Aristoteles

Gesammelte Werke


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heilen will, deren Beschaffenheit kennen muß, und zwar jener noch vielmehr als dieser, weil die Staatskunst viel würdiger und besser ist als die Heilkunst. In der Tat machen sich die tüchtigen Ärzte mit der Untersuchung des Körpers sehr viel zu schaffen. So muß nun auch der Lehrer der Staatskunst die Seele zum Gegenstande seiner Betrachtung machen, aber immer nur um der angegebenen Zwecke willen und soweit, als es für diese Zwecke genügt; noch genauer darauf einzugehen, ist wohl für die gestellte Aufgabe der Mühe zu viel.

      Es erweist sich also auch das unvernünftige Vermögen als zweifach: das pflanzliche hat gar nichts mit der Vernunft gemein, das sinnlich begehrende dagegen und überhaupt das strebende Vermögen nimmt an ihr in gewisser Weise teil, insofern es auf sie hört und ihr Folge leistet. Das wäre also etwa in der Art, wie wir uns in praktischen Dingen nach dem Rate des Vaters und der Freunde, nicht wie in der Wissenschaft nach den Sätzen der Mathematik richten. Daß aber der unvernünftige Teil gewissermaßen von der Vernunft überredet wird, beweisen auch die Ermahnungen, (1103a) alle Zurechtweisung und Ermunterung. Soll man aber diesem Teil ebenfalls Vernunft zuschreiben, so ist auch das vernünftige Vermögen zweifach: das eine hat eigentlich Vernunft und hat sie in sich selbst, das andere hat sie wie ein Kind, das auf seinen Vater hört.

      Nach diesem Unterschiede wird auch die Tugend eingeteilt. Von den Tugenden nennen wir die einen dianoëtische oder Verstandestugenden, die anderen ethische oder sittliche Tugenden. Verstandestugenden sind Weisheit, Verstand und Klugheit, sittliche Tugenden Freigebigkeit und Mäßigkeit. Denn wenn wir von dem sittlichen Charakter sprechen, sagen wir nicht, daß einer weise oder verständig, sondern daß er sanft und mäßig ist. Wir loben aber auch den Habitus der Weisheit. Ein lobenswerter Habitus wird aber Tugend genannt.

      Zweites Buch.

       Inhaltsverzeichnis

      Erstes Kapitel.

       Inhaltsverzeichnis

      Daraus erhellt auch, daß keine von den sittlichen Tugenden uns von Natur zuteil wird. Denn nichts natürliches kann durch Gewöhnung geändert werden. Der Stein z. B., der sich von Natur nach unten bewegt, kann nicht gewöhnt werden, sich nach oben zu bewegen, wenn man ihn auch durch vieltausendmaliges Emporschleudern daran gewöhnen wollte, und ebensowenig kann das Feuer an die Bewegung nach unten oder sonst etwas an ein seiner Natur entgegengesetztes Verhalten gewöhnt werden. Darum werden uns die Tugenden weder von Natur noch gegen die Natur zuteil, sondern wir haben die natürliche Anlage, sie in uns aufzunehmen, zur Wirklichkeit aber wird diese Anlage durch Gewöhnung.

      Ferner bringen wir von dem, was wir von Natur besitzen, zuerst die Vermögen mit, und dann erst äußeren wir die entsprechenden Tätigkeiten, wie man an den Sinnen sehen kann. Wir haben ja nicht durch oftmaliges Sehen oder oftmaliges Hören den betreffenden Sinn bekommen, sondern es ist umgekehrt dem Besitze der Gebrauch gefolgt, nicht dem Gebrauche der Besitz. Die Tugenden dagegen erlangen wie nach vorausgegangener Tätigkeit, wie dies auch bei den Künsten der Fall ist. Denn was wir tun müssen, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun. So wird man durch Bauen ein Baumeister und durch Citherspielen ein Citherspieler. Ebenso werden wir aber (1103b) auch durch gerechtes Handeln gerecht, durch Beobachtung der Mäßigkeit mäßig, durch Werke des Starkmuths starkmüthig. Das bestätigen auch die Vorgänge im Staatsleben. Die Gesetzgeber machen die Bürger durch Gewöhnung tugendhaft; das ist wenigstens die Absicht jedes Gesetzgebers; wer es aber nicht recht angeht, der verfehlt seinen Zweck, und darauf läuft der ganze Unterschied von guter und schlechter Staatsverfassung hinaus.

      Ferner entsteht jede Tugend aus denselben Ursachen, durch die sie zerstört wird, gerade wie es bei den Künsten der Fall ist. Durch Citherspielen wird man z. B. ein guter und auch ein schlechter Citherspieler, und entsprechendes gilt vom Baumeister und jedem anderen Handwerker oder Künstler. Wer nämlich gut baut, wird dadurch ein guter Baumeister, und wer schlecht baut, ein schlechter. Wäre dem nicht so, so bedürfte es keines Lehrers, sondern jeder käme als Meister oder als Stümper auf die Welt. Grade so ist es nun auch mit den Tugenden. Durch das Verhalten im kommerziellen Verkehr werden wir gerecht oder ungerecht; durch das Verhalten in Gefahren und die Gewöhnung, vor ihnen zu bangen oder ihnen zu trotzen, werden wir mannhaft oder feige. Und ganz ebenso ist es mit den Anlässen zur Begierde oder zum Zorne: die einen werden mäßig und sanftmütig, die anderen zügellos und jähzornig, je nachdem sie in solchen Fällen sich so verhalten oder so, mit einem Worte: aus gleichen Tätigkeiten erwächst der gleiche Habitus. Daher müssen wir uns Mühe geben, unseren Tätigkeiten einen bestimmten Charakter zu verleihen; denn je nach diesem Charakter gestaltet sich der Habitus. Und darum ist nicht wenig daran gelegen, ob man gleich von Jugend auf sich so oder so gewöhnt; vielmehr kommt hierauf sehr viel oder besser gesagt alles an.