Roland Weis

Das Erwachen der Gletscherleiche


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mache!“

      Fast bedauerte es Mona, als sie die Fundstelle verließen. Ihr war, als winkte ihr die Hand aus ihrem frostigen Käfig nach. Aber Bernie drängte mit Blick zum Himmel auf den schnellen Abstieg. Sie mussten auch die Amis wieder einholen, die ohne Erlaubnis des Führers alleine weitergegangen waren. Und Armin war inzwischen auch ganz in seinem Element: „Das müssen wir umgehend den Behörden melden.“ Das hätte sie sich denken können.

      Sie erreichten das Ende der Gletscherzunge, an einer Stelle, wo der Gletscher eine Art Tor bildete, aus dem gurgelnde Sturzbäche strömten. Hier warteten die vier Amerikaner. Gemeinsam stiegen sie über einen bequemen Wanderpfad zum Tal ab. Bernie erstattete Meldung beim örtlichen Gendarmerie-Posten, während der Rest der Gruppe sich kurz im Hotel-Restaurant Morteratsch aufwärmte. Die Amerikaner quartierten sich hier ein. Mona und Armin fuhren alleine mit dem Zug zurück nach St. Moritz.

      Armin war nicht sehr gesprächig. Er spielte mit seinem Smartphone und zappte sich mit eingestöpselten Kopfhörern durch verschiedene Apps. Mona hingegen hatte das dringende Bedürfnis, über den grausigen Fund zu sprechen. Nicht dass der Fund sie geschockt hätte. Sie fand das Ganze einfach nur aufregend. Tote machten ihr gar nichts aus. Wie oft bekam sie es in ihrem Job mit Leichen oder Teilen davon zu tun? Das war Alltag am Freiburger Forschungsinstitut BioGen, wo Mona als wissenschaftliche Assistentin arbeitete. Schließlich galt ihr Chef, Professor Dr. Johannes Emanuel Aschendorffer, als Koryphäe auf dem Gebiet der Gen- und Stammzellenforschung, und der schnitt schon gerne einmal an Leichenteilen herum. Schon während der Zugfahrt, erst recht aber später im Hotelzimmer, geisterte deshalb die Gletscherleiche auch als Objekt wissenschaftlicher Neugierde durch Monas Gedanken. Wie lange mochte sie wohl schon im Eis tiefgefroren sein? War es ein Bergsteiger? Ein Bauer? Ein Soldat? Welches Schicksal stand hinter dem Fund?

      Für Armin, obergescheit wie er war, stand längst fest: „Das war jemand, der unvorsichtig in schlechtes Wetter geraten ist. Zack, da fiel er in die Gletscherspalte, wurde eingeschneit und tiefgefroren!“

      „Ja, ja, wie unprofessionell, bei schlechtem Wetter auf dem Gletscher herumzuturnen“, spottete Mona.

      Armin bemerkte die Ironie nicht, wie er überhaupt selten etwas bemerkte. Subtile Zwischentöne waren ihm so fremd wie thailändische Gewürze. Im Hinblick auf Monas zwischenmenschliche Signale besaß er die dicke Haut eines Elefanten. Wichtiger war ihm, dass die Frisur saß, die Sonnenbrille cool wirkte und man seinen geölten Bizeps bemerkte. Der gleiche Pedant, der er in seinem Behördenjob war, war er auch im Hinblick auf seine äußere Erscheinung. Er ging nur zum angesagtesten Friseur, kaufte keine Schuhe, die unter zweihundert Euro kosteten, ließ sich alle zwei Monate die Zähne polieren, war Mitglied einer ambitionierten Mountain-Bike-Clique, die regelmäßig den Freiburger Windmühlen-Berg Roßkopf unsicher machte, trimmte sich darüber hinaus im Abo im Freiburger Fitness-Gym-Zentrum, und ließ es niemals zu, dass Smartphone, Sonnenbrille, Kugelschreiber oder IPhone älter als ein Jahr wurden. Ja, es stimmte, er sah bei alldem blendend aus. Ein großer, sonnengebräunter Typ Anfang Dreißig, mit welligem hellbraunem Haar, breiten Schultern und schmalen Hüften. Ein Hingucker. Das war der Grund, warum Mona mit ihm zusammen war. Man konnte sich so schön mit Armin schmücken. Ihre Freundinnen beneideten sie. Leider war er als Gesprächspartner ein Totalausfall. Und vor lauter Selbstgefälligkeit entging es ihm meistens, dass andere Menschen auch Wünsche und Emotionen hatten. Speziell bei Mona berührte ihn das nicht. Empathie war ein Fremdwort für ihn. Mona war für Armin keine wirklich gleichberechtigte Partnerin, sondern lediglich ein weiteres schmückendes Accessoire, mit ihrem zarten Mädchengesicht ein ganz besonders hübsches. Sie passte so gut auf den Beifahrersitz in Armins BMW Z4 Roadster. So lange sie schlank blieb und bei seinen sportlichen Aktivitäten halbwegs mithalten konnte, hielt er sie für die geeignete Lebensgefährtin.

      Die Zugfahrt verlief also ohne ernstzunehmendes Gespräch. Mona grübelte darüber, ob die Gletscherleiche vielleicht ein Ötzi war. Wenn es nun ein Ötzi war? Eine Leiche aus der Steinzeit? Was würde ihr Professor Aschendorffer dazu sagen? Der Gedanke machte sie ganz zappelig.

      Nach der Ankunft in St. Moritz duschten sie, genossen im Hotel-Restaurant ein feines Mahl zu Schweizer Monsterpreisen und drehten vor dem Einschlafen noch eine ziemlich eingeübte Sexrunde. Bei Armin ging das in Richtung asiatischer Kampfsportart. Mona kam dabei eher die Rolle des passiven Sparringspartners zu. Sie ließ die Dinge geschehen. Als Armin sich grunzend auf seine Seite wälzte und zufrieden mit seiner Leistung unverzüglich zu Schnarchen begann, blieb Mona mit geöffneten Augen liegen. Sie konnte nicht einschlafen.

      Die Gletscherleiche beschäftigte sie. Im Halbschlaf mischten sich Traum, Fantasie und Erinnerung. Ein großer, haariger Yeti brach aus dem Eis und brüllte sie durch das Prasseln des Regens hindurch an. Seine Schnauze mit Raubtiergebiss verwandelte sich in das kantige Kinn von Armin, der unverwandt weiterbrüllte. Es hörte sich an, als ob jemand eine Schallplatte in der falschen Geschwindigkeit abspielte. Das Gebrüll zog sich zäh in die Länge. Mona wollte davonlaufen. Da packte sie eine Hand, die aus dem Eis herausragte und hielt sie fest. „Was hämmer do für en Cheib?“, echote es mit der Stimme des Bergführers Bernie aus dem Regen.

      Schweißgebadet wachte Mona aus ihrem Dämmerschlaf auf. Sie setzte sich im Bett auf. Armin schnarchte selbstzufrieden neben ihr. Der Radiowecker zeigte 0.47 Uhr an. Hatte sie so lange geschlafen? Sie dachte an ihren Chef, Professor Aschendorffer. Wenn der das wüsste! Sie kannte Aschendorffers Interesse an Leichen. Ganz besonders an mumifizierten und eingefrorenen. Die waren sein Steckenpferd. Sie musste ihren Chef anrufen.

      *

      Bei Professor Dr. Johannes Emanuel Aschendorffer klingelte das Handy um 0.50 Uhr. Er war noch wach. Aschendorffer war fast immer wach. Er schlief drei oder vier Stunden. Höchstens. Ansonsten las er. Jede Nacht las er ein Buch, manchmal auch zwei. Es gehörte zu den vielen phänomenalen Fähigkeiten des Professors, dass er Bücher im Schnelldurchlauf lesen konnte. Er schlug eine Seite auf, ließ den Blick einmal von links oben nach rechts unten wandern und blätterte um. In maximal drei Stunden war er durch. Was er einmal gelesen hatte, das blieb in seinem Gedächtnis gespeichert wie in einem Computer. Er vergaß nichts. Bei der Lektüre war er nicht wählerisch. Bevorzugt nahm er sich große Schinken der Weltliteratur vor. Zwischendurch verspeiste er politische Biografien, Sachbücher zur Weltgeschichte, Ratgeber, Kochbücher, Reiseführer, theologische Schriften, naturkundliche Werke, ganze Lexika, naturwissenschaftliche Lehrbücher, indizierten Schweinekram, kurzum, alles, was ihm in die Finger kam. Nach „Feynmans Vorlesungen über Physik, Band 1, Mechanik, Strahlung und Wärme“, das er gestern mit Begeisterung beendet hatte, steckte er heute mitten in Tolstois „Krieg und Frieden“. Soeben erschoss Pierre den Draufgänger Dolochow, da klingelte das Telefon. Der Professor strich sich genervt durch sein farbloses, struppiges Haar. Sein Blick, trübe wie eine undurchsichtige Regenpfütze, wanderte verwirrt durch das unordentliche Wohnzimmer, das er behauste. Das Telefon klingelte aufdringlich unter einem Stapel von großformatigen Computerausdrucken, die mit endlosen Zahlenkolonnen übersät waren. Aschendorffer wühlte mit seinen dünnen Stubenhockerärmchen darin herum, wie eine andalusische Bäuerin im Brotteig. Er schichtete den Papierstapel um, vergrößerte damit das Chaos, das ohnehin schon auf dem Wohnzimmerboden herrschte. Wie Inseln im Meer, so lagerten auf dem ausgetretenen Teppich verschiedene Stapel von Akten, Büchern, Folien, Zeitschriften und Computerfahnen. Letztere rollten sich zu abenteuerlichen Achterbahnen, die sich Girlanden gleich um die verschiedenen Papierberge wanden. Jede dieser gestapelten Inseln verkörperte ein Forschungsthema. Der Professor pflegte sich mit jeweils einem halben Dutzend und mehr Forschungsthemen gleichzeitig zu umgeben. Ansonsten bestand das Wohnzimmer aus heillos überladenen Bücherregalen an jeder Wandseite, einem großen Arbeitssessel und einem ringsum von Büchern und Folianten zugebauten Schreibtisch, auf dessen im Papier ertrinkender Arbeitsfläche ein Notebook aufgeregt blinkte.

      Besucher hätten diesen Raum zweifellos beim ersten Anblick als die Behausung eines Messies identifiziert. Die Wohnung verfügte noch über ein mit Büchern vollgestelltes Schlafzimmer, eine spartanisch eingerichtete Küche von der Größe eines Campingwagens und eine Toilette, die der Hauseigentümer einst mitsamt einer Duschkabine in einen ehemaligen Putzschrank hineingebaut hatte.

      Der Professor verdiente – ohne Vortrags- und Autorenhonorare – ungefähr eine Viertel-Million Euro