Johannes Hucke

Frühlingsfahrt


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und auf einmal kommt so ein Strolch daher und reißt die Drähte runter! Erbost geht Edelbert Schicke auf die lädierte Stelle zu – und taumelt im gleichen Augenblick zurück. Zwischen den herrlichen Früchten, leuchtend im Frühlicht, hängt ein blutiger Menschenkopf. Der Arbeiter im Weinberg hat nur kurz hingesehen; unwillkürlich schlägt er die Hand vor Mund und Augen. Doch die Zehntelsekunde hat genügt um zu erkennen, dass da ein lebloser Mensch im Weinberg kauert, halb über die Drähte gebeugt, mit einer gewaltigen Wunde im Kopf. In der Rückwärtsbewegung drängt es Edelbert, doch noch einmal hinzusehen. Kein Zweifel, ein Toter. Oder eine Tote? Das ist aus der Entfernung nicht zu erkennen; entstellt sieht die Leiche aus, umgeben von farbigem Weinlaub und den schönsten Trauben. Um alles in der Welt: Was hat dergleichen in Großvillars zu suchen, einem der friedlichsten Örtchen im Rund, wo seit Jahrhunderten keine Gewalttat mehr vorgekommen ist?

      Geschüttelt von Ekel und Entsetzen, wendet sich Edelbert Schicke ab, läuft auf den Trecker zu ... und stolpert. Hart schlägt er hin, rappelt sich sofort wieder hoch. Dabei stellt er fest, dass sich sein Fuß in einem anderen Fuß verfangen hat: Kaum zwei Meter von ihm entfernt liegt eine weitere Leiche: Der Mund ist aufgerissen, die Beine sind verkrümmt, und der Rumpf sieht aus wie mitten entzweigeschnitten. Neuer Schrecken durchfährt den Ahnungslosen. Mit einem Aufschrei schnellt er empor, von einem einzigen Gedanken beflügelt: Weg hier, rasch ins Dorf, die Leute verständigen, die Polizei! Zittrig tastet Edelbert nach seinem Handy. Es fällt ihm aus der Tasche. Er will Armins Nummer wählen, aber die Finger gehorchen nicht.

      „Ruhig, ganz ruhig weiteratmen“, zwingt er sich zum Innehalten. Tastend schiebt er sich voran, gegen den Brechreiz ankämpfend. Endlich am Traktor angekommen, zieht Schicke den Schlüssel aus der Hosentasche. Doch kaum, dass er aufsteigen will, hört er etwas, das ihm zum dritten Mal die Nackenhaare sträubt.

      Von drüben, offenbar aus dem Wengerthäusle, dringt eine Stimme, erst leise, dann immer deutlicher vernehmlich: „Hallo? Hallo?“

      Es folgt ein Pochen. Von da drinnen. Im Wengerthäusle befindet sich also noch jemand. Wer wird das wohl sein, wenn hier draußen zwei Tote liegen? Edelbert lässt den Schlüssel stecken, wendet sich ab. Hilfesuchend blickt er sich um. Nichts, niemand. Nur die beiden entsetzlich zugerichteten Körper.

      Da hört er es wieder: „Hallo? Hallo?“

      Jetzt hält ihn gar nichts mehr. In großen Sätzen hastet der Geplagte zu Tale, mitten durch die Reben hindurch, weg von dieser greulichen Stelle, die noch vor kurzem sein Lieblingsaufenthalt, sein Inbegriff von Idylle und Glück gewesen ist.

      Kaum hat er eine kleine Strecke im Galopp zurückgelegt, hört er es noch einmal aus dem Häuschen schreien: „Hilfe! Bleiben Sie doch stehen! Hallo!“

      Ha, so weit kommt’s noch ... Nein, nicht mit ihm! Darauf fällt er gewiss nicht rein. Wer weiß, was zu dieser Menschenansammlung von Lebenden und Toten im besten Weinberg des Kelterhofs geführt hat, das mögen andere aufklären – und zwar von der Polizei. Einstweilen gilt nur: Rette sich, wer kann!

      Als er die Landstraße erreicht, sieht er von ferne einen Kleintransporter auf sich zukommen. Edelbert winkt, ruft verzweifelt: „Anhalten! Halt!“ Aber der Mistkerl im gelben Lieferwagen fährt einfach weiter, Richtung Bretten, beschleunigt sogar noch. Schicke flucht.

      Schwitzend, völlig außer Atem, trifft er endlich im Ort ein. Als er schon überlegt, ob er beim erstbesten Haus an die Tür pochen soll, biegt eines der Erntefahrzeuge vom Kelterhof an der Kirche ums Eck. Mit beiden Armen winkend wie ein Verhungernder mitten in der Tundra, wenn nach Wochen der Hubschrauber auftaucht, eilt Edelbert Schicke auf die Leute zu. Im Anhänger sitzen lauter Bekannte aus dem Ort, einige kommen sogar von weiter her, bis aus Karlsruhe, um an den Erntefreuden teilzuhaben. Edelberts Kumpel Heiner sitzt am Steuer des leistungsstarken Traktors.

      „Nicht weiterfahren! Nicht!“

      Verwirrt hält der Fahrer neben dem Aufgeregten an, ohne den Motor auszuschalten. „Was hast denn?“

      „Da obe, da obe ... im Wengertshäusle: Da ... da liege zwei Dote! Un einer isch noch im Hüttle un klopft!“

      Ein Halbtoter

      Beginnen wir noch einmal ganz woanders, sozusagen von vorn: im Frühling, wo alles beginnt, was Anspruch auf Vorhandensein erhebt. Wo alles Leben sich erneuen soll, um mit frischem Mut seinen Weg anzutreten – es sei denn, es ist bereits am Ende angekommen. Die Dichter aller Zeiten haben behauptet, es sei besonders grausam, im Frühling zu sterben. Es sei nämlich unzumutbar, teilnahmslos beiseite zu treten, wenn alle sich freuen und ihre Verjüngung bejubeln. Trauernd durch erblühende Alleen zu ziehen, unbeteiligt, doppelt ausgegrenzt, doppelt allein – solch ein Schicksal wäre doch wirklich keinem zu wünschen!

      Diese traurigen Helden auf der Schattenseite des Frühlings, ja, die gibt es freilich auch; von einem solchen müssen wir erzählen, wenn wir die Geschichte erzählen wollen, die am Wengertshäusle zu Großvillars so brutal zu Ende ging. Doch geschieht ja auf Erden nicht alles nach bewährtem Muster, wie dies unsere stets nach Sinn und Verstehen trachtende Einbildungskraft uns vorgaukeln mag; bisweilen treffen Dinge aufeinander, die voneinander nichts ahnen konnten, und vermengen sich im Kontrast, so dass am Ende kein Freund der Wahrheit mehr zu behaupten wagt, man habe kommen sehen, was geschah ...

      Beginnen wir in einem Vorort von Heidelberg, einem jener Stadtteile, die ihre Existenz allein dem Nimbus und der Attraktivität der sandsteinroten Universitätsstadt zu verdanken haben. Hier wohnen Leute, die wohl die Nähe zum Traditionellen suchten, die nimmermehr sagen würden, sie lebten im Emmertsgrund oder auf dem Boxberg oder in irgendeiner namenlosen Neubausiedlung Richtung Wieblingen; nein, es steht ja „Heidelberg“ in ihrer Adresse – und dieser Name glänzt wie ein Ehrenzeichen hinter der nur Eingeweihten auf Anhieb entschlüsselbaren Postleitzahl. – Warum die besagten Rand-Heidelberger kein Domizil in der Mitte bezogen haben oder doch in besser beleumundeten Wohngebieten wie Neuenheim oder Handschuhsheim, ist leicht erklärt: Es fehlte an Kontakten, an Ersparnissen, vielleicht auch an Geschicklichkeit. Freilich, kaum dass man Quartier in der Banlieu bezogen hat, redet man sich aufs Praktische hinaus: die besseren Parkmöglichkeiten, die hervorragende Infrastruktur, die Familienfreundlichkeit.

      Von einer solchen Familie wollen wir berichten, genauer: von ihrem Oberhaupt ... wobei in unserem Falle durchaus keine Bezeichnung weniger zuträfe. Nikolaus Henn (er hieß einmal Grashof mit Nachnamen, bevor er sich verehelichte), langjähriger Mitarbeiter einer Dachziegelfirma im Innenbetrieb, braver Familienvati, Mitglied im ökumenischen Kirchenchor, Besitzer mehrerer goldener Kundenkarten, lebte seit vierzehn Jahren in einer dieser ästhetisch wenig mitreißenden, gleichwohl mit Privatparkplatz und Mini-Gärtchen ausgestatteten Behausungen im Weichbild Heidelbergs. Kaum hatte Annedore – seine Annedore – in den Heiratsantrag eingewilligt, waren die Planungen für einen Umzug aus der Altstadt hinaus in eine „familiengeeignete“ Wohngegend begonnen worden. Für Nikolaus’ Geschmack war das sehr schnell vor sich gegangen; er hätte sich gerne noch Zeit gelassen – mit der Hochzeit, mit dem Umzug, mit dem Kind. Viel lieber hätte er noch ein paar Jährchen damit verbracht, Annedores im Übermaß vorhandene Lieblichkeit ungestört zu genießen.

      Doch Annedore hatte bereits genossen – und zwar ausgiebig, was sich zu Nikolaus’ Erschrecken in unaufhörlichen Konfrontationen mit ehemaligen Liebhabern niederschlug. Wo auch immer sie miteinander unterwegs waren, in Bahnhöfen, Eisdielen, Supermärkten, unablässig trafen sie auf sonderbar schluffige Gestalten, die allesamt ausnehmend vertraut mit ihr taten. Nikolaus wagte Anzeichen von Eifersucht zu zeigen, doch seine Auserwählte lachte ihn aus, was für ein Spießer er doch sei. – Nun, die begehrte Frau, inzwischen deutlich über dreißig, war eindeutig in die Familiengründungsphase eingetreten. Zu diesem Behufe mochte ihr Nikolaus als formbarer Kindsvater, geduldiger Ernährer und fügsamer Hanswurst erscheinen. Auf einmal bekamen die Dinge ihr eigenes Tempo, und er konnte sich mitunter nur noch bestürzt umsehen, bevor er verwirrt hinterdrein hastete. Was ihm dabei in keiner Weise bewusst war: In der Sekunde der Eheschließung im Rathaus am Heidelberger Marktplatz begann die Geschichte seiner Verstoßung.

      Wir treffen auf Nikolaus Henn an jenem Abend Ende März, welcher für ihn mit einem unerwarteten, dabei außerordentlich folgenreichen Einschnitt beginnen sollte. Annedore hatte Kerzen angezündet,