5: Das National Geographic Magazine wurde ab 1896 als „Illustrated Monthly“ für 25 Cents in den USA verkauft.
Die Gesellschaft hoffte, die bislang schleppenden Verkaufszahlen so in die Höhe treiben zu können. Als erster Hersausgeber und Schriftleiter wurde John Hyde, Chef-Statistiker des Landwirtschaftsministeriums der Vereinigten Staaten, eingesetzt.43 Bezahlt wurde er für seine Dienste ebenso wenig wie die Autoren. Unter seiner Herausgeberschaft behandelte das Magazin viele faszinierende Themen wie weltweit auftretende Naturphänomene, aber an einer professionellen Umsetzung, die eine breite Leserschaft mitreißt, mangelte es noch weitgehend.
Dennoch erschienen vereinzelt bemerkenswerte Artikel im Antrittsjahr von Hyde. Einer von ihnen widmete sich einer großen Naturkatastrophe dieser Zeit: dem Tsunami, der 1896 vor der japanischen Küste nordöstlich von Honshu wütete. Fast 27.000 Menschen wurden damals dahingerafft. Reporterin war die Geografin Eliza Ruhamah Scidmore. Sie war das einzige aktive weibliche Mitglied der Gesellschaft, Mitherausgeberin des Magazins und späteres Vorstandsmitglied. Im Verlauf ihrer 17-jährigen Verbindung44 zur National Geographic Society verfasste sie noch viele weitere dieser sprachlich und stilistisch innovativen Reports:
„Der Regen hatte sie wieder nach drinnen in die Dunkelheit getrieben, und beinahe alle waren um acht Uhr in ihren Häusern, als mit (…) Getöse und unter Krachen und Knacken von Balken plötzlich alle von wirbelnden Wassermassen verschlungen wurden. Nur wenige Überlebende entlang der ganzen Küste hatten die Flutwelle herannahen sehen.“45
Der Autorin gelang mit wenigen Worten, ihrer Leserschaft die zerstörerische Wucht eines Tsunamis vor Augen zu führen, auch wenn sie eine neutrale Erzählperspektive wählte. Dabei vergaß sie die grausamen Fakten nicht, die einen seriösen Anspruch wahrten und den Augenblick erneut zum Leben erweckten:
„[Ein Überlebender] erzählte, dass das Wasser zuerst 500 Meter zurücklief und über der gespenstisch weißen Sandfläche wie eine schwarze Wand rund 25 Meter hoch stand. Auf ihrer Krone huschten phosphoreszierende Lichter. Andere sahen, als sie ein entferntes Tosen wahrnahmen, einen schwarzen Schatten auf der See und rannten auf höher gelegene Gebiete, laut „Tsunami, Tsunami!“ schreiend. Diejenigen, die sich in die oberen Stockwerke geflüchtet hatten, ertranken, wurden erschlagen oder dort eingeschlossen. Nur wenige konnten das Dach durchbrechen oder fliehen, als die Welle wieder ablief…Schiffe und Gerümpel wurden bis zu drei Kilometer in das Landesinnere getragen und zerschmettert auf Hügeln, Baumspitzen oder im Schlamm der Felder abgesetzt. Der Rest wurde verschlungen oder aufs Meer getrieben…“46
Die für einen journalistischen Beitrag dieser Tage ungewöhnliche erzählerische Dichte und verwendeten Sprachbilder gehören zu den wenigen frühen Glanzleistungen des Magazins. Dennoch konnte eine Anfangskrise der Organisation nicht abgewendet werden. Die Mitgliederzahl stieg zwar nach einem Jahrzehnt ihres Bestehens von 209 auf nahezu 1.400 Mitglieder an, trotzdem konnte sich die Gesellschaft nicht weit genug über ihr lokales Umfeld hinaus entwickeln. Drei Viertel aller Mitglieder stammten aus Washington, D. C., und Umgebung47. Während der Abschlussbericht des Schatzmeisters am Ende des Gründungsjahres der National Geographic Society noch ein Vermögen von 626,70 US-Dollar bescheinigte,48 kam die Organisation nun zunehmend in ernsthafte finanzielle Bedrängnis.
Die Herausgabe eines anspruchsvollen Magazins, das in Art und Weise ein breites Publikum ansprach und sich finanziell trug, bedurfte neuer Ideen und mutiger Menschen, die sie umsetzen konnten. Der Tod Gardiner Greene Hubbards am 11. Dezember 1897 besiegelte die Krise der Gesellschaft endgültig. Sie bot aber zugleich die Chance eines Neuanfangs. Neuer Schwung, neue Mitglieder und neues Personal mussten her. Die beiden Männer, die das drohende frühe Ende abwenden sollten, waren so unerfahren wie ungewöhnlich. Der Eine sorgte eher durch den Streit um die Erfindung des Telefons für Schlagzeilen als sich durch seine geografischen Interessen hervorzutun. Der Andere gelangte nur auf Empfehlung seines einflussreichen Vaters an den ersten bezahlten Arbeitsplatz bei der National Geographic Society. Die Männer hießen Alexander Graham Bell und Gilbert Hovey Grosvenor.
3. Bell und Grosvenor übernehmen das sinkende Schiff
„Die Welt mit allem was in ihr ist, ist unser Thema.“
Die National Geographic Society bat Alexander Graham Bell als Schwiegersohn des verstorbenen Präsidenten Hubbard, die Übernahme des Präsidentenamtes an. Doch der 51-jährige, kräftig gebaute Bell war zunächst gar nicht überzeugt – ihn begeisterten andere Dinge.
Abb. 6: Alexander Graham Bell sollte das Präsidentenamt der National Geographic Society nach dem Tod Gardiner Greene Hubbards übernehmen.
Nachdem er mit 29 Jahren das Telefon zur Marktreife gebracht hatte, experimentierte er auf den unterschiedlichsten Gebieten. Momentan betrieb er exzessive Forschungen mit Drachen, Flugzeugen und tetraedrischen Strukturen.49 „Ich stürze mich von einer Sache in die andere und bevor ich es merke, ist der Tag vorbei.“50 Doch Gertrude Hubbard, Ehefrau des verstorbenen Präsidenten, konnte dem exzentrischen Bell schließlich das Versprechen abnehmen, das Erbe seines Schwiegervaters so bald wie möglich anzunehmen.51 Gardiner Hubbard lernte den 1847 im schottischen Edinburgh geborenen Bell durch Hubbards Tochter Mabel kennen, die durch eine Scharlacherkrankung im Alter von fünf Jahren ihr Gehör verloren hatte. Bell, der nach dem Studium der lateinischen und griechischen Sprache und dem Tod seiner beiden Brüder mit den Eltern 1870 nach Kanada übergesiedelt war, emigrierte später nach Boston. Von 1873 bis 1877 arbeitete er an der Universität von Boston als Professor für Sprechtechnik und Physiologie der Stimme. Dort gab er Mabel Hubbard private Stunden in Sprecherziehung.52
Mabel konnte bereits mit knapp 16 Jahren perfekt Lippen lesen – dank der unorthodoxen Erziehung ihrer Eltern. Lediglich ihre Aussprache sollte der damals 26-jährige Bell verbessern.
Seine Gefühle für Mabel gingen weit darüber hinaus. Zu diesem Zeitpunkt konnte er sie allerdings noch nicht eingestehen – auch, weil Mabel wesentlich jünger war als er. Daher betraute er einen Assistenten mit dem Unterricht Mabels.53 Die Hubbards überzeugte Bells Arbeit und Person dennoch dermaßen, dass sie ihn regelmäßig zum Essen einluden. An einem dieser diskussionsreichen Abende im Oktober von 1874 – Bell gab bei solchen Gelegenheiten gern seine Ideen für zukünftige Erfindungen zum Besten – fasste Hubbard den Entschluss den umtriebigen jungen Mann bei der Entwicklung eines harmonischen Telegrafen finanziell zu unterstützen, im Gegenzug für eine Beteiligung an den späteren Erträgen.54 Die langjährige Partnerschaft zwischen Bell und Hubbard nahm ihren Anfang. Ein Jahr später konnte Bell sein Empfinden für die Tochter des Protegés nicht länger verheimlichen. Glücklicherweise war auch Mabel von dem ungewöhnlichen Freigeist angetan.55 Hubbard gestattete seinem Schwiegersohn in spe jedoch nicht sofort eine Heirat mit seiner Tochter. Vielmehr verwandte er sie als Druckmittel, um die Fertigstellung des Telefons durch den unbeständigen Bell voranzutreiben: Erst wenn die Entwicklung funktioniere und patentiert war, dürfe er Mabel ehelichen.56 Eine Auseinandersetzung mit dem italo-amerikanischen Erfinder Antonio Meucci um die Urheberschaft des Telefons verzögerte die offizielle Verbindung der beiden Liebenden erheblich. Meucci hatte 1860 die von ihm konstruierte Variante einer Fernsprechapparatur der Öffentlichkeit präsentiert. Anschließend hatte er die Entwürfe an die Betreiber der ersten transkontinentalen Telegrafenlinie, der Western Union Telegraph Company, geschickt und 1871 einen Patentantrag gestellt. Finanzielle Schwierigkeiten machten es ihm jedoch unmöglich, das Patent bestätigen zu lassen, sodass die Vormerkung 1874 auslief.57
Bell war zu dieser Zeit bei der Western Union beschäftigt. Als ihm Meuccis Unterlagen in die Hände fielen, studierte er sie genau.
Meucci bekam Wind von den Vorgängen, schaltete einen Anwalt ein und verlangte Entschädigung sowie die Rückführung seiner Dokumente. Western Union stellte sich unwissend und erklärte, man hätte alle Papiere verloren. Zehn Jahre dauerte die gerichtliche Auseinandersetzung zwischen