ist so weit davon entfernt, sich zu betrüben, daß er sich vielmehr freut.
Doch hierüber zu reden wird sich an einem anderen Orte Gelegenheit bieten. Von der Gerechtigkeit aber werden wir erst weiterhin handeln, indem wir sie, die einen doppelten Sinn hat, in ihre beiden Seiten zerlegen und von jeder zeigen, wie sie eine Mitte ist. Desgleichen werden wir von den logischen oder Verstandestugenden erst später sprechen.
Achtes Kapitel.
Da es somit dreierlei Eigenschaften gibt, zwei verkehrte, die eine an Übermaß krankend, die andere an Mangel, und eine gute, die Mitte, so ist jede jeder in gewisser Weise entgegengesetzt. Die Extreme sind der Gegensatz zur Mitte und zu einander, und die Mitte ist der Gegensatz zu den Extremen. Denn wie Gleiches gegen Kleineres gehalten größer und gegen Größeres gehalten kleiner ist, so ist die Mitte im Vergleich zum Mangel ein Übermaß und im Vergleich zum Übermaß ein Mangel, und dieses gilt gleichmäßig für die Affekte und für die Handlungen. Der Mutige erscheint gegen den Feigling als tollkühn und gegen den Tollkühnen als feig; desgleichen der Mäßige gegen den Unempfindlichen als zügellos und gegen den Zügellosen als unempfindlich, und der Freigebige gegen den Knicker als Verschwender und gegen den Verschwender als knickerig. Daher schieben die Extremen den Mittleren von sich weg je einer dem anderen zu und nennen den Mutigen, wenn es der Feigling ist, tollkühn, und wenn es der Tollkühne ist, feig, und ähnlich geht es bei den übrigen Eigenschaften.
Während diese Dinge in der angegebenen Weise einander entgegengesetzt sind, stehen die Extreme doch in einem größeren Gegensatze zu einander als zur Mitte. Denn sie stehen von einander weiter ab als von der Mitte, wie das Große vom Kleinen und das Kleine vom Großen weiter absteht als beide vom Gleichen. Auch zeigen manche Extreme eine gewisse Ähnlichkeit mit der Mitte, so die Tollkühnheit mit dem Mute, und die Verschwendung mit der Freigebigkeit. Dagegen haben die Extreme mit einander die größte Unähnlichkeit. Was aber am weitesten von einander absteht, bestimmt man als Gegenteil oder als konträren Gegensatz, und so muß denn auch was weiter von einander absteht, in vollkommenerem Sinn Gegenteil von einander sein.
Zu der Mitte bildet bald der Mangel bald das Übermaß (1109a) den größeren Gegensatz, so bei dem Mute nicht die Tollkühnheit, ein Übermaß, sondern die Feigheit, ein Mangel, dagegen bei der Mäßigkeit nicht die Stumpfsinnigkeit, ein Defekt, sondern die Zuchtlosigkeit, ein Übermaß. Dieses rührt von einer doppelten Ursache her. Die eine liegt in der Sache selbst. Weil das eine Extrem der Mitte näher und ähnlicher ist, so stellen wir nicht es selbst, sondern sein Gegenteil zu ihr in Gegensatz; so stellen wir, weil dem Mute die Tollkühnheit ähnlicher und näher zu sein scheint, die Feigheit aber unähnlicher, vielmehr diese letztere in Gegensatz zum Mute, weil das von der Mitte Entferntere als mehr gegenteilig erscheint. Das ist also die eine, in der Sache liegende Ursache. Die andere liegt in uns selbst. Das, wozu wir von Natur irgend wie mehr geneigt sind, erscheint als der Mitte mehr entgegengesetzt. So neigen wir von Hause aus mehr zur Lust, weshalb wir leichter den Weg der Zuchtlosigkeit als der Wohlanständigkeit betreten. Diejenige Seite nun, nach der wir leichter zunehmen, gilt uns als der stärkere Gegensatz, und deshalb ist die Zuchtlosigkeit, ein Übermaß also, in höherem Grade der Mäßigkeit entgegengesetzt.
Neuntes Kapitel.
Daß also die sittliche Tugend eine Mitte ist und in welchem Sinne, daß sie ferner eine Mitte zwischen zwei Fehlern, dem des Übermaßes und dem des Mangels ist, daß sie das endlich ist, insofern sie bei den Affekten und Handlungen auf die Mitte abzielt, haben wir zur Genüge auseinandergesetzt.
Daher ist es auch schwer, tugendhaft zu sein. Denn in jedem Dinge die Mitte zu treffen ist schwer. So kann z. B. nicht jedweder den Mittelpunkt eines Kreises finden, sondern nur der Wissende. So ist es auch jedermans Sache und ein Leichtes, zornig zu werden und Geld zu verschenken und zu verzehren. Aber das Geld zu geben, wem man soll und wie viel man soll, und wann und weswegen und wie, das ist nicht mehr jedermans Sache und nicht leicht. Darum ist das Gute auch so selten, so lobenswert und so schön.
Wer daher die Mitte treffen will, muß sich vor allem von dem stärkeren Gegensatz zu ihr entfernen, wie auch Kalypso rät:
»Dort von dem dampfenden Gischt und dem Wirbel halte das Fahrzeug fern!«52
Denn von den Extremen ist das eine schlimmer als das andere. Da es nun schwer ist, das Mittlere ganz genau zu treffen, so muß man nach dem Sprüchwort mit der zweitbesten Fahrt zufrieden sein und das kleinere Übel wählen, (1109b) und das wird sich am besten auf die von uns angegebene Weise bewerkstelligen lassen. Auch muß man beachten, wozu man selbst am meisten neigt, und in dieser Beziehung sind die Einzelnen von Haus aus sehr verschieden. Wohin jedoch unsere Neigung steht, verrät unsere besondere Art, Lust und Unlust zu empfinden. Da müssen wir uns mit eigener Anstrengung auf die andere Seite zu bringen suchen. Denn indem wir so dem Verkehrten recht weit aus dem Wege gehen, werden wir zur Mitte gelangen, ähnlich wie man es macht, um krummes Holz grade zu biegen.
Bei allen Dingen müssen wir am meisten vor der Lust und dem, was sie hervorruft, auf der Hut sein, da wir hier nicht als unbestochene Richter urteilen. Wie die Volksältesten sich der Helena gegenüber verhielten, so müssen wir es der Lust gegenüber tun und uns das Wort der troïschen Greise immer wiederholen.53 Denn wenn wir sie in dieser Art von uns weisen, werden wir am wenigsten fehlen. Dies also ist, summarisch gesprochen, das Verfahren, um nach Möglichkeit die Mitte zu treffen. Das mag, besonders in den einzelnen Fällen, schwer sein. Es ist nicht leicht, zu bestimmen, wie und wem und aus welcher Veranlassung und wie lange man zürnen soll, und wir loben bald die, die darin zu wenig tun, und nennen sie sanftmütig, bald rühmen wir cholerischen Personen männlichen Charakter nach. Wer aber das rechte Maß nur um ein kleines verfehlt, sei es durch ein Zuviel oder ein Zuwenig, den trifft kein Tadel, wohl aber den, der es bedeutend verfehlt, weil er nicht unbemerkt bleibt. Von welchem Punkte und Grade an man aber Tadel verdient, läßt sich nicht leicht in Worte fassen, wie das ja überhaupt in der Natur des sinnlich Wahrnehmbaren liegt. Solches aber, was dem Bereich des Handelns angehört, ist singulär und konkret und untersteht deshalb dem Urteil des Sinnes54.
Soviel jedoch gelte nun als ausgemacht, daß der mittlere Habitus zwar in allen Dingen lobenswert ist, daß man aber hin und wieder nach seiten des Zuviel oder des Zuwenig abweichen muß, um die Mitte und das Rechte leichter zu treffen.
Drittes Buch.
Erstes Kapitel.
Da die Tugend es mit Affekten und Handlungen zu tun hat und diese, wenn sie freiwillig sind, Lob und Tadel finden, wenn aber unfreiwillig, Verzeihung, zuweilen auch Mitleid, so kann der Moralphilosoph nicht wohl umhin, den Begriff des Freiwilligen und des Unfreiwilligen zu erörtern. Aber auch für die Gesetzgeber ist dieses von Nutzen behufs der Feststellung von Belohnungen und Strafen.
Unfreiwillig scheint zu sein was aus Zwang oder Unwissenheit (1110a) geschieht. Erzwungen oder gewaltsam ist dasjenige, dessen Prinzip außen liegt, und wo der Handelnde oder der Gewalt Leidende nichts dazu tut, z. B. wenn ihn der Wind oder Menschen, in deren Gewalt er ist, irgend wohin führen. Wenn aber etwas aus Furcht vor größeren Übeln oder wegen etwas Gutem getan wird – z. B. wenn ein Tyrann, der unsere