschen, dessen „Sollwert“ eher in Richtung Überlegenheit geht und dessen Mitglieder manchmal als „Persönlichkeitstyp A“ bezeichnet werden, verfügt scheinbar über Stärke und Macht. Aber die Körper dieser Menschen sind offensichtlich nicht sehr glücklich, denn bei Mitgliedern dieser Gruppe treten statistisch gesehen häufiger Herzkrankheiten auf. Diese Menschen reiben sich auf, um ihre Überlegenheit immer wieder neu unter Beweis zu stellen. Sie können ihr Tempo nicht drosseln und wissen nicht, wie man zur Ruhe kommt. Sie sind stets in Aktion und brauchen das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Das Ziel, auf das sie vermeintlich zusteuern, entspricht in der Regel dem Idealbild des Erfolgs in Form von Macht und Reichtum. Dennoch ist dieses Ziel unwichtiger für sie als das, wovor sie unbewusst flüchten und was die andere Seite der Medaille darstellt: Minderwertigkeit. Der „Schatten“ des Menschen, der sich überlegen fühlt, ist sein verdecktes Minderwertigkeitsgefühl. Um dieses Gefühl zu vermeiden, treibt er sich gnadenlos voran; das führt häufig zu Burn-out oder anderen Erkrankungen.
2. Menschen, deren „Standardeinstellung“ eher in Richtung des depressiven Pols tendiert, wissen häufig nicht, wie man im Leben Stellung bezieht. Sie schwächen sich ständig selbst durch den Glauben an ihre eigenen Grenzen. Dahinter steckt der Versuch zu beweisen, dass sie in ihren Einschränkungen tatsächlich etwas Besonderes sind – stärker verletzt, bedürftiger, weniger wert. Aber auch hier gibt es einen Schatten, nämlich das Überlegenheitsgefühl, mit dem sie die Welt zu einem unsicheren oder unfairen Ort erklären. Menschen mit depressiver Besonderheit sind oft kritisch denjenigen gegenüber, die Aufmerksamkeit erhalten oder erfolgreich zu sein scheinen. Häufig glauben sie, das Leben schulde ihnen etwas. Ihr verborgenes Überle genheitsgefühl zeigt sich darin, dass sie meinen, man müsse sich um sie kümmern, oder in der Art und Weise, wie sie andere und sich selbst verurteilen und Schuldzuweisungen verteilen. Sie glauben, gefangen und hilflos zu sein, unfähig, ihr Leben zu ändern. Das Gefühl der Machtlosigkeit, das sich durch die Geschichten des Ego aufgebaut hat, ist eine der schlimmsten Formen von Belastung. (Es gibt allerdings auch ein Gefühl der Machtlosigkeit, das – im Gewahrsein empfunden – sehr wichtig für die geistige Gesundheit sein kann. Die Natur dieses komplexen Gefühls – und wie Sie damit umgehen können – wird in einem späteren Kapitel behandelt.)
Beide Arten von Besonderheit stellen eine Art von Ungleichgewicht dar, das Stress, Übermüdung und eingeschränkte Lebendigkeit zur Folge hat. Wenn Sie wirklich um Heilung bemüht sind, sollten Sie darauf achten, wann Ihr Ego Sie in Richtung der depressiven oder großartigen Besonderheit schiebt. So haben Sie die Möglichkeit, zum gegenwärtigen Moment zurückzukehren und aus Ihrem natürlichen Wesen heraus wieder von vorn zu beginnen – was sofort zu einem stärkeren Gleichgewicht führt.
Sie haben die Wahl – zwischen Ego und Gewahrsein
Das Ziel dieses Buches besteht darin, Ihnen die Wahl zu geben, ob Sie sich von Ihrem Ego steuern lassen oder sein Spiel durchschauen wollen. Es ist eine Wahl zwischen verstärktem Stress und Leiden (die das Gefühl der Besonderheit unvermeidlich mit sich bringt) einerseits und der Ganzheit des Seins andererseits, die sich einstellt, wenn Sie präsent sind und sich nicht dem widersetzen, was gerade passiert. Sobald Sie einmal verstanden haben, dass der einzige Zweck Ihres Ego darin besteht, dass Sie sich besonders fühlen, können Sie beginnen, sich aus seinem Griff zu befreien. In Kapitel 4 werden Sie eine wirkungsvolle Methode kennenlernen, die es Ihnen nicht nur ermöglicht, jederzeit ins Jetzt zurückzukehren, sondern die Sie gleichzeitig die vielen Muster, Reaktionen, Angewohnheiten und Strategien erkennen lässt, die Ihr Ego einsetzt, um Ihre Besonderheit immer wieder zu bestätigen. Sobald Sie ein wenig Abstand von diesem grundlegenden Ego-Muster gewonnen haben, werden Sie erkennen, wie ermüdend es ist, und Ihre Lebenskraft schnell wieder zurückgewinnen.
Jetzt werden Sie vielleicht sagen beziehungsweise denken, Sie seien doch gar nichts Besonderes und Sie sähen sich selbst auch nie in dieser Weise. Aber wenn Sie wachsam sind, werden Sie erkennen, wie subtil das Spiel der Besonderheit sein kann. Jedes Mal, wenn Sie feststellen, dass Sie sich in irgendeinem Punkt von anderen unterscheiden (ob Sie sich dessen voll bewusst sind oder nicht), sehen Sie sich selbst zwangsläufig als über- oder unterlegen. Das ist nichts anderes als Besonderheit. Jedes Mal, wenn Sie besondere Aufmerksamkeit erwarten, sich an der Supermarktkasse vordrängeln oder grundlos ärgerlich oder ungeduldig werden, sind Sie in ein Gefühl der Überlegenheit gerutscht. Ein guter Test dafür, für wie besonders Sie sich unterbewusst halten, ist es, wie Sie auf jemanden reagieren, der berühmt ist oder sehr reich, beispielsweise ein Filmstar oder der Vorstandsvorsitzende eines großen Konzerns: Wenn sich in Gegenwart solcher Menschen auch nur das Geringste an Ihrer Haltung ändert, dann ist dies Ihr Gefühl der Besonderheit, das sich rührt.
Wann immer Sie sich schuldig, unwichtig oder unwürdig fühlen oder glauben, die Bedürfnisse anderer hätten Vorrang vor Ihren eigenen, haben Sie sich für die depressive Besonderheit entschieden. Überlegenheitsgefühle können sich übrigens auch in Form von Gedanken wie diesen äußern: Meine Frau hat es nicht verdient, Krebs zu bekommen, sie ist so ein guter Mensch. Dahinter steckt die Idee, dass Krankheit eine Strafe ist und Gesundheit eine Belohnung. In Wirklichkeit ist es ein verstecktes Überlegenheitsgefühl: Sie selbst und alle, die Ihnen am Herzen liegen, verdienten es, von Krankheit frei zu sein. Solche Meinungen und viele andere, die Sie nach und nach erkennen werden, sind nichts anderes als Konstrukte, mit denen Sie sich unbewusst bestätigen, dass Sie als exklusives, eigenständiges Individuum existierten; Sie seien nicht einfach irgendwer – Sie seien jemand Besonderes.
In dem Maße, wie Sie das Spiel des Ego durchschauen, hört es auf, Sie zu dominieren, und Sie ruhen stärker in Ihrem höheren Gewahrsein. Dieses größere Selbst sieht beide Seiten Ihrer Besonderheit, also sowohl die Neigung, sich mit Aggressivität, Rechthaberei, Selbstgefälligkeit oder Ungeduld aufzublasen, als auch die Tendenz, in Opferdasein, Abwehrhaltung, Scham oder Hilflosigkeit zu versinken. Sobald Sie sich beider Tendenzen bewusst sind, stellen Sie fest, dass Sie mehr sind als das, und müssen sich mit keiner der beiden Seiten mehr identifizieren. Beim Entwickeln dieser Bewusstheit erwacht eine ganz neue Dimension Ihrer selbst und Sie beginnen, eine dezente Präsenz auszustrahlen.
Wenn Sie sich nicht wohlfühlen, dann sind daran meist viele Dinge beteiligt, die Sie nicht steuern können. Beim Beobachten Ihrer Gedanken und Ihres emotionalen Zustands werden Sie jedoch schnell erkennen, dass das Abrutschen in eine der beiden Formen der Besonderheit keineswegs dazu beiträgt, dass Sie innerlich im Frieden sind. Jeder wird irgendwann einmal krank. Wir alle erleben frustrierende Rückschläge und am Ende sterben wir alle. Aber wie alle anderen zu sein, das ist für das Ego nicht akzeptabel. Es braucht das Drama: „Oh nein! Warum ausgerechnet ich?“ Sofort werden Sie zum Opfer und verspüren Angst.
In dem Moment, in dem Sie diese Reaktion bewusst wahrnehmen, kann Ihnen klar werden, dass es realistischer, weniger belastend und vor allem weniger „besonders“ wäre zu sagen: „Warum nicht ich?“ Das Ego lässt Sie natürlich nicht so denken. „Warum nicht ich?“, das bedeutet aus Sicht des Ego nämlich, dass Sie nicht besonders genug sind – Ihr Leiden ist nicht einzigartig und Sie ragen folglich nicht aus der Masse heraus. Für das Ego ist dies gleichbedeutend mit Tod oder Nichtexistenz – etwas, was es um nahezu jeden Preis zu vermeiden gilt.
Wir alle wurden von Kindheit an durch den Glauben an unsere eigene Besonderheit geprägt. Deshalb ist dieses Gefühl auch nur mit Arbeit und mit viel Geduld zu überwinden. Doch sobald Sie lernen, Ihre Gedanken zu beobachten, wird Ihnen nach und nach bewusst, wo das Spiel der Besonderheit überall in Ihrem Leben auftaucht. Dann können Sie darüber lächeln, anstatt in Überlegenheits- oder Minderwertigkeitsgefühle abzudriften.
Sie können sich selbst belohnen – für Ihr Gewahrsein
Ob Sie gerade gewahr sind (oder doch eher in den Krallen des Ego stecken), merken Sie daran, dass Sie sich im ersten Fall nicht verurteilen, wenn Sie in eine