Alex Stock

Liturgie und Poesie


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lassen. Sollte jemand einwenden, meine Bewertung des Liedes sei zu kritisch, so möchte ich die Forderungen in Erinnerung bringen, die Maria Luise Thurmair selbst für die Auswahl von Liedern formuliert hat: „Die Lieder sollten in ihrer theologischen Aussage richtig sein, den Anforderungen der Liturgie entsprechen, künstlerisch wertvoll sein, für den heutigen Menschen vollziehbar sein, für das gesamte deutsche Sprachgebiet gelten, in möglichem Umfang ökumenisch sein.“37 Die selbstformulierten Kriterien hätten die Annahme des Liedes verhindern müssen.

      Ich wähle zur Gegenprobe ein Lied des großen Jesuitenpoeten Friedrich Spee, das Lied „Tu auf, tu auf, du schönes Blut“. Es steht als Barockgedicht von hohem Rang in Spees „Trutz-Nachtigal“38 und zur geistlichen Anwendung ausgelegt in Spees „Güldenem Tugend-Buch“39. Es ist in die katholische Gesangspraxis aufgenommen und darin über Jahrhunderte beibehalten worden.40 1939 stand es in dem weit verbreiteten „Kirchenlied“; 1947 gehörte es zum Kreis der 74 bischöflich beschlossenen deutschen Einheitslieder. 1973 wurde es für den Stammteil des „Gotteslob“ gestrichen mit der Begründung: „Dieses Gedicht von Friedrich Spee 1638 ist eine eindringliche, gereimte Bußpredigt, jedoch belastet mit heute unverständlichen Ausdrücken und Bildern, die sich ohne Zerstörung des Ganzen nicht modernisieren lassen … Nachdem T (= der Text) von den Diözesen mehrheitlich abgelehnt worden war, wurde das Lied nach langer Diskussion 1973 von der HK (= Hauptkommission) gestrichen, auch im Hinblick auf andere treffliche Bußlieder“.41

      Für die Qualität des Liedes spricht seine lange kirchliche Gebrauchsgeschichte und sein literarischer Rang. Eben letzteres aber, seine barockpoetische Qualität, scheint ihm in den Augen der neuen Gesangbuchmacher zum Verhängnis geworden zu sein. Es sind die „Ausdrücke und Bilder“, die es mit Unverständlichkeit belasten. Das Lied widersetzt sich, wie das große Poesie zu tun pflegt, der Modernisierung und wird, weil es sich dem hermeneutischen Horizont der Heutigen nicht fügen will, eben fallengelassen, um anderen „trefflichen Bußliedern“ Platz zu machen.

      An Friedrich Spees Lied lässt sich das bei der Bewertung von Liedern immer wieder begegnende Argument der Unverständlichkeit bzw. Unvollziehbarkeit älterer Bildwelten erörtern. Bei der Handhabung dieses Kriteriums werden nicht selten semantische und normative Gesichtspunkte miteinander vermischt. Im ersten Fall handelt es sich darum, dass man die Bedeutung von Wörtern und Sätzen, zumeist aufgrund der stattgehabten Sprachentwicklung, nicht unmittelbar versteht oder missversteht. Solche Verstehensprobleme kann man durch Erläuterung oder notfalls durch sprachliche Bearbeitung beheben. Im anderen Fall handelt es sich darum, dass man die Bedeutung wohl versteht, ihre Geltung aber nicht akzeptiert. Dieser zweite Fall wiegt schwerer, weil er den diachronen Konsens der Glaubensgemeinschaft berührt, der sich ja in der Konsonanz der generationenübergreifenden Singtradition bekundet. Ich bin der Ansicht, dass man diesen Konsens nicht allzu leicht aufkündigen sollte, weil sich möglicherweise im Einklagen jetztzeitiger Glaubwürdigkeit nur die undurchschaute Beschränktheit des eigenen Zeitgeistes durchsetzt. Hermeneutische Prüfung ist umso mehr angesagt, je höher der poetische Rang und je stärker die praktische Singtradition sind. Beides steht bei Spees Lied „Tu auf, tu auf, du schönes Blut“ außer Frage.

      Im Redaktionsbericht wird Spees Lied dem Urteil unterworfen: „Es gibt Lieder aus den verschiedenen Epochen, die nicht mehr tragbar sind, weil es vielen Gottesdienstbesuchern unmöglich ist, sich mit ihnen zu identifizieren.“42 Es ist also letztlich kein semantisches, sondern ein normatives Problem.

      Die hier gedichtete Bußtheologie wird für inkompatibel gehalten mit der heute herrschenden; ein Rückfall in glücklicherweise überwundene Vorstellungen wird befürchtet. Wenn man jedoch in angemessener hermeneutischer Demut großer Tradition gegenüber das herrschende Bewusstsein nicht für das non plus ultra hält, könnte gerade in dem Fremdgewordenen auch Vergessenes und Verdrängtes entdeckt werden und vielleicht ein Potential, über den erreichten Bewusstseinsstand ohne Regression hinauszugelangen.

      Nur eine eingehende Analyse könnte den poetisch-theologischen Gehalt des Liedes zum Vorschein bringen. Zum vorläufigen Qualitätsnachweis möchte ich auf zwei geistliche Dimensionen hinweisen. Das Lied entwickelt zunächst eine theologische Kardiologie, deren metaphorische Mitte das Bild der Festung, der Herzensburg ist. Aus Herzenskenntnis also wird bei Spee Sünde als Verschanzung, Unzugänglichkeit, Verhärtung und Verschließung des Herzens gesehen und die Bekehrung als Öffnung, als Aufgabe der inneren Blockade und Versteinerung. Könnte es sein, dass in solcher geistlichen Poesie kardiognostische Einsichten aufbewahrt sind, die heutzutage ganz in die säkulare Domäne der Psychotherapeuten abgewandert sind, von wo sie dann pastoralpsychologisch wieder adaptiert werden? Das zweite Moment, das zu bedenken wäre, ist die in den letzten beiden Strophen hervortretende Eschatologie als Beschwörung der Gefahr, sein einmaliges, begrenztes Leben zu verspielen. Auch hier ist vielleicht manches aufgehoben, was durch eine Art Beschwichtigungsthanatologie in die Latenz gedrängt worden ist.

      Bei der Frage der heutigen Vollziehbarkeit oder Unvollziehbarkeit älterer Lieder geht es nicht darum, fremd anmutende Stücke der geistlichen Poesie daran zu messen, ob sie sich in das herrschende Bewusstsein problemlos einpassen, sondern ob sie durch theologisch-spirituellen Sinngewinn darüber hinauszuführen imstande sind. Mit seinem poetischen Rang und geistlichen Gehalt, könnte Spees Lied den konzessionierten zehn Bußliedern des „Gotteslob“ durchaus das Wasser reichen. Liturgiefunktional bietet im Übrigen gerade die Fastenzeit wegen ihrer zeitlichen Länge sowohl in den Messen wie in den gerade zu dieser Zeit am ehesten noch üblichen Andachten genügend Raum für das Singen und predigende Besprechen eines weiteren Bußliedes.

      In anderen Fällen hat der Abwehrreflex gegenüber den imaginativen Zumutungen barocker Poesie dazu geführt, auf überlieferte Texte nicht einfach zu verzichten, sondern sie durch Ausbesserungen tolerabel zu gestalten. Solche Textbearbeitungsarbeit begleitet die Gesangbuchgeschichte auf allen ihren Wegen. Auch lyrische Werke von höherem Rang sind, wenn sie in diesen Gebrauchszusammenhang geraten, davor nicht sicher.

      Als Beispiel nehme ich das ökumenisch hochwertige Lied „Morgenglanz der Ewigkeit“. Dass Knorr von Rosenroths Lied zu den Perlen nicht nur des Kirchengesangs, sondern der deutschen Poesie überhaupt gehört, lässt sich in Anthologien nachprüfen.43 Das ursprünglich siebenstrophige Gedicht ist in der evangelischen Tradition (EKG Nr. 349 / EG Nr. 450) auf fünf Strophen zurückgenommen; über den theologischen Entlastungsgewinn, den man sich mit der Streichung des Morgennebels und der Kleiderfrage aus diesem von Knorr von Rosenroth sehr konsistent entfalteten geistlichen Morgenszenarium einhandelt, könnte man streiten; aber hier hat die Gesangspraxis entschieden.

      Die Bearbeitung im katholischen „Gotteslob“ (Nr. 668) geht aber entschieden weiter. Sie hat von der Perle nur einen Splitter behalten, nur die erste Strophe, die Strophen zwei bis vier sind eine Neudichtung, die 1969 von Maria Luise Thurmair im Auftrag der Sonderkommission ausgeführt wurde.44 Sie geht dabei von der Unterstellung aus, dass es sich hier nicht um „literarisch Wertvolles“ handelt, sondern um ein Stück „Gebrauchsdichtung, das, wenn nötig stärker verändert oder neu gefasst“45 werden dürfe. Wenn das Evangelische Gesangbuch bei diesem Lied die Markierung „ö“ („ökumenisch“) hat, so ist das, jedenfalls auf das offizielle katholische „Gotteslob“ bezogen, irreführend.

      Die neue Fassung soll angeblich „die Morgensituation des modernen Menschen berücksichtigen“46, das Werkbuch zum Gotteslob erläutert: „dabei wurde dringend gefordert, in den Morgenliedern nicht nur vom fröhlichen Erwachen zu sprechen, sondern auch die Situation des modernen Menschen zu berücksichtigen, der vielfach bedrängt und bedrückt den Belastungen des neuen Tages entgegengeht.“47 Als ob Knorr von Rosenroth einfach vom „fröhlichen Erwachen“ spräche und von den Nöten des Tagesanfangs keinen Schimmer hätte. Das Urteil verrät die oberflächliche Lektüre. Der poetisch-theologische Erfolg der daraus erwachsenen Totaloperation lässt sich aber wohl auf die Kriegskassendevise aus dem ersten Weltkrieg bringen: „Gold gab ich für Eisen.“

      Dieses Verdikt ist keineswegs zu verstehen als nostalgische Aversion gegen modernes Liedgut, nur, jene drei neuen Strophen sind eben gar nicht modern. In neuer Fassung lautet die zweite Strophe:

       „Such uns heim mit deiner Kraft, o