was wir kennen, hinausgeht; und ein noch größerer Narr und ganz von Verstand derjenige, der sich abmüht, den Anfang der Dinge erkennen zu wollen; und ganz und gar von Sinnen, wer Gottes geheime Gedanken ergründen will.“
(Übersetzung von János Riesz)
Vorwort
Seit geraumer Zeit fasziniert mich die neue Engelreligion. Hinter dem schon oft besprochenen Engel-„Boom“ steckt mehr als eine Mode. Aber was? Ein Gespür für überirdische Mächte? Eine neue Wahrnehmung des Himmlischen? Eine Absage an die reduzierte Weltsicht unserer rationalistischen Kultur? Oder nur eine Art von Gläubigkeit, die sich dem Markt angepasst hat und den Konsumismus ins Religiöse verlängert?
Die Engelreligion schickt sich an, die Religion der Zukunft zu werden. Ihre weltweite und wachsende Verbreitung, ihre undogmatische, den Bedürfnissen der Menschen von heute entgegenkommende Art prädestiniert sie dazu. Sie vermag sich mit allen früheren Religionen zu verbinden, sie schöpft aus ihnen, auch aus dem Christentum. Wie steht sie zum christlichen Glauben? Wie können Christen zu ihr stehen? Die Engelreligion trifft das Christentum an einer empfindlichen Stelle. Gerade hat die Theologie mit Mühe den Glauben entmythologisiert, da kommt ihr das ganze mythologische Material wieder entgegen, in einem sehr zeitgemäßen Gewand: alte Bekannte in neuen Kleidern, die doch in den Kirchen kein Heimatrecht mehr haben. Haben die christlichen Kirchen den religiösen Zug der Zeit verpasst?
Das sind die Fragen, die mich in diesem Buch bewegen. Ich versuche, dem Phänomen der Engelreligion gerecht zu werden, es so genau wie möglich zu untersuchen. Davon habe ich sehr profitiert. Von Seiten des christlichen Glaubens gibt es natürlich Einwände. Die Engel der Bibel sind nicht so wie die Engel der neuen Engelreligion. Sie folgen einem anderen Gesetz. Und Gott ist der Schöpfer des Himmels, mithin auch der Engel in ihrer Macht; davon ist in der Engelreligion nicht die Rede. So gibt es allen Anlass, die Engellehren der Theologie noch einmal durchzumustern. Im Lichte der neuen Engelverehrung zeigen sie eine überraschende Aktualität, aber sie müssen sich auch korrigieren lassen. Am Ende wird die Einsicht stehen, dass das Christentum gut daran tun wird, der Engelreligion mit offenen Armen zu begegnen. Und die Einladung an die Gläubigen der Engelreligion, sich dem christlichen Glauben zu öffnen.
Danken möchte ich allen, die die Entstehung dieses Buches unterstützt haben, vor allem Frau Gudula Frieling für ihren theologischen Rat und Herrn Sebastian Peters für seine wertvollen Hinweise zur Heavy-Metal-Szene, der dunklen Seite der Engelreligion.
Gewidmet sei dieses Buch meinem Vater, der den Doctor angelicus des Mittelalters, Thomas von Aquin, immer sehr verehrt hat. Wenn ihn dereinst die Engel in das Himmelreich geleiten, wird er die Wahrheit über sie erfahren.
Dortmund, im Februar 2010
Thomas Ruster
I. Die neue Engelreligion
1. Eine Religion für unsere Zeit
Die alten Religionen, das Christentum voran, ringen um ihren Fortbestand. Ihre Zeit scheint abgelaufen zu sein. Mit ihrer schwierigen Dogmatik, ihrer aus den Jahrhunderten belasteten Geschichte und ihren aus früheren Gesellschaftsphasen stammenden Formen sind sie das Erbe einer Vergangenheit, das es schwer hat, sich in unserer Zeit zu behaupten. Aber keine Zeit kann ohne Religion sein. Und schon hat sich eine neue Religion herausgebildet, weltweit und in den Herzen unzähliger Menschen fest verankert: die Religion der Engel. Die schier unglaubliche Konjunktur der Engelliteratur ist ein Index für ihre Verbreitung.1 Was ist das für eine Religion? Was sind ihre Überzeugungen, in welcher Weise nimmt sie Transzendenz wahr, welche Heilsversprechen und Verheißungen macht sie? Wie stellt sie Erlösung von der Macht des Bösen und des Todes in Aussicht? Ein Durchblick durch einige Veröffentlichungen der Engelliteratur, wie man sie heute in allen Buchläden überreich findet, soll helfen, diese Fragen zu beantworten.2 Es wird sich zeigen: Die Engelreligion entspricht in idealer Weise den Anforderungen an eine moderne, zeitgemäße Religion. Sie gibt den Menschen schlicht und einfach das, was sie als Religion brauchen. Sie ist den Bedingungen angepasst, unter denen Menschen heute religiös sein können und wollen. Doch schauen wir genauer hin.
Das erste Merkmal der Engelreligion ist: Sie braucht keinen Glauben an Gott, sie kann sich allein auf Erfahrung und Wahrnehmung verlassen. „Ich glaube nicht an Gott, nicht an Adam und Eva, nicht an das, was in der Bibel geschrieben steht. Ich glaube an höhere Mächte“, erklärt Giulia Siegel, die grünäugig-blonde Tochter des Schlagerproduzenten Ralph Siegel, die selbst ein wenig wie ein Engel aussieht. „Für mich waren die Engel schlicht immer schon etwas ganz Normales.“ Ihre Ansichten will sie niemandem aufdrängen, will niemanden „vergewaltigen“. Sie weiß: Engel kann man nicht beweisen, man braucht es auch nicht. Es genügt ihr, „einfach zu versuchen, meine Begegnungen mit den Engeln mit meinen Augen zu beschreiben“. Und an die Leser ihres Buches ergeht die Aufforderung: „Frag also nicht, sondern bitte – und du wirst sehen, dass du gehört wirst.“3
Solche Bekundungen finden sich in vielen Engelbüchern. Die Autorinnen und Autoren – ganz überwiegend sind es Autorinnen – berufen sich einfach auf ihre Erfahrung und bieten an, dass andere daran Anteil haben können. Kein Verweis auf ein schwieriges altes Buch wie die Bibel, auf Offenbarung, Glaubenslehre und Dogmen, dafür ausführliche Schilderungen des eigenen Lebens, der eigenen Begegnungen mit den höheren Mächten. Wie erfrischend ist es, das zu lesen, wenn man etwa einen Katechismus zum Vergleich heranzieht. Und es wird deutlich, dass Giulia Siegels Aussage, sie glaube an höhere Mächte, nicht ganz ernst gemeint ist, jedenfalls nicht im dem Sinne, wie in der Kirche bisher vom Glauben gesprochen wurde. Nicht auf den persönlichen Glauben an einen unsichtbaren, der Erfahrung entzogenen Gott kommt es an, sondern auf die Wahrnehmung. Und es wären ja keine höheren Mächte, wenn sie nicht erfahrbar wären. So weiß Giulia eben, dass Engel da sind.4 Und diese Wahrnehmung ist für alle möglich.
Damit kommen wir zu einem zweiten Merkmal der Engelreligion. Sowenig wie sie Schrift und Dogmen braucht, sowenig braucht sie Priester, amtliche Hierarchie oder sonst eine Vermittlung zu höheren Mächten. Jana Haas, das aus Kasachstan stammende „neue Engel-Medium“, hat in ihren Kursen erfahren, „dass es jedem Menschen möglich ist, sich spirituell zu öffnen, dass jeder Mensch geistige Ebenen und höhere Betrachtungsweisen erlangen und verwirklichen kann“.5 Doreen Virtue, neben Diana Cooper eine führende Gestalt der Engelreligion in den USA, berichtet, wie sie nach einem ihrer Vorträge von einem blonden jungen Mann gefragt wird: „,Was Sie heute gesagt haben – dass jeder mit Gott und den Engeln6 reden kann –, meinen Sie das wirklich? Jeder?‘ Und in seinem Gesicht stand die unterschwellige Frage: ,Meinen Sie, das auch ich mit Gott sprechen kann?‘“ Doreens Antwort ist eindeutig: „,Ich konnte feststellen, dass jeder, unabhängig von seiner spirituellen oder religiösen Sozialisierung oder seinem Bildungshintergrund, klare Mitteilungen des Göttlichen, Mitteilungen aus spirituellen Sphären empfängt, […] direkt, ohne dass ein Priester, ein Hellseher oder [sonst] jemand für mich übersetzt‘“.7 Der junge Mann ist begeistert. Direkte Kommunikation mit dem Göttlichen, für jeden möglich! – es braucht nur ein wenig Übung bzw. die Bereitschaft, den Körper „durchlässiger, transparenter für das Licht zu machen“.8 Der größte Teil der Engelliteratur besteht demgemäß auch in Anleitungen und praktischen Übungen zum Erwerb der Fähigkeiten zur Engelskommunikation. Es können Visionen, Bilder, mentale Vorstellungen sein oder auch Geräusche, Stimmen, Worte oder Ahnungen, Gefühle oder Gedanken, Ideen, plötzliche innere Gewissheiten, in denen sich die Engel anmelden.9 Kontakt mit den Engeln ist auf vielen Kanälen möglich. Um den Kontakt herzustellen, braucht es Entspannung, Achtsamkeit, Sensibilität, wie sie uns im hektischen Alltag normalerweise nicht gegeben sind. Eben deshalb braucht es noch die Übungen in den Engelbüchern, verfasst von denen, die zu einer höheren geistigen Ebene bereits durchgedrungen sind. Die Grundregel lautet: „Öffne einfach dein Herz!“10 Es handelt sich also nicht um geheime esoterische Wissenschaft, nicht darum, den Weg einer Meisterin, eines Meisters zu erlernen und nachzugehen. Vielmehr, und auch das ist ein wichtiges Merkmal dieser Religion, ist der Weg zu den höheren Mächten immer ein ganz individueller. Es ist wesentlich, sagt Jana Haas, „dass jeder