Ernst Hofacker

Giganten


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Oh Mercy, entstanden im März und April in New Orleans unter der Regie von Daniel Lanois, das die Fans aufhorchen lässt. Lanois ist es gelungen, Dylans neuen Songs ein zeitgemäßes, einheitliches Soundgewand zu schneidern, das weder poliert noch modisch wirkt. Zudem gehören Stücke wie Political World, Most Of The Time oder Everything Is Broken zum Besten, was Dylan in den Achtzigerjahren zustande bringt. Erstmals seit Infidels wirkt ein Dylan-Album homogen und in sich schlüssig. Die Kritiker, die bislang über die Konzerte der Never Ending Tour die Nase gerümpft und Dylan als Plattenkünstler bereits abgeschrieben haben, überschlagen sich vor Begeisterung.

      Der Mann mit der asthmatischen Quengelstimme hat sich erfolgreich neu erfunden. Auch 1990 füllt Dylan bis zum Rand mit Tourneen, Plattenaufnahmen und sonstigen Aktivitäten, darunter gar die Gründung eines Shops für Kinderbekleidung, den er zusammen mit seiner Cousine Beth Zimmerman in Los Angeles eröffnet. Der Name der Boutique: Forever Young – was sonst? Nach einer kurzen Wintertournee vollendet er im April die Sessions zu seinem nächsten Studioalbum, dem etwas schludrigen Under The Red Sky, bevor er Ende des Monats mit den Traveling Wilburys – nur noch zu viert, da Roy Orbison am 6. Dezember 1988 verstorben ist – ein zweites Album einspielt. Danach bis zum Ende des Jahres wieder Konzerte, Konzerte, Konzerte. So geht das nun schon im dritten Jahr, den Titel »hardest workin’ man in show business« hätte Mr. Zimmerman redlich verdient.

      Viele stellten sich in jenen Jahren die Frage, was es nun eigentlich mit dieser Never Ending Tour auf sich hat (der Begriff stammt vom britischen Journalisten Adrian Deevoy, der Dylan im Herbst 1989 für das Magazin Q interviewt hatte). Presse und Publikum wunderten sich, dass eine gefeierte Legende wie Bob Dylan rastlos wie ein Fliegender Holländer des Rock’n’Roll durch die Konzerthallen geisterte. Hatte er das wirklich nötig? Und was wollte er damit erreichen? Dylan selbst hat dazu in diversen Interviews Aufschlussreiches geäußert. Zum Beispiel 1997 in London: »Ich bin Musiker, nicht einer, der sich ab und zu mal eine Platte kauft. Für mich ist das alles mehr als nur Entertainment. Das ist mein Job, mein Gewerbe, mein Handwerk. Auf der Bühne zu stehen ist für mich so natürlich wie das Atmen.«

      Dylan tut das, was ein Dichter und Musiker eben tun muss: Er zieht umher und verbreitet sein Werk. Dabei bemüht er sich, seine Musik so wahrhaftig und authentisch wie möglich unter die Leute zu bringen. Wozu wiederum Handwerk notwendig ist, und an dem arbeitet er kontinuierlich. In den ersten Jahren der Never Ending Tour konzentriert er sich dabei vor allem auf die Band und auf sein Gitarrenspiel, in den letzten Jahren scheint er zunehmend an seiner Gesangstechnik zu feilen. Seit einigen Jahren hat er zudem die Gitarre zur Seite gelegt und steht auf der Bühne meistens hinter einem kleinen Keyboard, das an die Farfisa-Orgeln der Sechzigerjahre erinnert.

      Was die Qualität der Konzerte betrifft, so galt von Anfang an: Wer jeden Abend 100 Prozent Risiko geht, haut zwangsläufig gelegentlich daneben. So brauchten Dylan und seine Band, die vor allem zu Beginn der Neunzigerjahre mit diversen Personalwechseln zu kämpfen hatte, bis etwa 1993, um im Repertoire eine Sicherheit und Routine zu entwickeln, die sie vor Ausrutschern schützt. Um seinen spontanen Launen gerecht werden zu können, müssen die Musiker das komplette Repertoire des Meisters beherrschen. Kein leichter Job, nicht umsonst gelten Dylans Begleiter seit Jahren als die besten Sessionmusiker, die in der Szene zu haben sind. Der wohl wichtigste Stabilitätsfaktor der Tourband kam am 10. Juni 1989 in Person des Bassisten Tony Garnier hinzu – er ist bis heute dabei und fungiert als musikalischer Direktor.

      An Plattenaufnahmen, der nach landläufiger Meinung vornehmsten Pflicht eines musizierenden Künstlers, hat der verdiente Columbia Recording Artist Dylan dagegen nach 1990 erst mal nur noch bedingtes Interesse. Nach Under The Red Sky beschließt er, zunächst keine weiteren Alben mehr aufzunehmen, höchstens solche, die wenig Aufwand erfordern und sich nicht an den Bedürfnissen des Popmarktes orientieren. Was er mit Good As I’ve Been To You (1992) und World Gone Wrong (1993), kargen Sammlungen obskurer Folksongs zur Akustikklampfe und Harp, kurz darauf bestätigt. Der rein akustisch eingespielte Live-Mitschnitt MTV Unplugged entsteht 1995 quasi im Vorbeigehen. Völlig egal ist ihm der Mythos, der sich um sein Platten-Werk gebildet hatte. Anlässlich der Veröffentlichung von Love And Theft 2001 äußert er sich dazu in der Rückschau überraschend radikal: »Ich habe immer entweder mit schlampigen Produzenten gearbeitet oder mit Blendern oder Nichtskönnern. Und deshalb konnte ich meine Songs auch immer erst auf der Bühne weiterentwickeln und die Dinge richtig stellen.«

      Eine der Hauptintentionen der Never Ending Tour war von vornherein Dylans Bedürfnis, seinen eigenen Songs auf den Grund zu gehen und ihrem verborgenen Spirit nachzuspüren. Dazu braucht er weder die Maske der in den Klatschspalten gefeierten Prominenz noch den ewig gleichen Marketing-Kreislauf der Plattenindustrie und schon gar keinen Produzenten, der ihm sagt, wie seine Musik klingen muss. Eine Handvoll vertrauter Musiker und ein Publikum, mit dem er durch seine Musik kommunizieren kann, reichen ihm bis heute völlig, um diesen Prozess in Gang zu halten.

      Natürlich aber war über das permanente Touren mit regelmäßig rund 100 Konzerten pro Jahr der Poet und Songwriter Bob Dylan nicht verloren gegangen. Ganz im Gegenteil, der scheint mit der kathartischen Erfahrung der beiden Folkalben und seiner Weigerung, den Gesetzen des Marktes zu gehorchen, so frei und inspiriert wie lange nicht. Allmählich hat Dylan wieder begonnen zu schreiben und seine Erfahrungen on the road zu verarbeiten. Im Januar 1997 hat er genügend Material beisammen, um sich, wiederum mit Daniel Lanois, in die Criteria Studios in Miami zurückzuziehen. In nur elf Tagen spielt er dort Time Out Of Mind ein, das am 30. September veröffentlicht wird. Endlich, nach sieben Jahren Pause, bekommt sein Publikum ein Album mit neuen Songs – und das überrascht mit wahrhaft biblischer Kraft. Dylan behandelt Themen wie Einsamkeit, Alter, Liebe und Krankheit mit der Autorität eines alten Bluesmannes, sein brüchiger Gesang geht unter die Haut, und die spartanische, höchst eindringliche musikalische Begleitung wirkt, als läge ein schwerer und düsterer Nebel über den Tracks. Herausragend das bedrohlich-zögerliche Love Sick, das beklemmende Not Dark Yet und das fast 17-minütige, geradezu hypnotische Highlands. Und siehe da, plötzlich ist Bob Dylan auch als Plattenkünstler wieder relevant. Die drei Grammies, die er für Time Out Of Mind erhält, darunter den für das »Album des Jahres« und die »beste Rock-Gesangsdarbietung«, scheinen nur noch eine Formsache.

      Dabei hätte Dylan die Veröffentlichung dieses grandiosen Albums womöglich gar nicht mehr erlebt, wäre er nicht am 25. Mai in Los Angeles gerade noch rechtzeitig in eine Klinik eingeliefert worden. Die Diagnose: Histoplasmose, eine lebensgefährliche Lungen-Infektion, die bereits den Herzbeutel angegriffen hat. Dylan erholt sich rasch, nach wenigen Tagen schon wird der Patient nach Hause entlassen. Im September ist er wieder fit genug, um im italienischen Bologna ein ganz besonderes Konzert zu geben. Beim Eucharistischen Welt-Kirchenkongress spielt er vor 350.000 Menschen, darunter auch Papst Johannes Paul II., der ihm nach dem Auftritt die Hand reicht.

      1999, die Never Ending Tour geht inzwischen in ihr zwölftes Jahr, scheidet nach sieben Jahren und insgesamt 739 gemeinsamen Shows der Gitarrist und Multiinstrumentalist Bucky Baxter aus. Er wird ersetzt durch Charlie Sexton, so dass die Band zum neuen Millennium aus Sexton, Tony Garnier, Drummer David Kemper und dem Pedal-Steel-Virtuosen Larry Campbell besteht. Das neue Jahrtausend beginnt für Dylan, wie das alte geendet hat: Allein im Jahr 2000 gibt er 112 Konzerte. Nicht anders 2001: Diesmal sind es 105 Konzerte in 13 Ländern auf vier Kontinenten. Dazu kassiert er einen Oscar für den Song Things Have Changed, den er zum Kinofilm Wonder Boys beisteuert. Die größte Freude jenes Jahres für die Fans aber dürfte das neue Studioalbum Love And Theft sein. Das Schwarzweiß-Cover zeigt den Meister mit smartem Menjou-Bärtchen und mürrischem Blick, die Musik indes ist alles andere als griesgrämig. Wo Time Out Of Mind Schwermut ausstrahlte, erscheint Love And Theft geradezu leichtfüßig. Diese Songs sind nicht düster, sie wirken lebendig, humorvoll, herzlich. Stilistisch konzentrieren sich Dylan und Band auf Traditionelles wie ursprünglichen Rockabilly, Western Swing und Country-Blues. All das klingt frisch, direkt, unverkrampft. Auch thematisch gibt sich Dylan hier weit weniger grüblerisch. Nicht wenige Kritiker schätzen Love And Theft sogar noch höher ein als dessen Vorgänger und ziehen nicht ganz zu Unrecht Parallelen zu Dylans legendären Big Pink-Sessions mit The Band in den Sechzigerjahren. Wenig überraschend, dass das Album im folgenden Jahr den Grammy für das »beste zeitgenössische Folkalbum« einheimst.

      Der Sommer 2003 steht für Dylan im Zeichen des Kinofilms Masked