Roland Weis

Das Erwachen der Gletscherleiche


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      Roland Weis · Das Erwachen der Gletscherleiche

      Dr. Roland Weis, Jahrgang 1958, lebt und arbeitet in Südbaden. Der gelernte Zeitungsredakteur hat mehr als zwanzig Jahre bei Tageszeitungen, Radiostationen und Wochenzeitungen gearbeitet, ehe er 2002 in die Unternehmenskommunikation eines Energieversorgers wechselte, die er heute leitet. 1992 erschien sein erstes historisches Sachbuch „Würden und Bürden“, in dem er die Rolle der katholischen Priester im Dritten Reich untersuchte. 1998 veröffentlichte er seinen ersten Krimi „Der Güllelochmord“, dem bis heute sieben weitere folgten. Der promovierte Historiker hat neben zahlreichen Beiträgen in Fachzeitschriften und Nachschlagewerken inzwischen rund 20 Bücher veröffentlicht, darunter regionalgeschichtliche Untersuchungen, populärwissenschaftliche Sachbücher, Wander- und Urlaubsführer aus dem Schwarzwald sowie einen historischen Roman, der in der kanadischen Wildnis des 18. Jahrhunderts spielt.

      Zum Titelbild: Nino Malfatti wurde 1940 in Innsbruck geboren. Er studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien Malerei, Grafik und Restaurierung. An der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe wurde er Meisterschüler von Horst Antes. Seit 1974 lebt er in Berlin, wo er als Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin Maltechnik lehrte. Das Gebirge ist Gegenstand seiner Malerei seit den 80er-Jahren. Als Hochgebirgsbergsteiger ist Malfatti viel in seiner Tiroler Heimat unterwegs und fotografiert dort die Bergmassive der Alpen. Nach diesen Aufnahmen entstehen im Atelier seine Landschaftsmalereien.

      Roland Weis

      Das Erwachen

      der Gletscherleiche

      Ein Krimi, der vor 5000 Jahren beginnt und in Freiburg seinen Lauf nimmt

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      für Zurbo

      1

      Die steifgefrorene Hand ragte zu zwei Dritteln aus dem tropfenden Gletschereis. Bleich und haarig. Der Daumen war nach oben abgespreizt. Es sah aus, als wollte ein Tramper mitgenommen werden. Fast hätte Mona im starken Regen die Hand übersehen. Wer rechnet auch mit einem eingefrorenen Tramper mitten im Hochgebirge? Der Wind trieb milchige Wasserschlieren auf die kleine Wandergruppe, die sich im Schutze einer Gletscherspalte ihren Weg bahnte. Armin, der Idiot! Er war schuld an allem. Nein, er hatte nicht warten können. Am Morgen im Berghaus, da hätten sie noch alle Optionen gehabt: Ausschlafen, das Unwetter abwarten, ins Tal nach St. Moritz zurückkehren. Stattdessen stolperten sie jetzt bei kaum drei Metern Sicht durch kalten Regen über den Gletscher und drohten bei jedem Schritt ins Tal hinunter nach Morteratsch gespült zu werden. Das grandiose Bergpanorama des Engadin blieb den ganzen Tag hinter einer grauen Regenwand verhüllt. Und das im frühen Herbst. Das war doch angeblich die sonnige Wanderzeit.

      Ihre Gruppe bestand aus sieben Personen. Mona mit ihrem Freund Armin, davor die vier Amis, zwei Paare aus Iowa. Vorneweg stapfte Bernie, ihr verdrossener Führer. Ein Kerl wie ein Schrank, mit Oberarmen wie Ofenrohre. Er schleppte einen mit Steigeisen, Karabinerhaken und Seilen vollbeladenen Bergrucksack mit sich, mit dem er es bis zum Himalaya schaffen würde. Bernie hatte sie gewarnt, er hatte am Morgen auf der Diavolezza vom Weitermarsch abgeraten. „Herrschafte, mr bliiebe do. Des wird nünt meh hit!“. Und damit es auch die Amerikaner verstanden: „Dätts än räiny morning. Wiee schuddent wook ower the glassijeh!“ Da war das Sauwetter bereits über den Piz Bernina gekrochen und hatte erwartungsfroh die Zähne gefletscht. Doch die beiden Paare hatten die Dollarbündel gezückt, sie wollten unbedingt die Gletschertour zu Ende bringen. Bernie hatte kurz seinen gelben Schnauzbart gezwirbelt, dann war er weich geworden: „Zwi Persone brüüchte mr no. Dennoh däte mrs probiere!“

      Die zwei waren schnell gefunden. Armin der Blödmann. Was immer ihr sportiver Freund unternahm, Mona besaß kein Mitspracherecht. Armin plante Kajakfahrten, Drachenfliegen, Go-Kart-Rennen, Mountainbike-Touren und Tauchkurse. Mona wurde nie gefragt. Sie musste mitmachen. So war sie auch in diese idiotische Gletschertour geraten. Jetzt blieb sie stehen und betrachtete diese seltsam weiße Hand. Irre! Über die bläuliche Eiswand des Gletschers, aus der die Pranke herausragte, floss das Regenwasser in Strömen. Deshalb bemerkte Mona den dunklen Schatten nicht gleich, der sich in Fortsetzung der Hand im ewigen Eis verbarg. Zaghaft: „Hey, Armin, warte mal!“ Aber der war schon etliche Meter weiter getrottet, den Blick immer auf die Bergstiefel seines Vordermannes gerichtet, die Ohren hinter der Goretex-Kapuze seines Anoraks hermetisch abgeriegelt. Armin hörte sie nicht. Er vernahm höchstens das Prasseln des Regens und das Gurgeln des Wassers, das in der Gletscherspalte abfloss.

      Bernie hatte den Weg durch diese begehbare Spalte gewählt, weil es oben auf dem glattgespülten Gletscher viel zu gefährlich gewesen wäre. Nach dem Zusammenfluss von Pers- und Morteratsch bahnte sich die gemeinsame Gletscherzunge ihren Weg in steilem Gelände talwärts. Große Klüfte durchzogen hier das Eis. Normalerweise machten die Bergführer einen großen Bogen um diese Spalten. Aber angesichts des sintflutartigen Regens, „mit däm het mr nit rächne chönne“, wählte Bernie einen „Geheimwäg, odder?“ Angeblich nur ihm bekannt.

      Mona hegte Zweifel, ob Bernie wirklich ein Bergprofi war. Sie erinnerte sich an einen Fernsehbeitrag, in dem es geheißen hatte, die wirklich professionellen Bergführer gingen niemals bei sich abzeichnendem Unwetter auf Tour. So wie am Morgen die Dollarnoten funktioniert hatten, musste es sich bei Bernie um eine Touristenhure handeln, die bereit war, für Geld auch die blödsinnigsten Touren mitzumachen.

      Inzwischen war es früher Nachmittag und sie würden den vermaledeiten Gletscher hoffentlich bald hinter sich lassen und ins Dörfchen Morteratsch absteigen, in den Zug und zurück nach St. Moritz ins Hotel. Warme Dusche, trockene Klamotten, feines Käsefondue mit Rotwein und ab ins Bett. Mona hatte sich den Rest des Tages zurechtgeträumt.

      Und nun tauchte diese Hand auf, wie ein Stoppschild mitten auf der Autobahn. Mona schob sich die klatschnassen Haare aus der Stirn und wischte die Augen frei. Es war tatsächlich eine Hand. Und sie gehörte zu einem dunklen Etwas, das im Eis steckte. Der Gletscher spuckte eine Leiche aus.

      Sportsmann Armin kehrte mit Bernie zu Mona zurück. „Wo steckst du bloß, du blöde Kuh“, schimpfte er. „Sollen wir ewig im Regen auf dich warten?“

      Mona verstand nicht, was er sagte. Sie sah nur, dass er brüllte, mit ausladenden Schritten zu ihr aufstieg und dabei wütend seinen Stock ins Eis hieb. Seine grellgrüne Trekking-Jacke leuchtete durch den Regen wie ein Papagei im Amazonasnebel.

      „Hey du Arsch, hast du endlich was gemerkt?“, brüllte Mona durch den Regen zurück. Aber Armin konnte sie ebenso wenig verstehen.

      Bernie entdeckte die Hand sofort: „Was isch dös für än Cheib? Iigfrore, odder?” Zu Dritt standen sie um die Fundstelle herum und glotzten. Wasser tropfte von ihren Kapuzen, lief über Nasen und Kinn. Keiner wagte es, das seltsam bleiche Etwas zu berühren.

      „S’isch än Maa!“, erkannte Bernie. Er zwirbelte sich den feuchten Bart. Ein Zeichen, dass er nachdachte. „Lecksch mi doch am Füdli!“

      Armin zückte sein Handy, um Fotos zu machen. Ganz der Beamte. Erst einmal alles protokollieren. Wenn er gerade nicht auf Abenteuertouren ging oder sportliche Höchstleistungen vollbrachte, saß er als stellvertretender Dezernatsleiter im Landratsamt in Freiburg, wo er Probleme löste, wie er es sah, Probleme auslöste, wie mancher Antragsteller es betrachtete. Jedenfalls brauchte man immer Bilder für die Akten. Also fotografierte Armin die Hand. Mona folgte seinem Beispiel und knipste ebenfalls drauf los. Sie sah es mehr als Fotosouvenir. Schließlich fand man nicht alle Tage so etwas Skurriles im Eis.

      Bernie nestelte am Hochsicherheitsreißverschluss seiner wetterfesten Bergführer-Jacke herum und angelte schließlich ein Funkgerät hervor. Er machte Meldung an eine irgendwo im Nebel befindliche, verrauschte Bergwacht-Einheit. Mona lauschte dem knarrenden Wechsel von Fragen und Antworten, die Bernie im Knattern und Knistern vielfältiger Störgeräusche mit seiner Bodenstation austauschte. Sie verstand nur so viel: Leiche im Eis gefunden, untere Morteratsch-Gletscherzunge, schwer zugänglich, Bergung erst nach Regen möglich. Alle drei ermittelten mit Hilfe ihrer Handys die exakten GPS-Daten der Fundstelle. Bernie zückte sein Bärentöter-Überlebensmesser, um an der Stelle