Themen anzufangen zu dozieren.
Natürlich hält er auch viele Vorträge. Und eines seiner Lieblingsthemen ist der Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen: Wahrheitssignale, Lügensignale und so weiter.
„Es geht hier um Glaubhaftigkeit und nicht um das Persönlichkeitsmerkmal Glaubwürdigkeit“, fuhr er fort. Wir starrten ihn etwas verblüfft an, aber niemand wagte es, ihn zu unterbrechen.
„Die Lügensignale ergeben sich als Umkehrschluss der Realitätskriterien. Hier haben wir ein ausgesprochenes Wahrheitssignal, ein farbiges und einfallsreiches Detail, das nicht das zentrale Beweisthema stützt“, sprach er jetzt direkt Nielsen an. „Auch die ganze Schilderung ist konkret, anschaulich und ganz ungewöhnlich. Sie wird geprägt durch Originalität.“
Er setzte sich wieder. „Wir können Herrn Dr. Knall glauben.“
Nach einer kurzen Pause und weil jetzt alle schwiegen, erzählte ich weiter, wie wir in unseren Pantoffeln um das Haus gegangen, dann aber festgestellt hatten, dass die Eingangstür zu und auch die Rollläden in Ordnung waren. Ich erwähnte auch die Fußspuren.
„Mir gefällt das alles nicht so richtig“, sagte Nielsen schließlich zum Präsidenten. „Knall glaubt zu träumen. Eine Anzeige wird nicht erstattet. Ein Einbrecher, der alles wieder verschließt. Die einzige Zeugin ist eine gute Freundin von Herrn Knall. Ist außerdem noch sehr in seiner Schuld, weil er ihr geholfen hat.“
Als ich ihn daraufhin erstaunt ansah, fuhr er fort. „Ich habe Ihre Geschichte gehört. Ich weiß, wie die Zeugin zu Ihnen steht.“ Er wedelte mit den Händen. „Also, ich habe mit dem zuständigen Staatsanwalt telefoniert. Er hat darüber nachgedacht, ob er einen Haftbefehl beantragen muss.“
Als ich zusammenzuckte. „Ja, Herr Knall, was denken Sie denn eigentlich? Das ist doch alles sehr verdächtig. Sie waren in Stade. Ihre Pistole wurde wahrscheinlich verwendet. Und jetzt kommen Sie mit dieser kuriosen Geschichte.“
Im Aufstehen setzte er hinzu. „Bleiben Sie im Land. Jetzt keine Fahrt nach Spanien! Ihre Einbrecherversion werde ich auch noch weitergeben.“
Vollkommen deprimiert blieb ich in meinem geliebten Holzsessel sitzen.
Dass ich das Buch von Rolf Bender über die Glaubwürdigkeitslehre, die Beurteilung von Zeugenaussagen auch gelesen hatte und natürlich wusste, wie man offene und versteckte Wahrheitssignale setzt, behielt ich lieber für mich.
Kupfer hatte mir zum Abschied noch gesagt, dass er mich am nächsten Morgen um zehn in seinem Büro erwarte. Es müsse einiges besprochen werden.
Mit den Worten: „Ich veranlasse, dass Ihre Sitzung am Donnerstag abgesagt wird“, verließ er das Haus.
Nielsen war grußlos gegangen, aber Haken hatte mir fest die Hand gedrückt und mir zugeraunt: „Falls es etwas Neues gibt, ich halte Sie auf dem Laufenden. Kopf hoch!“ Draußen hörte ich die Autotüren schlagen und dann das Starten des Motors.
Ich versuchte, mich zu entspannen. Der hohe Pfeifton in meinem rechten Ohr hatte etwas nachgelassen.
Mit der Hand strich ich unwillkürlich, fast zärtlich über das dicke, glatte, unbehandelte Holz der Armlehne.
Ich hatte den Sessel vor Jahren aus massivem Tannenholz zusammengebaut, ohne Maschinen, nur mit der Hand, frei von
irgendeiner Metallverschraubung und ihn anschließend mit einem rustikalen Polster versehen. Ein Sessel für mich, für meine 1-Meter-96.
Eine Depressionsphase war damals die Veranlassung dazu gewesen. Deren Ursachen hatte ich längst vergessen, aber das Produkt existierte und, so wie es gebaut war, auch noch Jahrzehnte.
Damals hatte ich mir überlegt, dass ein Mann neben den Dingen, die man gewöhnlich etwa aufzählt, dass er sie im Leben machen müsse: Kind zeugen, Baum pflanzen und so weiter, auch einen Sessel aus Holz für sich selbst bauen sollte.
Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, dass mir die Arbeit mit dem Holz unheimlich wohl tat. Die Konstruktion insgesamt und die Überlegungen zur Gestaltung des Winkels zwischen Rückenlehne und Kopflehne, deren Ausführung. Die Depression löste sich immer mehr auf. Und als der Sessel schließlich fertig, massiv und doch elegant mit seinen abgeschliffenen Kanten vor mir stand, war sie ganz verschwunden.
Mir war natürlich klar, dass diese Arbeit mich vielleicht nur deswegen so beeindruckte, weil sie etwas ganz anderes war als das kopfgesteuerte Schreiben von Urteilen, und dass ich auch alles Mögliche andere hätte herstellen können. Aber der Sessel begleitete mich seitdem als äußerst erfreulicher Teil meines täglichen Lebens und prächtiges Erfolgserlebnis, immer wieder verbunden mit wunderbaren Entspannungsphasen, und er vermochte, so auch jetzt, mich zur Ruhe zu bringen.
Einige Zeit hatte ich ihn in mein Büro ins Gericht gestellt und darin mittags ab und zu eine kurze Siesta verbracht, mit dem Arm auf der Lehne und meinen Schlüsseln in der Hand, die, wenn ich einnickte, zu Boden fielen und mich aufweckten. Kranich mit dem Stein sozusagen. Dieses alte Symbol der Wachsamkeit in vielen Kulturen.
Ich lehnte den Kopf zurück in das Polster, schloss die Augen und versuchte, mich zu konzentrieren. Ich war doch schon mit den schwierigsten und überraschendsten Situationen in Strafverhandlungen fertig geworden. Es müsste doch möglich sein, einen Sinn, eine Erklärung in das Ganze zu bringen. Ich ließ noch einmal den Ablauf der Ereignisse, alles, was ich gehört hatte, vor meinem inneren Auge vorbeiziehen.
Ganz und gar unerklärlich, äußerst erschreckend waren die Geschehnisse in Stade. Und außerdem geradezu bestürzend, weil ich doch gerade dort war, als es passierte. Und zwar auf Grund eines spontanen Entschlusses. An den Einsatz der Pistole wagte ich dabei gar nicht zu denken. Hier stieß ich bei meinen Überlegungen an eine Wand. Diesen Teil der Ereignisse versuchte ich wegzuschieben. Daran durfte ich jetzt nicht denken.
Eher müsste es doch möglich sein, das Rätsel zu lösen, wie jemand es geschafft hatte, meine Schlüssel zu entwenden. Hätte ich den Täter, könnte ich damit das Problem lösen und vielleicht meinen Kopf aus der Schlinge ziehen.
Bildhaft gesprochen könnten die Schlüssel in meinem Schreibtisch auch gleichzeitig der Schlüssel zur Lösung des Falles sein.
Mein Büro wurde natürlich bei meiner Abwesenheit, auch während der Strafsitzungen, immer von mir abgeschlossen. Mit dem allgemeinen Schlüssel, über den die Kollegen, die Geschäftsstellen, praktisch jeder im Landgericht verfügte. Während meiner Arbeitszeit war die Bürotür normalerweise offen, auch wenn ich im Haus herumlief, um etwas zu erledigen.
Mein Inneres sträubte sich dagegen, dass irgendjemand aus dem Gericht mit der Sache zu tun haben könnte. Na klar, auch ein Besucher hätte theoretisch die Möglichkeit, bei meiner Abwesenheit kurzfristig im Büro zu verschwinden, ein Rechtsanwalt, ein Beteiligter an einer Verhandlung. Der Personenkreis war nahezu unüberschaubar. Und außerdem kam ich doch damit der Lösung des Rätsels kein bisschen näher, denn derjenige müsste noch dazu an das Pappkästchen mit den Schlüsseln herankommen. Und das hatte ich selbst ja erst gefunden, nachdem ich in allen Schubladen nachgesehen hatte. Außerdem müsste die Person wissen, dass dort Schlüssel für Haus und Safe aufbewahrt werden.
Ich merkte, wie langsam eine kalte Wut in mir hochstieg. Meine Hände krampften sich um die Armlehnen. Irgendjemand führte mich hier gewaltig an der Nase herum, hatte es massiv auf mich abgesehen. Ja, man wollte mir sogar einen Mord, beziehungsweise Mordversuch in die Schuhe schieben. Und zwar eine Person aus meinem Umfeld. Jemand, den ich wahrscheinlich kannte, dem ich möglicherweise oft in die Augen gesehen hatte. Dieser Jemand musste mich grenzenlos hassen.
Der Gedanke erschütterte mich. Das passte eigentlich nicht in meine heile Welt. Wobei, so ganz heil war sie nicht. Denn meine Strafverhandlungen führten mich doch immer wieder in menschliche Abgründe. Unglaubliche, auch äußerst brutale Konflikte, in die ich eintauchen musste. Jetzt hatte es mich selbst und ganz ungeheuerlich getroffen.
Ich merkte, wie meine innere Widerstandskraft wuchs. Nein, ich würde mich der Situation nicht kampflos beugen. Nielsens Reaktion gab mir zu denken. Sicher, die Polizei würde ihre Arbeit machen, aber ich würde dem nicht tatenlos