seine Arbeit getan.
Vor der unversehrten Tür und den makellos geschlossenen Rollläden der Fenster stampfte Feli wütend mit dem Fuß im Pantoffel auf.
„Du bist doch wirklich ein blöder Trottel“, schnaubte sie zitternd vor Kälte, drehte auf dem Absatz um und rauschte in ihrem Schlafanzug davon, was mich – vielleicht auch wegen der jetzt entspannten Einbruchssituation – zu einem nervösen Gekicher veranlasste, bevor ich ihr folgte. Einen Schlüssel für die Eingangstür hatten wir natürlich auch nicht.
Als ich gegen Mittag des nächsten Tages den Schwurgerichtsvorsitzenden und Freund Johannes Anglerter auf dem Gerichtsflur traf und anhielt, um ihm das nächtliche Erlebnis zu erzählen, unterbrach er mich schon nach den ersten drei Sätzen und sagte: „Das hast du nur geträumt“, während er weitereilte. Für mich hatte sich damit allerdings die Darstellung als spannendes und auch ziemlich kreatives Drama enttäuschend erledigt.
Kurze Zeit später traf ich die Kollegin Dr. Ilse Friedrich auf der Treppe und überlegte, ob ich einen zweiten Versuch starten sollte. Ich unterließ es dann aber lieber. Zivilrichterin Friedrich gehört zu der Sorte von Menschen, die schon nach einem Halbsatz brutal unterbrechen und in überbordendem Selbstbewusstsein mit einem kurzen, verblüffenden Schlenker auf ein Thema kommen, in dem sie selbst im Mittelpunkt stehen. Von dem sie dann nicht mehr abzubringen sind. Es bleibt einem dann nichts anderes übrig, als die weiße Fahne zu hissen und zu kapitulieren.
Im Weitergehen dachte ich darüber nach, ob diese Gesprächsdiktatur möglicherweise Folge einer genetischen Veranlagung, einer frühkindlichen Fehlerziehung oder die Auswirkung der grenzenlosen Bewunderung durch den unscheinbaren Ehemann sein könnte.
Felicitas, Richterin in Berlin, die mich eine Woche lang besucht hatte, war von mir am frühen Vormittag an den Zug nach Frankfurt gebracht worden. Sie wollte zu ihren spanischen Großeltern fliegen. Der Großvater war schwer erkrankt, und sie musste ihm und ihrer Großmutter beistehen. Es tat mir weh, sie so schnell wieder zu verlieren, und das vielleicht für lange Zeit.
Vor Jahren hatte ich sie kennengelernt, als ich als Assistent an der Uni in Hamburg tätig war und sie in einem Kurs betreute. Sie fiel mir damals auf, weil sie nicht nur ungewöhnlich attraktiv und sympathisch war, sondern auch besonders intelligent. Ihr Vater war Spanier und ihre Mutter Deutsche, und sie lebte seit Jahren in Deutschland.
Gegen Ende des Semesters schaffte ich es, sie näher kennenzulernen und verliebte mich in sie. Aber kurz danach verschwand sie aus Hamburg ohne Erklärung oder Abschied. Für mich äußerst rätselhaft und frustrierend. Ich litt sehr darunter.
Sie war sozusagen eine Jugendliebe von mir gewesen und erst vor wenigen Monaten überraschend wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Eine intensive, großartige Zeit hatte sich angeschlossen.
Zum Abschied umarmte sie mich zärtlich. Sie unterließ es nicht, mir ins Gewissen zu reden. Ich solle versuchen, mein Leben etwas entspannter zu gestalten. Meine Strafsitzungen etwas weiträumiger terminieren und überhaupt ruhiger werden. Solche Albträume seien doch schon wirklich bedenklich. Meine Nervosität gehe ihr langsam ziemlich auf die Nerven. Dabei strahlte sie mich aber liebevoll mit ihren blaugrünen Augen an.
Irgendwie hatte sie schon recht. Seit der Trüffel-Geschichte vor einigen Monaten war ich nicht mehr der Alte.
Bei mir war damals eingebrochen und ich brutal überfallen worden. Man hatte mich in den Kofferraum eines Autos eingesperrt, und nur durch einen glücklichen Zufall war ich freigekommen. Das anschließende Drama in den spanischen Bergen machte mir auch noch zu schaffen: Eine Bande hatte Felicitas’ Großvater erpresst und mit allen Mitteln versucht, an die Rezeptur für künstliche Trüffel zu kommen, die dieser erfunden hatte. Mit meiner Hilfe war es schließlich in Spanien gelungen, die Ganoven hinter Schloss und Riegel zu bringen. Die Rezeptur ging allerdings dabei endgültig verloren.
Obwohl das Abenteuer gut ausgegangen war, hatte es anscheinend meine Psyche doch ziemlich angeknackst. Mindestens einmal in der Woche wachte ich eine Zeit lang nachts aus einem Albtraum auf, in dem ich mich in einer dunklen Kiste befand und mir ganz stark bewusst war, dass mir etwas Grauenhaftes bevorstand. Der Traum endete immer, bevor dies eintrat, ließ mich aber ziemlich fertig zurück, wenn ich hochschreckte.
Irgendwie wurde dadurch auch einige Male eine Variante dieses Traumes aufgerührt: Ein frühes, eigentlich längst vergessenes Erlebnis bahnte sich den Weg in mein nächtliches Bewusstsein. Mein älterer Bruder und ich, er vielleicht vierzehn und ich zehn, fuhren am Spätnachmittag mit unserem Paddelboot den Entwässerungskanal zur Oste hinunter. Vor dem kleinen, offenen Eisentor der Deichdurchführung, einem dunklen, schmalen Tunnel durch den Deich, zögerte er kurz. Dann paddelte er hinein in die Dunkelheit. Mir war etwas mulmig, aber ich hatte natürlich nichts zu sagen. Nach etwa fünfzig Metern und kurz nach dem Passieren des zweiten Tores knallte dieses mit lautem Krachen direkt hinter dem Heck unseres Zweisitzers zu und einen Augenblick später danach war das Schließen des ersten Tores von der anderen Seite zu hören. Wir waren gerade noch davongekommen. Bleich im Gesicht drehte sich mein Bruder zu mir um, sagte aber kein Wort.
Auch später habe ich nie mit ihm darüber gesprochen. Aber es kamen einige Zeit Albträume bei dem Gedanken, dass wir eingesperrt zwischen den beiden Toren unter dem Deich und weitab von irgendjemand, der uns hätte helfen können, langsam im steigenden Wasser der Flut elend ertrunken wären. Eine Tragödie im Kanal, der dazu dient, die Felder bei Ebbe in die Oste zu entwässern und der automatisch verschlossen wird, wenn mit der Flut ein höherer Wasserstand im Fluss erreicht wird.
Die Erinnerung an die Herstellung des Paddelbootes im Flur unserer Dachgeschosswohnung über der Post, wo wir die frühen Jahre mit der Mutter wohnten, konnte mich nach solchen Albträumen immer etwas aufheitern.
Mein kreativer, aber etwas blauäugiger Bruder baute das vier Meter achtzig lange Boot aus Sperrholz im Flur ohne zu bedenken, dass es unmöglich sein würde, das Produkt über die enge Treppe nach draußen zu transportieren. Meine lässige Mutter ging während der monatelangen Bauzeit geduldig und lächelnd um Bretterstapel und Werkzeuge herum vom Wohnzimmer in die Küche und zurück. Auch sie machte sich keine Gedanken. Von mir konnte keine Rede sein.
Erst als das fertige Werk von Familie und Freunden bestaunt wurde, dämmerte es uns.
Unter dem Gejohle der Dorfbevölkerung wurde der dunkelgrün gestrichene Kahn schließlich aus dem kleinen Fenster des Wohnzimmers weit oben an der Stirnseite des Hauses eindrucksvoll, waagerecht hinaus in die Luft geschoben, bis es schließlich nach unten gegen die Wand krachte und an dem angeknüpften Strick herumpendelte. Der Reparaturbedarf war erheblich, und im Dorf wurde mindestens zwei Jahre lang die Geschichte in immer kurioseren Varianten erzählt und dem Brüderchen „Luftschipper“ hinterhergerufen, was ihn aber anscheinend überhaupt nicht kratzte. Seinem Erfinderimage tat es erstaunlicherweise keinen Abbruch.
Die Angeklagte in der Strafsitzung am Nachmittag trat vehement und lautstark dafür ein, dass strafmildernd bis strafausschließend zu berücksichtigen sei, dass das Opfer den Betrug hätte erkennen müssen. Wer so dumm sei, sei selbst schuld. Ihr dürfe nur ein geringer Vorwurf gemacht werden, wenn überhaupt. Ihr Verteidiger, der sie dabei ab und zu etwas gramvoll anblickte, versuchte das rechtlich zu untermauern, vermied es aber, mich bei seinen Ausführungen anzusehen.
Die 64-jährige ziemlich korpulente, wasserstoffblonde Angeklagte hatte dem Bauarbeiter, der dafür seine gesamten Ersparnisse lockermachte, zwei Kilo feine Goldkettchen, angeblich aus russischen Beständen, zum halben Preis verkauft. Tatsächlich war es natürlich kein Gold, sondern glänzend aufgearbeitetes Messing und fast wertlos.
Laut auf die Ungerechtigkeit vor Gericht schimpfend, verließ sie nach ihrer Verurteilung den Gerichtssaal, gefolgt von ihrem Rechtsanwalt, der beim Hinausgehen etwas hilflos mit seinen Händen wedelte.
Am späten Nachmittag stieg ich in einer plötzlichen Anwandlung von Einsamkeit die Stufen zu meiner Stammkneipe hinunter und setzte mich an die halbkreisförmige Holztheke.
Die gleichen Gestalten wie immer in der Runde, die ich deswegen die „Wohnsitzlosen“ getauft hatte, begrüßten mich mit einem Gemurmel und schwiegen gleich wieder. Merlin, der Mischlingshund von Karl,