Ginsberg, als er Jahrzehnte zuvor über Bob Dylan sprach, als „die unkonventionelle Fackel der Erleuchtung und Selbstermächtigung“ bezeichnet hatte.
Aber der verklärte Blick, den beispielsweise der Jugendliche zeigte, der mich im Lager von Occupy Wall Street ansprach, ist auf etwas anderes zurückzuführen: Kurt brachte anderen Menschen, vor allem den Außenseitern, eine einzigartige Empathie entgegen. Er konnte den Fans das Gefühl vermitteln, dass es eine Kraft im Universum gab, die sie so akzeptierte, wie sie waren. Sie hatten den Eindruck, als würden sie ihn wirklich kennen – und umgekehrt er sie auch.
Meiner Meinung nach findet sich ein vergleichbares Phänomen nicht im Bereich des Rock, sondern eher in den Romanen von J.D. Salinger, besonders in Der Fänger im Roggen. Ähnlich wie in jenem literarischen Klassiker der 1950er Jahre gab Kurts Werk den Underdogs ihre Würde zurück und knackte dabei derart den Code der Massenkultur, dass Millionen sich darin wiederfinden konnten. Die Reagan-Ära, die Kurts Generation und die damalige Indie-Szene maßgeblich prägte, ist schon lange vorbei, aber auch 25 Jahre nach Kurts Tod ist es sein poetisches, ungefiltertes Verständnis für den Schmerz der Jugend, das junge Menschen dazu bringt, Nirvana-T-Shirts zu tragen, weil für sie damit ein gewisses Statement verbunden ist.
Kurt war viel mehr als die Summe seiner Dämonen. Eine Zeichnung in einem seiner Tagebücher trug die Bezeichnung „die vielen Stimmungen des Kurdt Cobain: Baby, Pissy, Bully, Sassy“ – übersetzt in etwa „Baby, Nervensäge, Grobian, Wirbelwind“. (Damals probierte er noch verschiedene Schreibweisen seines Vornamens aus.) In einem Artikel in der Zeitschrift Spin zum zehnten Jahrestag von Kurts Tod bezeichnete ihn John Norris als „Punk, Popstar-Helden, Opfer, Junkie, Feministen, Rächer-Nerd, Klugscheißer“.
Kurts langjähriger Bandkollege und Freund Krist Novoselic sagte mir vor kurzem: „Kurt konnte unglaublich nett und der beste Mensch der Welt sein, dessen Reaktionen mich oft unglaublich berührt haben, aber manchmal war er auch wirklich gemein und hinterhältig.“
Auf mich wirkte Kurt manchmal wie ein verwirrter Weiser vom anderen Stern, aber ebenso wie ein sehr fokussierter Kontroll-Freak, ein verletzliches Opfer körperlicher Schmerzen oder gesellschaftlicher Ablehnung, ein doppelzüngiger Junkie, ein liebender Ehemann und Vater oder ein aufmerksamer Freund. Manchmal wechselte er in Sekunden von paranoid zu übernatürlich selbstbewusst, und er wusste durchaus die Werbetrommel für sich selbst zu rühren. Mal war er ein sensibler Außenseiter, ein selbstkritischer Normalo, der stille, aber unbestreitbare Mittelpunkt der Aufmerksamkeit oder ein verzweifelter Kindmann, für den das Leben keine Bedeutung zu haben schien. Kurt vermittelte seine Gefühle oft ohne Worte. Ich erinnere mich noch sehr deutlich an die verschiedenen Gesichter, die er zeigen konnte: gestresst, amüsiert, gelangweilt, genervt, zugewandt und gebend. All das konnte man in seinen durchdringenden, blauen Augen lesen.
Im Laufe der Jahre habe ich mich vor allem mit Kurts Rolle als Künstler beschäftigt. Als er noch klein war, ging seine Familie davon aus, dass er später vielleicht einmal Grafiker werden würde, und er beschäftigte sich bis zu seinem Tod mit Zeichnungen und Skulpturen. „Ich war der beste Künstler von Aberdeen“, sagte er mir einmal mit einem schiefen Lächeln, „aber ich glaube, in einer großen Stadt oder draußen in der Welt hätte ich keinen Eindruck hinterlassen. Für dieses Level reichte es bei mir nicht.“ In der Musik, auf die sich seine Kreativität in erster Linie konzentrierte, sah es anders aus: In diesem Bereich war er außergewöhnlich, und das wusste er. Als ich Kurt kennenlernte, strahlte er die stille Überzeugung aus, dass seine Musik von einer ganz besonderen Güte war, und darin bestärkten ihn sein gesamtes Umfeld und auch andere Musiker.
Vermutlich sind die meisten Leser dieses Buches Nirvana-Fans, aber hin und wieder stoße ich immer noch auf Leute, die nicht begreifen, was an der Band so großartig gewesen sein soll. Geschmäcker sind verschieden, und wir alle fühlen uns auch später im Leben latent zu jenen Dingen hingezogen, die wir schon in der Schulzeit mochten.
Wie groß Kurts Einfluss war, lässt sich quantitativ vielleicht allenfalls mit den Statistiken des Streaming-Dienstes Spotify belegen, der seit 2008 Musik anbietet, als Kurts Tod schon 14 Jahre zurücklag. Hier ist eine Aufstellung der weltweiten Zugriffszahlen seit den Anfangstagen von Spotify auf die beliebtesten Songs von Kurt und seinen Zeitgenossen, aber auch vielen vor und nach Nirvana aktiven Künstlern (die Zahlen stammen aus dem Mai 2018):
Madonna, „Material Girl“ – 56 Mio.
Prince, „Kiss“ – 80 Mio.
N.W.A., „Straight Outta Compton“ – 113 Mio.
Pearl Jam, „Alive“ – 116 Mio.
Bruce Springsteen, „Dancin’ In The Dark“ – 126 Mio.
Soundgarden, „Black Hole Sun“ – 139 Mio.
2Pac, „Ambitionz Az A Ridah“ – 144 Mio.
U2, „With Or Without You“ – 210 Mio.
Foo Fighters, „Everlong“ – 210 Mio.
R.E.M., „Losing My Religion“ – 229 Mio.
Radiohead, „Creep“ – 257 Mio.
Dr. Dre, „Still D.R.E.“ – 275 Mio.
Green Day, „Basket Case“ – 282 Mio.
Michael Jackson, „Billie Jean“ – 353 Mio.
Guns N’ Roses, „Sweet Child O’ Mine“ – 358 Mio.
Nirvana, „Smells Like Teen Spirit“ – 387 Mio.
Das nur so nebenbei.
Für die amerikanische Originalausgabe dieses Buches habe ich den Titel „Serving The Servant“ gewählt, als Hommage an einen Song, den Kurt für das Album In Utero schrieb, nachdem Nirvana plötzlich kommerziell so unglaublich erfolgreich geworden waren. Besonders bekannt ist seine erste Zeile: „Teenage angst has paid off well“, die Teenager-Angst hat sich gut bezahlt gemacht – ein Seitenhieb auf den enormen Erfolg von Nevermind. Kurt erklärte außerdem, dass der Text teilweise auch ein Versuch war, sich über die Beziehung zu seinem Vater Don klarzuwerden, zu dem er keinen Kontakt mehr hatte (und den ich zum ersten und einzigen Mal bei Kurts Beerdigung traf). Für mich spiegelt der Titel, der wörtlich mit „dem Diener dienen“ übersetzt werden kann, wie es war, mit Kurt zu arbeiten – er war der Diener einer Muse, die nur er sehen und hören konnte, aber deren Energie er in eine Sprache übertrug, mit der sich Millionen identifizierten. Meine Aufgabe und die anderer Mitarbeiter war es, ihn im Rahmen unserer Möglichkeiten dabei zu unterstützen.
Kurt und ich begegneten uns zum ersten Mal im November 1990 in Los Angeles. Er und die anderen Mitglieder von Nirvana, Krist Novoselic und Dave Grohl, trafen mich und meinen jüngeren Partner, John Silva, im Büro unserer Agentur Gold Mountain Entertainment auf dem Cahuenga Boulevard West ganz in der Nähe von Universal City.
Die ersten Worte, die ich von Kurt jemals hörte, war ein aus tiefstem Herzen kommendes „auf gar keinen Fall“: Damit beantwortete er meine Frage, ob die Band bei Sub Pop bleiben wollte, dem unterfinanzierten, aber äußerst renommierten Indie-Label aus Seattle. Dort waren ihre ersten Aufnahmen erschienen, so auch ihr Debütalbum Bleach, das in der Punk-Szene so hohe Wellen geschlagen hatte, dass nun die großen Plattenfirmen versuchten, die Band von dort wegzulocken.
Bei diesem Gespräch schwieg Kurt zunächst und überließ Krist das Reden. Aber seine entschiedene Antwort gab mir einen ersten Hinweis auf die Dynamik innerhalb der Band. Dave war ein virtuoser Rock-Schlagzeuger, der Nirvana musikalisch auf eine ganz andere Ebene führte. Krist hatte die Band einige Jahre zuvor mit Kurt gegründet und war mit ihm, was Politik und Kultur anging, meist einer Meinung. Die drei machten gemeinsam brillante Musik und waren sich auch darüber einig, dass die Band sowohl in die Indie- als auch in die Rock-Szene passen könnte, aber Kurt hatte in allem das letzte Wort.
In den frühen Tagen des Rock’n’Roll hatten sich Manager häufig nicht unbedingt durch Kompetenz und Ehrlichkeit ausgezeichnet. Elvis Presleys Manager, Colonel Tom