das Leben ohne mich an mir vorüber, und ich fühlte doch, daß ich zum erstenmal ganz in seinem Strom trieb. Es sind die Ufer, die dahinziehen, dachte ich, es erscheint mir als stünde ich selber still und als zögen die Ufer dahin, aber in Wahrheit bin ich es, der zum erstenmal in die Bewegung des Lebens geraten ist und ich sehe nun, wie die Werte alten Bestands davonziehen.
Sie ist krank und wird sterben, dachte ich dann, sonderbar nüchtern, aber zu erfassen oder zu glauben vermochte ich den Sinn meines Gedankens nicht. Es kann nicht wahr sein, wie ich es bisher für wahr gehalten habe, sann ich schwerfällig, denn was bedeutet sonst dieses Lächeln, dieses Lächeln, das ich aus alter Erinnerung her kenne? So lächelte meine Mutter, wenn sie mir scherzend eine arge Botschaft brachte, hinter der sich im Grunde doch eine frohe Verheißung verbarg, sie, die damals noch alles möglich machen konnte, was mein Kinderherz begehrte, und von der ich wußte, daß sie es zuletzt doch tun würde, da mein Leid ihr schmerzlicher war als mir ...
Da sagte Asja:
»Die Gesunden ahnen das Wesen der Krankheit nicht und fürchten sie immer. Wer aber krank gewesen ist, weiß, daß die Erinnerung an diese Zeit nicht immer trüb und trostlos ist, wie vorher die Befürchtung war, sondern daß eine Helligkeit über diesen Tagen und Nächten liegen kann, die sogar die Schmerzen vergessen läßt. Dieses Licht bricht aus der Freiheit, in die uns unsere Anspruchslosigkeit führt, die sich langsam mehr und mehr mit unserem Daniederliegen einstellt. Krank zu werden ist viel schmerzlicher, als krank zu sein, denn zu Anfang fühlt sich unsere Seele noch an die Welt der Sinne gebunden, in der sie gefangen lag, und wir verstehen ihre neue Freiheit nur langsam. Aber sie stellt sich wider unseren Willen ein, und mehr und mehr gelangen wir aus den Regionen des Vergänglichen in die Bereiche des Unvergänglichen. Alle Krankheiten sind Entfesselungen der Seele aus der Welt der Sinne. Ich glaube, daß der Tod der hellste Wipfel dieser Höhen der Freiheit für unser Bewußtsein zu werden vermag.«
Das Mädchen sprach eifrig und einfach, aber ohne den Wunsch zu überzeugen, ich habe niemals im Leben etwas so deutlich gehört wie den Sinn dieser Stimme. Es war als stünde eine aufrechte Gestalt hinter der liegenden, eine andere, die doch dieselbe war, ein Wesen, das keiner Worte bedurfte, um sich verständlich zu machen, sondern das klar und selbstverständlich dadurch sprach, daß es so und nicht anders beschaffen war. Eine schweigsame Herrlichkeit der Verkündigung ging von ihr aus, wie von Wert und Unwert genesen.
Draußen schien der Morgen sich ein wenig aufzuhellen, es regnete nicht mehr und der Lichtschimmer, der ins Zimmer fiel, verriet, daß Wolken und Sonnenschein sich hoch über uns im Freien vermischten. Die Gegenstände des Zimmers, das sorgfältig geordnet war, nahmen in meinen Augen eine nüchterne Selbständigkeit an, wie Wesen von Sinn und Lebendigkeit, die in einer erstarrten Bereitschaft warteten. Ich betrachtete diese Dinge und die Eigenart dieser Morgenstunde beschäftigte mich. Solche Morgenstunden in einem Wohnzimmer sind mir fremd geworden, dachte ich, wo war ich denn stets um diese Zeit? Seit meiner frühsten Kindheit habe ich grade diese Stunden nicht mehr erlebt. Wenn ich krank war und nicht zur Schule konnte, erfuhr ich sie, oder Sonntags, aber schon dann waren sie anders.
Asjas Hand lag immer noch in der meinen. Sie hatte die Augen geschlossen und ich sah auf ihr Gesicht nieder. Das Lebenslicht der Züge floß über die mattfarbigen Formen der Schläfen und Wangen, deren Töne sich nicht unterschieden, alles war in ein ruhiges Blaß gebettet. Die Bogen der Brauen waren breit und tiefschwarz und die Augenlider am hellsten. Die Wimpern auf den Wangen ruhten dicht und dunkel, wie aus Samt, und der Mund, dessen Lippen kaum einen Schimmer von rot trugen, war von einer Lebendigkeit, die mich erbeben ließ. Ich sah mit Grauen und Andacht auf diese schwermütige Süße, von der es wie Frühlingssonnenschein aufstieg.
Mich ergriff ein Taumel von Armut und Gram, der mich durch und durch verwandelte, aber zugleich blühte mein Herz. Da wußte ich: Dies ist der Anfang und das Ende. Es ist die Bestätigung, dachte ich, und nahm das Urteil hin. Ich hatte das Empfinden uralt zu sein, und maß und erkannte dies Bewußtsein doch in der Allgewalt einer unbestürmbaren Jugend. Schlag deine Augen auf und sprich wieder zu mir, ich bin verwirrt und möchte doch meine Sicherheit nicht an Wesen und Dingen zurückgewinnen, an die ich nun nicht mehr glauben kann, und die ich niemals wieder lieben werde. In einem einzigen Augenblick hat das Lebenssinnbild deines Mundes eine Welt in Trümmer geworfen. —
Wir haben noch mancherlei miteinander gesprochen, dieses und jenes, wie der Augenblick es uns eingab, aber wenn auch von nichtigen Dingen die Rede gewesen sein mag, so war doch alles, was uns im Geist begegnete, von jener reinen Wichtigkeit des Wesens, die die Achtung und die beglückende Vorsicht der Liebe schaffen. Ich ahnte die Durchsichtigkeit der Welt, in der diese Seele lebte und meine Begierde wachte mächtig in mir auf, wie Durst. Als ich gewahrte, daß das Mädchen müde wurde, ohne daß sie die Erschöpfung ihres Körpers selbst spürte, verließ ich sie und ging, ohne ihr zu versprechen, daß ich wiederkommen würde, denn es verstand sich von selbst, und mir wäre eine solche Zusage vorgekommen, als hätte ich gesagt, daß es Tag sei, oder wieder Nacht werden würde. —
Irgendwo, mir aus weiter Ferne der Erinnerung noch dunkel bekannt, wie auf einem anderen Stern, saß der Schuster Stevenhagen, der meine Stiefel in Kur genommen hatte. Er sah mich erstaunt an, als ich bei ihm eintrat, wies nur schweigend in einen Zimmerwinkel und rückte den Schuh auf seinen Knien wieder in den Lichtkegel der gläsernen Wasserkugel, hinter der eine Lampe brannte. Ich suchte mein Eigentum unter den arg mitgenommenen Fremdlingen heraus, die wie eine Schar flüchtig geordneter Landstreicherpaare am Boden umherstanden, und fragte nach meiner Schuldigkeit.
»Das läßt sich aufbringen«, sagte der Alte.
Ich ließ mich auf einem Hocker nieder und zog die Stiefel an.
»Wo sind Sie gewesen?« fragte der Schuster.
Ich sagte es ihm und er hielt in seiner Arbeit inne, wandte sich mir zu und sah mich an.
»Kennen Sie Asja?«
»Ja,« sagte ich, »noch nicht lange, aber für immer.«
Er fuhr fort mich prüfend zu betrachten, lächelte, scheinbar dankbar über dieses Bekenntnis, schwieg aber und wandte sich endlich seiner Arbeit wieder zu. Als ich ihm Geld zum Wechseln gab, schob er die Münze fort, schüttelte den Kopf und forderte mich durch eine Bewegung auf, das Geld zurückzunehmen.
Ich verstand plötzlich, nahm die Münze und ging davon.
Ist es so, dachte ich draußen, als ich ziellos und doch eilig die nasse Straße durchschritt, daß es genügt mit dir bekannt zu sein, Asja, um alle zu Freunden zu haben, die von dir wissen?
Die Gesichter der Menschen, der Lärm der Straße und die Mauerwände der Häuser begannen auf mich zu drücken. Wenn ich doch Horizonte, Wiesen und Pflanzen sähe, dachte ich, ich würde meinen Glauben besser zu wahren wissen und meine Fröhlichkeit würde standhalten. Was ruft ihr mich an, bemächtigt euch meiner und zerrt mir die Seele aus dem Leib, ihr Namen und Bilder, Inschriften und Auslagen, Glocken und Stimmen? Eure traurige Hast und leere Mühe, eure Sucht ohne Sehnsucht und euer Weh ohne Heimweh verführen und verraten mich und machen mir alles verächtlich, um dessen willen ich allein leben möchte. Ihr betrügt die Seele um die Heimat.
Über solchen Gedanken kam mir in den Sinn, daß ich Asja Bücher versprochen hatte, und wenn ihre Worte, die mich gleichmütig und zurückhaltend nach diesem Vorsatz gefragt hatten, auch kein sonderlich starkes Vertrauen zum Wert dessen verraten haben mochten, was ich etwa bringen würde, so beschloß ich doch mein Vorhaben auszuführen und das Mädchen womöglich auf das angenehmste zu enttäuschen.
Während ich über die Straße dahinschritt durch den Regen, überfiel mich plötzlich der Gedanke an meine Beschäftigung, an meine Tagespflicht, an die Druckerei und meinen Brotherrn. Seit drei Stunden wartete man auf mich, ich war unentschuldigt ausgeblieben, in Gefahr ernstlich verstimmt zu haben und entlassen zu werden. Aber als ich auf eine Erklärung sann und erwog, ob ich die Angelegenheiten Asjas nicht besser in meinen freien Mittagsstunden erledigen sollte, überkam mich ein jäher Entschluß, der mir das Bewußtsein einer beseligenden Freiheit einbrachte. Ich nahm mir vor, überhaupt nicht mehr in die Druckerei zu gehen, und meine alte Verpflichtung gegen eine wertvollere einzutauschen, gegen die, Asja zu Diensten zu