Alex Stock

Liturgie und Poesie


Скачать книгу

kommt es da vielleicht zu schnell. Man braucht vielleicht den Raum der Messe, damit so ein persönliches Echo auf eine Lesung möglich wird. In Gesangbüchern des 19. und 20. Jh war das Lied „Jesu, dir leb ich“ vor allem als Gesang „nach der Wandlung“ vorgesehen.

      Nein, das Lied ist gewiss kein Spitzenwerk der deutschen Lyrik, aber es ist ein von der Schrift inspiriertes Lied von intimer Emotion und geprägter Form, das liturgisch seinen bestimmbaren Ort haben könnte. Der „sensus fidelium“, der dem Lied im 20. Jh. eine von den bischöflichen Autoritäten abgesegnete „temporale Stabilität“28verliehen hat, hat an einem Stück religiöser Volkspoesie festgehalten, für dessen Qualität sich auch poetisch-theologische Gründe ins Feld führen lassen.

      Um ein Lied von nachweisbar „langdauernder Beliebtheit“29 und volkspoetisch gefasster theologischer Substanz, dazu von bescheidenem Raumanspruch aus dem gemeinsamen Liederschatz durch autoritativen Beschluss auszuschließen, bedürfte es starker Argumente. Der Redaktionsbericht gibt darüber keine Auskunft. Man kann nur vermuten, dass es sich um ein Geschmacksurteil aus der besonderen klimatischen Situation um 1970 handelt. Da die theologische Substanz des Liedes – wie die Aufnahme von Röm 14,7 f. in die Leseordnung zeigt – offenbar nicht angefochten wird (wie das in anderen Fällen bzgl. der Mariologie, Sakramententheologie, Ekklesiologie geschehen ist), könnte der Grund in jener besonderen Jesus-Frömmigkeit liegen, die sich hier aussingt. Der liturgischen Objektivität altkirchlicher Kyrios-Frömmigkeit den Vorzug vor der „gotisch“-subjektiven Jesus-Andacht zu geben, war ein gängiger Impetus der jugendbewegten Liturgiebewegung, deren Veteranen ja um 1970 in kirchlich maßgebende Positionen gelangt waren. Zur gleichen Zeit entdeckte die historisch-kritische Exegese den historischen Jesus, zu dem man ein Verhältnis der intentionalen Sympathie, aber nicht einer irgendwie erotischen Devotion aufbauen konnte. Die Sakramententheologie favorisierte den kommunitären, nicht den subjektiv-intimen Charakter der Kommunion. Wenn dies die Gründe der Ablehnung gewesen sein sollten, so ist ihre Anwendung doch nicht konsistent gewesen, insofern andere Lieder vergleichbarer Frömmigkeitshaltung wie „Schönster Herr Jesu“, „Morgenstern der finstern Nacht“ oder „O Jesu, all mein Leben bist du“ durchaus aufgenommen wurden. Sollten es letztendlich musikalische Bedenken gegen die Melodie des Liedes gewesen sein, so muss ich das Urteil darüber delegieren.

      Qualität ist natürlich eine relative Größe und man könnte sagen, dass – meine Überlegungen in Ehren – es eben doch bessere Lieder gäbe, die im „Gotteslob“ jenem „Jesus, dir leb ich“ gegenüber entschiedenen Vorzug verdienten. Wir wollen das überprüfen an einem Lied, das derselben Abteilung „Lieder zu Jesus Christus“ angehört und etwas mehr Raum in Anspruch nimmt als das verworfene Stück. Es ist das Lied Gotteslob Nr. 552 „Alles Leben ist dunkel“. Der Text stammt von Maria Luise Thurmair, verfasst im Jahre 1971, die Weise von Wolfram Menschick, Domkapellmeister in Eichstätt, aus dem Jahre 1973. Das Lied hatte, wie man sieht, bei seinem Eingang ins Gesangbuch überhaupt keine Probezeit im Gemeindegebrauch hinter sich, es wurde ad hoc angefertigt. Zur Genese ist dem Redaktionsbericht zu entnehmen, dass es aus einer Ausschreibung hervorgegangen ist.30 Die für die Lieder zuständige Subkommission hatte, um von ihr festgestellte „Lücken im Liedgut“ zu schließen, den Weg gezielter (an drei bis fünf Personen gerichteter) Ausschreibungen und direkter Aufträge eingeschlagen.31 Von den 30 auf solchem Wege neu entstandenen Texten stammen 16 von Maria Luise Thurmair.32 Thurmair war Mitglied der ausschreibenden Subkommission und Leiterin des von dieser eingesetzten Arbeitskreises „Texte“.33

      Bei der Aufnahme eines solchen Liedes in den allgemeinen Liederschatz muss die poetisch-theologische Qualität besonders hoch sein, da es ohne gemeindliche Bewährung gemeindlich bewährte Gesänge ersetzen soll.

      Das auf dem bezeichneten Kommissionsweg in das „Gotteslob“ (Nr. 552) gelangte Lied lautet:

       „Alles Leben ist dunkel. Keiner weiß, wo er endet. Jeder sehnt sich nach Glück. Gott hat ein Herz für den Menschen: Jesus ward einer von uns.

       Jesus lebt unser Leben. Jesus trug unsre Sünden. Jesus starb unsern Tod. Gott hat ein Herz für den Menschen: Jesus ist einer von uns.

       Mitten in Jesu Worten, mitten in Jesu Taten schlägt dies Herz für die Welt. Gott hat ein Herz für den Menschen: Jesus ist dieses Herz.“

      Im Unterschied zu den meisten älteren Christusliedern beginnt dieses neue nicht mit einer Anrufung an Jesus Christus, sondern es beginnt mit drei anthropologischen Generalsätzen in der logischen Form von All-Aussagen bzw. deren Negation: Alles, Keiner, Jeder. Nach den Regeln der Prädikatenlogik haben allquantierte Sätze einen sehr sensiblen Wahrheitswert. Der erste Satz („Alles Leben ist dunkel“) ist selber semantisch sehr dunkel und bei logischer Aufhellung doch wahrscheinlich nicht zutreffend. Der zweite Satz („Keiner weiß, wo er endet“) wäre schon dann falsch, und zwar für alle, die ihn aussprechen, wenn ein einziger es unwiderleglich wissen sollte, was nach Koh 3,19 f. nicht auszuschließen ist. Der dritte Satz: („Jeder sehnt sich nach Glück“) ist wegen der unbegrenzten Substituierbarkeit des Ausdrucks „Glück“ von jener unwiderleglichen Trivialität, die (ohne Zusatzargument) von der Sentimentalität der Schlager mindestens genau so effektiv bedient werden kann wie von geistlicher Soteriologie.

      Zu den logischen Schwächen kommen christologische. Der Zusatz „Jesus ward einer von uns“ ist dogmatisch irreführend. „Jesus“ ist nach biblischem und allgemein-theologischem Sprachgebrauch der Name, der diesem Menschenkind, dem Sohn der Jungfrau Maria nach seiner Geburt gegeben wurde. Jesus „ward nicht einer von uns“, er ist es von Anfang an gewesen, sofern mit „einer von uns“ gemeint ist, dass er die gleiche menschliche Natur hatte wie wir. Gemeint ist offenbar, aber eben nicht gesagt, dass „Gott“ einer von uns ward, also Mensch geworden ist, wie Martin Luther im Sinne der johanneisch-nizänischen Inkarnationstheologie korrekt dichtet: „Der Sohn des Vaters, Gott von Art / ein Gast in der Welt hier ward“ (EG Nr. 23, Str.5). Man tut dem Satz „Jesus ward einer von uns“ vielleicht zu viel Ehre an, wenn man ihn als häretisch bezeichnet, aber er gehört zu den christologischen Schludrigkeiten, deren Folge (durch Doppelpunkte verschleierte) logische und soteriologische Unklarheiten im parataktischen Gefüge des Ganzen sind.

      Nach Auskunft des Redaktionsberichts ist die Ausschreibung für dieses Lied aus den „Bemühungen der Sonderkommission um ein neuzeitliches Herz-Jesu-Lied“34 hervorgegangen. Die Herz-Jesu-Verehrung ist eine spezifisch katholische Devotionsform, die zur öffentlichen Kultausübung erst seit dem 17. Jh. drängte und von der Mitte des 19. Jh. bis zur Mitte des 20. Jh. ihre frömmigkeitsgeschichtliche Blütezeit erlebte. Diese für den neueren Katholizismus höchst prägende Kultform hatte in Liedern wie P. Gerhardts „O Herz des Königs aller Welt“35 oder Guido Maria Drewes‘ Lied „Ein Herz ist uns geschenket“36 – das erste (bearbeitet) im „Gotteslob“, das zweite nicht – genuinen Ausdruck gefunden. Eine Frömmigkeit, die man in ihrer genuinen Devotionsform offenbar nicht mehr goutiert, durch eine kurzfristig angelegte Auftragsarbeit modernisieren zu wollen, scheint mir eine religiöse Marktfiktion zu dokumentieren, die sich von gewachsener Frömmigkeit weit entfernt hat. Die älteren Herz-Jesu-Lieder sind in ihrer sprachlichen Form eine Ausübung dieser besonderen Frömmigkeit, im vorliegenden neuen Lied werden ausgedachte Grundsätze einer Herz-Jesu-Theologie in Versform vorgelegt, die sich dem modernen Bewusstsein anzudienen sucht, indem sie mit idiomatischen Wendungen wie „ein Herz haben für“ und „einer von uns“ den genuinen Symbolkern der Herz-Jesu-Verehrung äußerlich umspielt, um ihn schließlich durch einen metaphorischen Christustitel („Jesus ist dieses Herz“) zu ersetzen. Ob dieses Lied, das ja keine praktische Vorgeschichte hatte, ehe es ins Gesangbuch gelangte, mit dessen Hilfe eine praktische Nachgeschichte hatte, also in dem seit den siebziger Jahren noch schmaler gewordenen Reservat der Herz-Jesu-Frömmigkeit erwähnenswerte Aufnahme gefunden hat, vermag ich nicht zu sagen.

      Die Künstlichkeit dieses Konstrukts zeigt sich schließlich in seiner mangelnden Kunstfertigkeit. Symptomatisch dafür ist das in einem modernen Text antiquierte „ward“ und eine Kleinigkeit in der zweiten Strophe. Elisionen sind in der Kirchenliedgeschichte durchaus üblich; diese aber („Jesus lebt‘ unser Leben“) verunklart das geschriebene Präteritum in ein zu hörendes Präsens.