leisten können, dort, wo traditionell die Freiburger Professoren wohnten oder deren arbeitsscheue Kinder und Kindeskinder. Aber Aschendorffer dachte gar nicht daran, sein Geld in einer Immobilie anzulegen. Es strömte unablässig auf sein Konto bei der Sparkasse Freiburg-Nördlicher Breisgau und brachte höchstens die dortigen Vermögensberater zur Verzweiflung, weil sie nicht damit spielen durften. Johannes Aschendorffer war weltlichen Verlockungen gegenüber in einem Maße gefeit wie die Menschheit es seit Diogenes nicht mehr erlebt hatte. Er besaß kein eigenes Auto, nicht einmal einen Führerschein, trug Kleidung aus dem Hause C&A, ernährte sich aus der Dose und mithilfe diverser Pizza- und Döner-Bringdienste, besaß weder Schmuck noch technisches Spielzeug – nicht einmal einen Fernsehapparat –, und er leistete sich nie einen Urlaub. Dafür war ihm die Zeit zu schade.
Und so wohnte er eben in dieser viel zu engen, unkomfortablen Etagenwohnung unter dem Dach eines Acht-Familien-Hauses in Freiburgs fadestem Wohnbezirk, im Stadtteil Brühl-Beurbarung. Für diese Standortwahl gab es nur einen Grund: die Wohnung lag ziemlich nahe am Forschungsinstitut BioGen im Industriegebiet Nord, so dass der Professor jeden Morgen zu Fuß zur Arbeit gehen konnte. Jetzt kraxelte Aschendorffer auf allen Vieren über einen seiner Papierhaufen und versuchte, das Telefon hervorzuziehen, ohne das labile Papierkonstrukt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Architektur des Stapels besaß nämlich eine chronologisch-inhaltliche Logik, und die wäre zunichte, würde Aschendorffer einfach alles umwerfen, um an sein Telefon zu kommen.
Er schaffte es schließlich ohne Kollateralschäden. Die Stimme seiner Assistentin meldete sich: „Professor, endlich gehen Sie dran! Hier ist Mona! Ich rufe aus dem Urlaub an. Es ist wichtig. Wir haben eine gefrorene Leiche gefunden.“
Die Stimme seiner hübschen Assistentin weckte in Aschendorffer unverzüglich unsittliche Gedanken. Niemals hätte er es gewagt, das „Fräulein Mona“, wie er sie nannte, im Institut auch nur andeutungsweise anzubaggern. In den dortigen Laboren stierte er ihr lediglich nach, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Aber zu Hause in seinen vier Wänden, insbesondere vor dem Einschlafen im Bett, da brachen alle in seinen 35 Lebensjahren angestauten sexuellen Fantasien über ihn herein, und in ihrem Mittelpunkt stand Mona, insbesondere ihre primären und sekundären Geschlechtsmerkmale. Das war sein ganzes Sexualleben. Eigentlich war der Professor noch Jungfrau. Weder hätte er es gewagt, aktiv nach einem weiblichen Wesen Ausschau zu halten, noch es anzusprechen. Seine Verklemmtheit reichte so weit, dass er den Blick bereits verschämt niederschlug, wenn eine Frau auch nur den gleichen Raum betrat.
Dienstlich konnte Professor Aschendorffer allerdings Frauen gegenüber herrisch und kühl auftreten, selbstbewusst bis zur Arroganz, weil er ein künftiger Nobelpreisträger war.
Und dieser Anruf mitten in der Nacht erwies sich als ein dienstlicher. „Erzählen Sie!“, forderte Aschendorffer seine Assistentin auf. Sie erzählte die Geschichte von der Tour über den Morteratsch-Gletscher. Einzelheiten über die Route und über das Verhalten des Bergführers interessierten den Professor nicht. Hingegen zog er Mona jedes Detail über die Beschaffenheit des Eises, das Aussehen der Hand und über die noch im Eis steckenden Hauptbestandteile der Leiche aus der Nase. Und ganz spezifisch interessierte er sich für die Wetterverhältnisse und die Pläne der schweizerischen Bergwacht, die Leiche aus dem Gletscher zu bergen. „Wir müssen ihnen zuvorkommen!“, flüsterte er einmal ergriffen. Professor Dr. Dr. Johannes Emanuel Aschendorffer war ein eingefleischter Fan tiefgefrorener Leichen. Gelegentlich besorgte er sich welche über die Gerichtsmedizin. Unter dem Vorwand, Auftragsobduktionen durchzuführen, eine Kunst, in welcher der Professor es zu unerreichter Meisterschaft brachte, schwätzte er den Amtsbehörden hin und wieder einen vermeintlichen Selbstmörder, eine Baggerseeleiche oder einen Verkehrstoten ab. Meistens aber musste er sich mit Tierkadavern begnügen. Im privaten Forschungsinstitut BioGen, dessen wissenschaftlicher Leiter Aschendorffer war, wusste niemand so genau, an was der Professor nun eigentlich forschte, wenn er Organe sezierte, Stammzellen züchtete, an Genen herummanipulierte und wässrige Kulturen durch Zentrifugen jagte. Zwischendurch schnippte er mit den Fingern – und schwupps, hatte er ein neues, wirkungsvolles Arzneimittel gegen Kopfschmerzen aus dem Reagenzglas gezaubert. Das reichte, um ein Jahresbudget des Instituts locker zu finanzieren.
Das reichte auch seinem aufgeblasenen Chef, dem kaufmännischen Geschäftsführer und Institutsleiter Jens-Merten Föllstiegel, einer ahnungslosen, selbstgefälligen Niete, um den Professor machen zu lassen. Hauptsache Geld kam herein.
Seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Labor verehrten und bewunderten den Professor wie die Jünger ihren Messias. Aber ganz sicher verstanden sie nicht die Hälfte von dem, was er tat. Dabei war Aschendorffer durchaus von einer Riege hochkarätiger Wissenschaftler umgeben, die alle selbst denken konnten. Da waren seine Stellvertreterin, Dr. Frederike Biesthal, Biochemikerin, eine kalte Schönheit, emanzipiert wie ein Haifisch, Dr. Murji Amresh, der Molekularbiologe aus Indien, die Doktoren Schröder (Onkologie und funktionelle Genetik) und Westphal (vaskuläre Biologie und Entwicklungsbiologie), und selbst Assistentin Fräulein Mona blickte auf ein – wenn auch abgebrochenes – Studium der Humanbiologie zurück.
Nun schickte sie per Mail einige der Handyaufnahmen, die sie im Gletscher von der Hand im Eis gemacht hatte. Aschendorffer beugte sich über den Bildschirm seines Laptops und studierte jede Einzelheit, zoomte die Härchen und die Poren heran, als wollte er Fingerabdrücke nehmen.
Als Nächstes mailte Mona auf Geheiß des Professors die GPS-Daten von der Fundstelle.
„Bleiben sie dran!“, kommandierte Aschendorffer, ehe er an seinem Bildschirm Landkarten aufrief, Google-Earth bemühte, alles über den Gletscher und seine Geschichte las und nebenbei eifrig Notizen machte.
„Professor, was ist los? Was sagen Sie?“, fragte Mona nach längerer Wartezeit. Das Telefon lag auf dem Fußboden. Der Professor hatte Mona vor lauter Begeisterung glatt vergessen. Irgendwann, nach einer oder zwei Stunden, wäre sie ihm wieder eingefallen. Dann hätte er wieder in den Telefonhörer gesprochen und sich gewundert, wenn sie bereits aufgelegt hätte. Das hätte er für völlig unangemessen gehalten und bei nächster Gelegenheit gebührend gerügt. So aber machte sie sich selbst laut bemerkbar: „Professor! Was ist los?“
Aschendorffer wollte antworten, da vernahm er durch den Hörer die verschlafene Stimme von Monas Freund Armin: „Hey, was brüllst du denn so herum? Du weckst ja das ganze Hotel auf.“
„Pschcht, nicht so laut“, besänftigte Mona.
„Wer ist hier laut? Mit wem telefonierst du eigentlich?“
Aschendorffer hörte alles mit. Er griff ein: „Fräulein Mona? Ja? Ist das Ihr Freund, der da redet? Was weiß er?“
„Keine Sorge Herr Professor, er schläft gleich wieder ein.“
„Mit wem telefonierst du da. Dein Chef? Ist das etwa der verrückte Professor?“, dröhnte Armins wütende Stimme aus dem Hörer.
„Sei doch still!“
„Wieso soll ich still sein? Du telefonierst doch in einer Lautstärke herum ...“
„Hören Sie, Fräulein Mona“, flüsterte Aschendorffer. „Gehen Sie auf die Toilette. Nehmen Sie das Telefon mit. Ich möchte nicht, dass Ihr Freund alles mithört, was ich Ihnen sage.“
Bettzeug raschelte.
„Wo willst du hin?“
„Aufs Klo! Siehst du doch!“
Eine Tür klapperte. Ein Schlüssel wurde umgedreht.
„So, ich habe mich eingeschlossen. Er kann uns nicht mehr hören.“
„Gut so!“, lobte der Professor. „Jetzt passen Sie gut auf, was ich Ihnen sage. Und zu keinem Menschen ein Wort darüber. Zu niemandem! Haben Sie verstanden?“
„Ja, ja! Aber ...?“
Aschendorffer setzte ihr seinen Plan auseinander. Der wichtigste Satz lautete: „Ich schicke Herrn Kaymal. Er soll die Leiche bergen.“
*
Meslut Kaymal war der Chef einer türkischen Putz- und Hausmeisterfamilie, die im Institut die Büros und Labors reinigte und den