sie an. »Du hast gesagt, sie ist tot«, stieß er hervor.
Es war das erste Mal, daß er so reagierte. »Du hast das falsch verstanden, Ulrich. Der Papi ist tot, aber die Mami liegt immer noch in der Klinik. Sie schläft und kann nicht reden und essen. Das ist fast so wie tot. Sie weiß gar nicht mehr, daß es dich gibt, Ulrich.«
Der Junge preßte die Lippen aufeinander und sagte nichts mehr.
Joana packte zwei Koffer, und die brachte sie gleich zu ihrem Wagen. »Jetzt such dir aus, was du für Spielsachen mitnehmen willst«, sagte sie drängend. »Ich habe doch gesagt, wir fahren zu deiner Mami.«
Das war ein Zauberwort für Ulrich. Er nahm seinen Teddy, das Lämmchen und den Plüschhund und trottete hinter Joana her.
Es war erschütternd, wie entsagungsvoll das Kind gehorchte. Da war kein Trotz, kein Aufbegehren, nur Resignation wie bei einem Menschen, der alles Leid der Welt erlebt hatte.
Ulrich war noch keine vier Jahre alt. Er konnte noch nicht voll begreifen, was sein Leben veränderte, und dennoch ging in seinem kleinen Kopf schon vieles vor sich. Er war ein ganz besonders hübsches Kind, aber er wirkte jetzt wie eine aufgezogene Puppe. Vielleicht dachte er auch, daß nun doch wieder Abwechslung in sein Leben kommen würde. Aber wer hätte schon ergründen können, was wirklich in ihm vorging?
Joana setzte ihn auf den Rücksitz ihres Wagens und schnallte ihn an. Um sein Leben war sie schon besorgt, das wollte sie nicht riskieren, und jetzt dachte sie auch, daß es noch gar nichts besagte, daß Cordula aus dem Koma erwacht war. Ihr Verstand konnte ja gelitten haben, und sie würde vielleicht ewig ein Pflegefall bleiben, wenn sie trotzdem am Leben blieb.
Von ihr sollte man jedoch den Eindruck haben, daß sie alles für Ulrich tat und um seine Gesundheit sehr besorgt war.
»Wann darf ich zu Mami?« fragte Ulrich, als sie unterwegs waren.
»Das weiß ich noch nicht genau. Ich muß erst fragen, Ulrich. Sie wird dich vielleicht gar nicht mehr erkennen, und du sie auch nicht.«
»Ich kenne meine Mami«, erklärte er trotzig.
Joana konzentrierte sich auf die Straße. Erst, als sie schon über der Grenze war – man hatte sie durchfahren lassen, ohne nach dem Paß zu fragen –, entschied sie sich für Seefeld. Da war wenigstens etwas los, da fiel man nicht auf.
Außerdem gab es ein neues Hotel in der Nähe, sehr komfortabel und ein bißchen abgelegen. Das könnte gerade recht sein. Zu sparen brauchte sie ja nicht. Als Betreuerin von Ulrich hatte sie genug Geld bekommen, und für den Jungen brauchte sie nicht viel. Kleidung für ihn war genug vorhanden gewesen. Sie hatte ja alles holen können. Am liebsten wäre sie ja eingezogen in diese luxuriöse Villa, aber sie mußte ja den Schein wahren und allzu nahe wollte sie der Behnisch-Klinik auch nicht sein.
In der Überzeugung, daß Cordula die schweren Verletzungen nicht überleben würde, hatte sich Joana alles schlau ausgedacht. Unter Skrupeln hatte sie noch nie gelitten.
»Da sind viele Berge«, sagte Ulrich, der jetzt interessiert zum Fenster hinausblickte.
»Wo wir hinfahren, ist es schön«, sagte Joana.
»Und Mami ist auch da?«
»Wir können sie noch nicht gleich besuchen, Ulrich. Du mußt Geduld haben.«
»Was ist Geduld?« fragte er.
»Wenn man warten muß.«
»Ich habe schon lange gewartet.«
Soviel auf einmal hatte er in all den Wochen nicht gesprochen. Und es klang gar nicht so, als hätte er einen Gehirnschaden erlitten. Joana schöpfte Hoffnung, daß er nun zutraulicher werden würde. Jetzt wollte sie sich ja darum bemühen, um nicht alles aufs Spiel zu setzen.
»In Garmisch konnte ich die Berge gar nicht sehen«, sagte Ulrich.
»Du wolltest ja nie spazierengehen.«
»Weil immer so viele Leute da waren. Ich mag nicht reden mit Fremden.«
»Aber mit mir kannst du doch reden, Ulrich.«
»Nur, wenn du mich zur Mami bringst.«
»Ich verspreche es dir«, sagte sie.
*
In der Behnisch-Klinik wurde zu dieser Zeit ein fünfjähriger Junge eingeliefert, der Sohn des bekannten Fernseh-Regisseurs André Riedmann. Akute Blinddarmentzündung lautete die Diagnose.
Riedmann war schrecklich aufgeregt. Er wollte auch in der Klinik bleiben, bis der Junge operiert war. Schwester Nora hatte ihn unter ihre Fittiche genommen. Sie konnte am besten Trost spenden.
Dr. Jenny Behnisch stellte fest, daß der kleine Patient in höchster Gefahr schwebte.
»Wenn meinem Sohn etwas passiert, bringe ich sie um!« stöhnte indessen André Riedmann.
»Aber ich habe Ihnen nichts getan«, sagte Nora erschrocken, »und unsere Ärzte können auch nichts dafür, daß es ein akuter Blinddarm ist.«
»Ich meine auch nicht Sie und die Ärzte, sondern meine Frau«, stieß er zornig hervor. »Sie muß ja auf eine Modenschau gehen, anstatt das Fieber ernst zu nehmen. Und diese blöde Trine kocht ihm auch noch Schokoladenpudding.«
Nora seufzte in sich hinein. Ein akuter Blinddarm konnte schon gefährlich werden, wenn der Patient vorher auch noch gegessen hatte, aber aus André Riedmann war nicht herauszubringen, ob der kleine Benjamin etwas gegessen hatte. Er hatte Angst um seinen Sohn, er liebte ihn sehr, das merkte Schwester Nora.
»Wir werden sofort operieren«, sagte Jenny, »der Kleine ist sowieso fast bewußtlos.«
Das Team stand schon bereit. Der Junge wurde in den OP geschoben. Draußen wischte sich Riedmann kalten Schweiß von der Stirn, und Schwester Nora betrachtete ihn besorgt.
»Bitte, beruhigen Sie sich doch, Herr Riedmann«, sagte sie, »unsere Ärzte haben schon schlimmere Fälle hinbekommen.«
»Dem Jungen darf nichts passieren. Ich liebe ihn. Es ist doch alles, was mir bleibt! Meine Frau schert sich doch einen Dreck um uns. Und die Haushälterin…« Er stöhnte auf und rang nach Luft. Er war einem Kreislaufkollaps nahe, und Schwester Nora rief nach Dr. Werner, weil momentan kein anderer Arzt erreichbar war, da alle im OP waren.
Dr. Werner kam eilends herbei, und André Riedmann wurde ins Ärztezimmer gebracht. Er war halb ohnmächtig, aber er murmelte noch: »Helfen Sie meinem Jungen.«
Er bekam ein Kreislaufmittel injiziert, und Nora brachte ihm Mineralwasser. Es dauerte aber zehn Minuten, bis die Injektion wirkte, und indessen war die Operation schon im Gange.
Der Junge wirkte winzig auf dem Operationstisch. Für einen Fünfjährigen war er klein und viel zu zart, wie Dr. Jenny Behnisch feststellte. Die Anästhesie war sehr vorsichtig durchgeführt worden, und Jenny ließ keine Zeit verstreichen. Mit meisterhafter Sicherheit führte sie den Schnitt aus. Als sie an den vereiterten Wurmfortsatz herangekommen war, blickte sie kurz auf.
»Blutdruck?«
»Schwach.«
»Infusion und Blutkonserve bereitstellen«, sagte Jenny. Die Blutgruppe AB hatte André Riedmann noch sagen können. Er war ein Vater, der genau über sein Kind Bescheid wußte.
Die Infusion tropfte, Schwester Ingrid reichte die Instrumente fast lautlos an und war völlig konzentriert. Präzise wie ein Uhrwerk lief alles ab, dann war es geschafft.
»Es war höchste Zeit«, sagte Jenny. Sie war blaß. Man spürte, daß sie innerlich beteiligt war. Es war etwas anderes, ein Kind zu operieren, das am Anfang seines Lebens stand, als einen schon fast hoffnungslosen Fall, bei dem man nichts verlieren, aber alles gewinnen konnte. Bei dem kleinen Benjamin Riedmann hätte es so weit nicht kommen müssen, wenn er richtig beobachtet worden wäre.
Riedmann entspannte sich, als Jenny Behnisch ihm sagte, daß die Operation gut verlaufen sei.
»Aber