Danny Goldberg M.

Erinnerungen an Kurt Cobain


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und sein tragischer Selbstmord schufen eine Persönlichkeit, die wie ein Rorschach-Test funktioniert: Wer Kurt kannte, hebt heute meist vor allem jene Aspekte seines Lebens hervor, die das einmal von ihm gefasste Bild stützen. Ich bin da keine Ausnahme. Ich verdanke ihm viel, was meine eigene Karriere betrifft, ich war einer seiner Manager und ein Freund. In meinem Büro betrachte ich oft ein gerahmtes Foto von uns beiden, auf dem er so ein gewisses Funkeln in den Augen hat, dessen Essenz ich mir immer wieder in Erinnerung zu rufen versuche.

      Mit der Erinnerung ist es so eine Sache. Viele Details habe ich vergessen. Courtney ging es offenbar ähnlich: Ich hatte mich gerade mit ihr in Verbindung setzen wollen, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, als sie, nachdem sie mit dem Schreiben ihrer Memoiren begonnen hatte, sich aus genau dem gleichen Grund bei mir meldete. 25 Jahre sind eine lange Zeit, und wir werden alle nicht jünger. Eines der größten Probleme besteht für mich darin, dass es sich manchmal schwer feststellen lässt, wo die allgemein bekannte Geschichte endet und wo meine persönliche Erinnerung beginnt. So viele Fakten aus Kurts Leben sind inzwischen in Büchern, Filmen, YouTube-Clips, Box-Sets und Artikeln dokumentiert. Im Internet, das zu Kurts Lebzeiten kaum eine Rolle spielte, findet man heute Seiten mit Set-Listen von fast allen Konzerten, die Nirvana jemals gaben, oft sogar ergänzt um Niederschriften dessen, was die Musiker auf der Bühne zwischen den Songs zueinander sagten.

      Einige Ereignisse konnte ich aus meinen Unterlagen rekonstruieren, und davon abgesehen half es mir sehr, mit anderen zu sprechen, mit denen ich in der Zeit meiner Zusammenarbeit mit Kurt zu tun hatte. Wie ich feststellte, hatten viele Leute, die ich deswegen kontaktierte, einerseits große Gedächtnislücken, andererseits einige sehr lebendige, konkrete Erinnerungen, die sie jahrelang als Relikte aus Kurts und ihrem Leben bewahrt hatten. Mir geht es ähnlich; über einigen Stellen meines Gedächtnisses liegt ein vager, impressionistischer Nebel, aber einige Momente stehen mir noch mit beinahe filmischer Klarheit vor Augen. Dennoch sind einige dieser Geschichten durch jahrelanges Weitererzählen inzwischen zu Legenden geworden, und einige Male musste ich feststellen, dass die Lieblingsanekdote eines Bekannten im Widerspruch zu meiner eigenen Erinnerung oder der eines anderen stand.

      Abgesehen von dem Eindruck, den er auf Millionen Fans machte, hat Kurt in seinem kurzen Leben Hunderte von Menschen auch persönlich tief berührt. Selbst nach einem Vierteljahrhundert bestehen vielfach noch die alten Gräben – beispielsweise zwischen einigen von Kurts alten Freunden aus den Anfangstagen von Nirvana und Kontakten, die später mit ihm arbeiteten (so wie ich), oder zwischen jenen, die Courtney negativ gegenüberstanden und anderen, die sie mochten (so wie ich). Die meisten, mit denen ich zu meiner Nirvana-Zeit zu tun hatte, waren gern bereit, ihre Erinnerungen an Kurts Leben und seinen Tod zu teilen, aber einige lehnten das auch ab, weil es für sie noch immer zu schmerzhaft war.

      Dabei kann ich sie nur zu gut verstehen. In den ersten Jahrzehnten nach seinem Selbstmord mied ich Bücher und Filme über ihn. Erst vor kurzem begann ich, mich intensiv mit jeglichem Material zu beschäftigen, das mir in die Hände fiel. Einige Berichte konzentrieren sich auf die Scheidung seiner Eltern, seine anschließend so unglückliche Kindheit und die Beharrlichkeit, mit der er versuchte, sich im amerikanischen Nordwesten Ende der 1980er Jahre einen Namen zu machen. Kurt selbst hatte mir mehrmals erzählt, wie sehr er sich von seinen Eltern verlassen und wie einsam er sich als Kind gefühlt hatte, aber ich habe den Schilderungen seiner frühen Jahre wenig hinzuzufügen, und ich habe mich bei meiner Recherche nur an Leute gewandt, mit denen ich während meiner Zusammenarbeit mit Kurt in Kontakt stand. Als Kurt und ich uns begegneten, begannen Nirvana schon kurz darauf mit der Arbeit an Nevermind, jenem Album, das die Band nach seinem Erscheinen im September 1991 zu internationalen Superstars machte.

      Dieses Buch ist eine subjektive Beschreibung der Zeit, in der ich mit ihm verbunden war, dieser letzten dreieinhalb Jahre seines Lebens, als Kurt Cobain die Werke schuf, für die er heute noch bekannt ist. Nach meiner Auffassung umfasst sein künstlerischer Nachlass weit mehr als Nirvanas größte Hits; ich bin fest davon überzeugt, dass ihm ein Platz auf den obersten Rängen der Rock-Hierarchie gebührt. Anderen Musikern gegenüber war er zudem stets sehr großzügig, und seine Rolle als Person des öffentlichen Lebens nahm er ungewöhnlich ernst. Persönlich war er mir gegenüber sehr freundlich, sowohl im direkten Kontakt als auch auf anderen Ebenen, die sich gar nicht in Worte fassen lassen.

      Viele aus Kurts direktem Umfeld empfinden heute noch Zorn darüber, dass er Selbstmord beging. Das respektiere ich, aber ich denke anders darüber. Ich vermisse ihn, und ich werde mich ewig fragen, ob ich irgendetwas hätte tun können, um seinen frühen Tod zu verhindern. Aber soweit ich sagen kann, gibt es weder in der Medizin noch in spirituellen Traditionen oder den Werken großer Philosophen eine Erklärung dafür, weswegen manche Menschen ihr eigenes Leben willentlich beenden und andere nicht. Während des bittersüßen Prozesses, mich an sein Leben und sein Werk zu erinnern, bin ich immer stärker zu dem Schluss gelangt, dass sein Selbstmord kein moralisches Versagen darstellte, sondern auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen war, die weder er noch jemand in seinem Umfeld erfolgreich behandeln oder heilen konnte. („Erkrankung“ verwende ich hier nicht wie ein Arzt, sondern als Platzhalter für eine Macht, die meiner Meinung nach von niemandem kontrollierbar war.)

      Ich zählte nicht zu denen, mit denen Kurt Musik machte, ich teilte auch seine tiefe Verwurzelung im Punk Rock nicht, und wir nahmen auch nie gemeinsam Drogen. Dennoch arbeitete ich mit ihm an dem wichtigsten Kreativ-Projekt seines Lebens, einem Werk der internationalen Popkultur, das den Rock völlig umkrempelte und für viele seiner Fans auch das Männlichkeitsbild neu definierte.

      Trotz der elenden Zustände, in denen er in seinen schlimmsten Zeiten lebte, und der grotesken Realität seines Todes erinnere ich mich größtenteils auf eine beinahe romantische Art und Weise an Kurts kreative und idealistische Seite. Es gab mindestens eine Begebenheit, bei der ich diesem Impuls blindlings nachgab und dabei viel zu wenig Rücksicht auf die Trauer und die Empfindungen anderer Freunde nahm. Ich hielt die letzte Trauerrede bei der privaten Beerdigungsfeier, die Courtney organisiert hatte, nachdem sein Leichnam gefunden worden war. In Nirvana – Die wahre Geschichte schrieb der britische Rock-Journalist Everett True darüber: „Danny Goldberg hatte bei Kurts Beerdigung eine Rede gehalten, die mir genau vor Augen geführt hatte, wieso der Sänger die Waffen gestreckt hatte. Die Rede hatte nichts mit der Realität oder mit dem Mann, den ich gekannt hatte, zu tun. Er beschrieb Kurt darin als Engel, der in menschlicher Gestalt auf die Erde kam, der für dieses Leben zu gut war, und das war der Grund, weshalb er nur so kurze Zeit bei uns sein konnte. So ein ausgemachter Blödsinn! Kurt war so nervig und schlecht gelaunt und angriffslustig und ungezogen und lustig und langweilig wie wir alle.“

      Kurz, nachdem sein Buch erschien, begegneten Everett und ich uns bei einer Musikbusiness-Konferenz in Australien, und wir stellten fest, dass wir mehr gemeinsam hatten als erwartet, was unsere Gefühle für Kurt betraf. Dennoch ist mir bewusst, dass meine Trauerrede einigen anderen ähnlich übel aufgestoßen war wie ihm.

      Ich denke, die verschiedenen Sichtweisen enthalten alle einen Teil der Wahrheit. Kurt war eine mehrfach gespaltene Persönlichkeit. Er litt an Depressionen, er war ein Junkie und ein schöpferisches Genie. Er konnte beißend sarkastisch sein oder in tiefe Verzweiflung verfallen, aber er hatte auch eine ausgesprochen romantische Seite und war sehr überzeugt von der Qualität seines Werks. Kurt war ein bisschen schlampig und chaotisch und hatte sich einen gewissen Blödel-Humor erhalten. Er mochte noch immer denselben Junkfood, den er als Kind gegessen hatte, und er liebte es, den ganzen Tag im Schlafanzug herumzulaufen. Aber seine Gammler-Erscheinung lenkte oft von dem ausgeprägten Intellekt ab, den er besaß.

      Mark Kates von Geffen Records, der dort zu den Mitarbeitern zählte, die den engsten Kontakt zu Kurt pflegten, sprach aus, was viele dachten, als er mir mit bewegter Stimme anvertraute: „Zwei Dinge werden bei Kurt oft vergessen. Zum einen, dass er sehr witzig war. Und zum anderen, dass er unglaublich klug war.“

      Kurt verachtete Menschen, die ihn nicht respektierten, und er konnte schlecht gelaunt und unangenehm sein, wenn er Schmerzen hatte, aber meistens verströmte er eine Freundlichkeit, wie man sie bei Genies oder Stars selten findet. Die meiste Zeit war er, wenn ich das so sagen darf, ein netter Kerl.

      Das besagte Foto von Kurt und mir, das ich immer wieder ansehe, entstand am 6. März 1992 bei einem Konzert, das zwei seiner Lieblingsbands,