gehörten. Sie wohnten alle weit verstreut. Man brauchte mehr als einen Tag, um im Sommer zu Pferde den See einmal zu umrunden. Er war länglich wie ein Schlauch, oft versumpft und verlandet, als handele es sich um drei oder vier verschiedene, hintereinander liegende Seen, die nur durch den Fluss verbunden sind. In dem engen Tal, eingeklemmt zwischen der imposanten Gipfelkette des gelben Berges auf der südlichen und dem spitzen Massiv des Nairgadin auf der nördlichen Seite, füllte der See die größten Teile des Talgrundes aus.
Während Bowolf den treuen Mor weiter zum Galopp zwang, sah er vor sich im Sternenlicht die hüpfenden Konturen der Rätiser. Ihre Pferde waren schnell. Sie hatten den Raubzug gut geplant. Sie wussten, dass die Mooka ihr Dorf nicht ernsthaft bewachten, und dass die Pferde der Mooka auf der dem See abgewandten Seite des Dorfes standen. Sie hatten die Hütten der Weiber ausspioniert und dann schnell und geräuschlos getötet.
„Gangam, Gangam!“ Bowolf schnaubte in ohnmächtiger Wut immer wieder diesen Namen in die Nacht.
Töten, töten, töten. Unbedingte Mordlust kochte in Bowolf. Er wollte Gangams Blut trinken, sein Herz herausreißen, seine Eingeweide über einem Misthaufen ausstreuen, sein Gehirn ausschlürfen. Er wollte das Messer in Gangams Brust stoßen und dort herumdrehen und herumdrehen. Er wollte ihm mit bloßen Händen die Augen aus den Höhlen und die Zunge aus dem Schlund reißen. Er wollte ihm das Gemächt mit der Steinaxt vom Unterleib schlagen, ihn lebendig über glühenden Holzscheiten rösten. Er wollte ihn ertränken, erwürgen, erdolchen, zerquetschen, in viele Einzelteile zerhacken. Er wollte ihm Seta wieder entreißen. Niemand durfte es wagen, die Häuptlingsfrau zu rauben. Kein anderer Krieger durfte sie besitzen. Da wurde Bowolf zum Raubtier. Das endete mit dem Tod.
Er erreichte das andere Seeufer. Im klaren Licht der Sterne erkannte Bowolf die Spuren der Flüchtigen. Die Rätiser ritten in einer Reihe hintereinander. So konnte Bowolf ihre Zahl nur schwer schätzen. Zwei mal zwei Hände, so hatten ihm die eigenen Leute zugerufen. So viel? Und sie hatten die Frauen als Beute, eine Hand und zwei. Die Frauen der Mooka wüssten sich zu wehren. Sie würden jede Gelegenheit nutzen, die Flucht ihrer Entführer zu behindern. Sie würden versuchen, Zeit zu gewinnen. Wenn es möglich war, so würden sie vom Pferd fallen. Die Rätiser mussten also aufpassen und antreiben.
Keine Frage, Bowolf würde nachziehen und bald würde er die Flüchtigen einholen; vielleicht sogar noch in dieser Nacht, spätestens morgen. Wie sollte er dann vorgehen? Bisher hatten ihn seine Raserei und der mächtige Wunsch nach Rache angetrieben. Nun, da er am jenseitigen Seeufer stand und die Fährten im Schnee betrachtete, besann er sich. Dem Pferd schäumte das Maul. Bowolf war zu schnell galoppiert.
Er war kopflos losgeritten. Nun erst besah er sich seine Ausrüstung. Den Bogen trug er bei sich. Im Köcher besaß er einen Satz Pfeile, zwei Hände und zwei. Dann trug er sein Steinmesser im Ledergürtel, die steinerne Streitaxt baumelte an seiner Seite. Am Gürtel hing der Beutel mit den Feuersachen, sein persönlicher Talismann, ein paar Tauschmuscheln. Er trug die Fellschuhe und die ledernen Beinkleider, in denen er sich am Abend zum Schlafen hingelegt hatte, das Oberhemd aus Kaninchenfell und den groben Fellumhang. Zwar schwitzte er vom schnellen Ritt, aber die eisige Kälte dieser Winternacht in den hohen Bergen zupfte bereits an ihm. Das erinnerte ihn unerbittlich daran, dass der Winter im Bunde mit dem Tod stand. Bowolf hatte keine Vorräte bei sich. Auch nichts für Mor. Mit dieser Ausstattung musste er nach spätestens zwei Tagen die Verfolgung abbrechen und zum Dorf zurückkehren.
Bowolf besah sich seine Hände, bewegte die Finger gegen die Kälte. Gangams Leute: Zweimal zwei Hände! Eine solche Verfolgung war hoffnungslos. Was konnte er ausrichten?
Er blickte zu den Sternen hinauf. Großer Ahnherr, was soll ich tun? In seiner Hilflosigkeit schrie Bowolf in die Nacht hinaus. Das half, die Ohnmacht einzudämmen. Schließlich nahm er Mor am Zügel und stapfte mit ausgreifenden Schritten in der Spur der Rätiser weiter durch den Schnee. Auch sie waren abgestiegen. Ihre Fußspuren führten neben den Hufspuren der Pferde her. Tief waren sie in den Schnee eingesunken. Es war nicht die Jahreszeit zum Reiten. Auch nicht die Jahreszeit, um zu kämpfen. Es war die Jahreszeit, in der man bei den Mooka in den Hütten ums Feuer sitzt.
In der frühen Morgendämmerung erreichte Bowolf eine Stelle, wo die Rätiser sich vom Seeufer weg bewegt hatten. Ihre Spuren führten nun stetig bergwärts. Der Schnee lag weich und tief. Über den Kämmen des Nairgadin blinzelten die ersten Sonnenstrahlen. Der Tag würde klar und kalt werden wie seine Vorgänger. Bowolf schlug sich die Arme um die Schultern. Der stramme Marsch hatte seinen Körper auf Temperatur gehalten, dennoch kroch die Eiseskälte durch alle Fellschichten. Bowolf sog die Luft durch die schmal geöffneten Lippen ein. Kleine Eiszapfen hingen an seiner Nase, Bart und Haare bildeten eisige Klumpen. Auch der Winterpelz von Mor war über und über mit eisigen Klümpchen behangen.
Bowolf verfolgte die Spur im Schnee. Sie zog sich die Bergflanke entlang und verschwand hinter einer gewölbten Kuppe. Jetzt, da das Tageslicht die Szenerie beleuchtete, sah er auch die vereinzelten roten Flecken daneben.
Er erklomm die Kuppe. Mor keuchte hinter ihm und arbeitete schwer. Das Pferd war hinderlich. Es hielt ihn nur auf. Der ganze Gewaltmarsch war eine einzige Dummheit. Wie wollte er zweimal zwei Hände Rätiser überlisten? Wie die gefangenen Frauen befreien? Dennoch konnte Bowolf sich nicht zur Umkehr entschließen. Irgendetwas am Vorgehen und der raschen Flucht der Rätiser ließ ihn zögern. Ein solcher Überfall mitten im Winter war einfach zu ungewöhnlich. Da stimmte etwas nicht.
Jetzt hatte Bowolf die Spitze der Kuppe erklommen. Er kauerte im Tiefschnee nieder und spähte vorsichtig darüber hinweg. Auf der anderen Seite breitete sich eine kleine Senke aus, durch welche die Spur der Rätiser kerzengerade hindurchführte. Dahinter wuchs als unwirtliche Felswand der erste Ausläufer des gelben Berges in die Höhe. Bowolf stach eine dünne, fast unsichtbare Rauchfahne ins Auge, die sich aus einer dunklen Öffnung im unteren Teil der steilen Wand an den vereisten Felsen emporfädelte. Eine Höhle im Berg. Dort glimmte ein Feuer, sonst gäbe es die Rauchfetzen nicht. Wer immer es angeschürt hatte, er verstand die Kunst, es so zu tun, dass nur dünner, weißer Rauch daraus aufstieg, den man auf größere Entfernungen kaum mehr vom Schnee und vom weißen Himmel unterscheiden konnte.
Aber Bowolf konnten sie nicht täuschen. Er spähte angestrengt hinüber zu dieser schwarzen Öffnung in der Felswand. Wo waren die Pferde der Rätiser? Sie konnten ihre Tiere unmöglich dort hinauf gebracht haben. Mit den Augen verfolgte er die Spuren, die sich wie eine zackige Naht im Schnee durch die Senke zogen. Sie führten zu einem großen Fels- und Geröllblock, der vorgelagert vor der steilen Wand lag.
Bowolf grübelte und beobachtete und fror. Immer wieder musste er sich aus der Kuhle, die er sich im Schnee gegraben hatte, erheben und mit Mor ein Stück weit die Kuppe hinab und wieder hinaufsteigen. Ohne diese regelmäßige Bewegung wären Mann und Pferd binnen weniger Stunden festgefroren. Nur schemenhaft nahm er in größeren Abständen Bewegungen im Höhleneingang wahr. Wenn die Rätiser sich tatsächlich mit ihren Gefangenen dort oben eingenistet hatten, dann waren sie äußerst vorsichtig.
Bowolf brauchte ein Feuer. Er entschied sich, den Beobachtungsposten aufzugeben. Er würde in der Nacht oder am frühen Morgen dorthin zurückkehren. Stattdessen suchte er sich in sicherer Entfernung ein kleines Gehölz mit schützenden Felsen, wo er gefahrlos ein Feuer entfachen konnte.
Er befand sich weit unterhalb der Baumgrenze. Die krüppeligen Zirbel- und Latschenkiefern, Strauchbuchen , Lärchen und Krummholzgewächse, die hier noch gediehen, boten gut entflammbares Holz. Mit steifen Fingern nestelte er den Zunderschwamm aus seiner Gürteltasche und verteilte kleine Späne, die er davon abschabte, auf einem Stein, den er vom Schnee befreit hatte. Er häufte die Zunderflocken zu einem kleinen, nestartigen Aufbau an. Darüber legte er kleinere Holzsplitter und Fetzen von trockenem Moos. Kleine Äste und Rindenstücke bildeten eine Schutzhülle um den Aufbau. Er nahm den Pyrit, der zu seiner Ausrüstung gehörte, und einen Feuerstein, den er stets bei sich trug, und schlug die beiden Brocken gegeneinander. Sofort schlugen Funken daraus hervor und entzündeten die Zunderflöckchen. Es glimmte, knisterte und qualmte, dann fraß sich ein erstes Flämmchen durch Späne und Moosfetzen. Im ersten Versuch fanden die Flammen Nahrung. Bowolf schob kleinere Ästchen nach. Schon züngelte das Feuer weiter. Jetzt konnte er große Aststücke dazuschieben. Sobald ein rechtes Lagerfeuer