jemand aufgrund einer Krankheit stirbt, kann sich die Familie mit dem Ableben des Angehörigen beschäftigen – der Abschiedsprozess setzt bereits vor dem Tod ein. Manche erkrankte Kinder trösten nicht selten sogar die Eltern, bevor sie sterben.Verliert jemand bei einem Unfall sein Leben oder stirbt ganz plötzlich, hat dies nichts mit der Familie zu tun.Allen Leuten ist klar: Es ist furchtbar und tragisch, der Lastwagen fuhr rückwärts, sah die Person nicht und überfuhr sie. Die Trauer ist groß, aber nicht schamoder schuldbehaftet, es sei denn, der oder die Gestorbene ist noch sehr jung und die Eltern werfen sich vor, nicht genügend auf ihr Kind aufgepasst zu haben.
Scham und Schuld spielen bei Zurückgelassenen nach Suizid also eine wichtige Rolle?
Ja. Nimmt sich ein Familienmitglied das Leben, dann gerät das Gleichgewicht aus den Fugen. Es tauchen sofort Fragen auf:Wie war das möglich? Warum haben wir nichts gemerkt? Warum hat er oder sie uns nichts gesagt, warum konnten wir nicht auf die Signale achten, die sie oder er ausgesendet hat? Sind wir schuld am Tod? Folgen gegenseitige Beschuldigungen, kann eine Familie gar daran zersplittern. Ich kenne die statistischen Zahlen nicht, aber der größte Teil der Überlebenden hat selbst Jahre nach dem Suizid psychiatrische oder andere Begleitung nötig – das fordert eine Familie heraus.
Was raten Sie Hinterbliebenen, wenn sie ständig um die Warum-Frage kreisen?
Wenn sie wüssten, warum jemand sich das Leben genommen hat, was würde es ihnen bringen? Ich erwähne hier ein mir bekanntes Beispiel eines Botschafters, der sich von einer Brücke stürzte. Er landete praktisch unverletzt, denn er sprang an einer Stelle, an der ihn die Bäume abfederten, und trug nur Schürfwunden davon. Der behandelnde Psychiater fragte ihn, was ihm vor dem Sprung durch den Kopf gegangen sei. Der Botschafter sagte: ›Wenn ich das wüsste.‹ Die Gründe, warum sich jemand umbringt, sind nicht immer klar.
Wie wichtig sind Abschiedsbriefe?
Ich kann nicht sagen, sie sind sehr oder gar nicht wichtig. Ich habe aber festgestellt, dass Zurückgelassene, die nichts dergleichen gefunden haben, zusätzlich litten. Sie wünschten sich wenigstens ein Wort, einen Satz, auch wenn es nur ein ›Ich habe dich gern, es tut mir leid‹ ist. Umgekehrt kann es aber auch sein, dass in einem Abschiedsbrief schreckliche Wahrheiten an den Tag kommen oder Vorwürfe laut werden. Ist es deshalb mitunter nicht einfacher, sich vorzustellen, die Person hätte sicher etwas Gutgemeintes geschrieben?
Die größte Aufmerksamkeit nach einem Suizid erhalten meist trauernde Eltern oder Partner. Drohen dabei nicht die Geschwister vergessen zu gehen?
Der Tod reißt ein Loch in die Familie, an dessen Rand sich viele Eltern mit beiden Händen festkrallen. Folglich bleiben keine Hände mehr frei für die noch lebenden Kinder. Sie sind kaum mehr existent, steht doch die tote Person im Zentrum, ob ausgesprochen oder nicht. Ich kannte ein Elternpaar mit einer Tochter und einem Sohn. Der Junge zeigte Anzeichen einer psychischen Erkrankung, die Eltern erlebten mehrere Suizidversuche des Sohnes mit. Dieser Zustand zermürbte sie derart, dass sie sich sagten, es wäre vielleicht besser, er könne sterben. Ein Gedanke, entstanden aus Ratlosigkeit. Dann nahm sich der Sohn tatsächlich das Leben. Das war für die Eltern die allergrößte Schuldzuweisung, sie war so stark, dass die Mutter zwei Jahre später auch Hand an sich legte. Die noch lebende Tochter hatte nach dem Tod des Sohnes keine Rolle mehr gespielt im Familienleben. Ich habe die Mutter kurz vor ihrem Tod noch in einer Klinik besucht und ihr angeboten,Tag und Nacht für sie da zu sein. Doch auch diese Unterstützung konnte sie nicht retten.
Tendieren Eltern dazu, die verbliebenen Kinder als Krücke zu benutzen?
Das kann passieren, doch kein Kind darf zum Schutzengel der Eltern werden. Je freier man die Kinder gehen lässt, umso eher kommen sie zurück. Die besorgten Mütter und Väter laufen sonst Gefahr, das Einzige, was sie noch haben, zu zerdrücken und machen so die übrigen Kinder lebensunfähig.
Leiden Geschwister anders als Eltern?
Schuldgefühle können auch auf Seiten der Geschwister entstehen, das Verhältnis unter Brüdern und Schwestern ist bekanntlich oft geprägt durch Neid und Streitigkeiten. Nach einem Tod kann auch dies zu großen Selbstvorwürfen führen. Geschwister sind nicht unbedingt das ganze Leben lang ein Herz und eine Seele, bei den Eltern hingegen verhält sich die Liebe in den meisten Fällen anders. Es handelt sich um ihr ›Produkt‹, sie lieben die Kinder bedingungslos. Deshalb äußert sich auch die Trauer unterschiedlich: Verliert man das eigene Kind, verliert man ein Stück seines Selbst.
Eine Selbsttötung erschüttert bei vielen Hinterbliebenen das Selbstvertrauen, weil sie nicht mit dem Suizid eines Nahestehenden gerechnet haben.
Da stimme ich zu, doch, so sachlich es klingen mag, ›it happens‹. Man kann – zum Glück – nicht alles kontrollieren, zu unserem Lebensverlauf gehören eben auch Schicksalsschläge. Man kann es nicht begreifen, es gibt Dinge, die sind höher als die eigene Vernunft.Wenn wir alles kontrollieren könnten, wäre das Leben unerträglich. Ich kann nicht immer überall sein, sondern muss versuchen, zu vertrauen und loszulassen.
Sie führten als Seelsorger auch unzählige Einzelgespräche.Was waren die Hauptanliegen der Zurückgelassenen?
Hinterbliebene quälen sich häufig mit Fragen wie ›Alle sagen, der Tod müsse für mich jetzt kein Thema mehr sein, doch das Gegenteil ist der Fall. Wie kann ich damit umgehen? Wie komme ich aus der Trauer heraus? Warum trauere ich immer noch nach einem Jahr?‹
Was hat es mit diesem ›Jahr der Trauer‹ auf sich?
Im ersten Jahr der Trauer werden das erste Mal all jene Momente des bis anhin gemeinsamen Lebens alleine durchlebt. Schon das Herannahen zum Beispiel des Geburtstages oder eines Festtages wie Weihnachten taucht Hinterbliebene in ein Tief, aus dem sie schwer herausfinden. Dadurch wird das ganze erste Trauerjahr zu einer traumatisierenden Zeit. Aber gleichzeitig keimt die Hoffnung, dass mit dem ersten Todestag eine neue Phase beginnt, die die tiefe Verwundung wieder heilen lässt. An diese Hoffnung wird oft eine so hohe Erwartung geknüpft, dass jeder neue Tag, an dem es ›noch nicht besser geht‹, zur Enttäuschung wird. Mit der Zeit aber heilt die Verwundung praktisch unmerklich – die Narbe jedoch bleibt lebenslang. Da-ran zu kratzen kann sie jederzeit wieder aufbrechen lassen.
Was verletzt Hinterbliebene besonders?
Das Besserwissen, zum Beispiel Sätze wie: ›Du hättest es doch kommen sehen müssen.‹ Oder die Frage: ›Warum hast du nichts bemerkt?‹ Sehr heikel ist auch, über den Glauben zu sprechen in Momenten, in denen das Gegenüber gar nicht mehr glauben kann. Bei einem Suizid geht es um einen unwiederbringlichen Verlust und nicht um eine Philosophie.
Gibt umgekehrt nicht gerade der Glaube vielen Hinterbliebenen Halt?
Manche Trauernde werden religiöser nach einem Todesfall.Andere wiederum verabschieden sich vollständig von der Kirche. Obwohl ich Pfarrer bin, habe ich in den Selbsthilfegruppen immer gesagt, der liebe Gott spiele hier keine Rolle.
Sondern?
Auch für Gläubige muss einsichtig gemacht werden, dass Gott kein Lückenbüßer ist, dem die Verantwortung für das Unbegreifliche zugeschoben werden darf.Wenn Gott Liebe ist, dann kann diese Gottheit nicht gewollt haben, dass der nun Tote so verzweifelt war, dass nur noch der Suizid sich als Ausweg für ihn erwies. Diese Gottheit litt mit dem Leiden der Ausweglosen so, wie sie mit der Trauer der Hinterbliebenen leidet. Um aber mit solchen theologischen Überlegungen kirchlich nicht sozialisierte Mitmenschen nicht zu belasten oder zu frustrieren ist es wichtig, Gott auf dem schwierigen Weg der Trauer aus dem Spiel zu lassen.
Dass sich Ebo Aebischer als Theologe so engagiert zum Thema Suizid äußert, wäre vor noch nicht allzu langer Zeit unvorstellbar gewesen. Die Haltung der Kirche zu Selbsttötungen war lange gespalten, die ablehnende Einstellung beeinflusste Philosophen und Gelehrte jahrhundertelang und letztlich auch die gesellschaftliche, abendländische Einstellung gegenüber Suizid. Während sich das frühe Christentum offener gegenüber Suizidhandlungen zeigte, wie etwa bei Frauen, die als Märtyrerinnen ihr Leben opferten, verschärfte sich die Haltung ab dem 5. Jahrhundert. Radikale Stimme dabei war der Kirchenlehrer Augustinus (354-430), der das biblische Gebot: ›Du sollst nicht töten!‹ wenig kompromissbereit