Stefan Zweig

Sternstunden der Menschheit. Vierzehn historische Miniaturen


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und selbst als niederschmetterndes Unglück ihn betrifft, der Tod seiner geliebten Tochter Tullia, hilft ihm seine Kunst zu philosophischer Würde: Er schreibt jene Consolationes, die noch heute durch Jahrhunderte Tausende in gleichem Schicksal getröstet haben. Nur dem Exil dankt die Nachwelt den großen Schriftsteller in dem einstigen geschäftigen Redner. Innerhalb dieser stillen drei Jahre schafft er mehr für sein Werk und seinen Nachruhm als vordem in den dreißig, die er verschwenderisch der res publica hingegeben.

      Schon scheint sein Leben das eines Philosophen geworden. Die täglichen Nachrichten und Briefe aus Rom beachtet er kaum, Bürger schon mehr jener ewigen Republik des Geistes als der römischen, die Caesars Diktatorschaft entmannt hat. Der Lehrer des irdischen Rechts hat endlich das bittre Geheimnis erlernt, das jeder im öffentlichen Wirken schließlich erfahren muss: dass man auf die Dauer nie die Freiheit von Massen verteidigen kann, sondern immer nur die eigne, die innere.

      So verbringt Weltbürger, Humanist, Philosoph Marcus Tullius Cicero einen gesegneten Sommer, einen schöpferischen Herbst, einen italienischen Winter, abseits – und wie er meint: für immer abseits – vom zeitlichen, vom politischen Getriebe. Die täglichen Nachrichten und Briefe aus Rom beachtet er kaum, gleichgiltig für ein Spiel, das ihn nicht mehr als Partner benötigt. Schon scheint er vom eitlen Öffentlichkeitsgelüst des Literaten gänzlich genesen, Bürger nur mehr der unsichtbaren Republik und nicht jener korrumpierten und vergewaltigten mehr, die sich dem Terror widerstandslos unterworfen. Da, an einem Mittag des März stürmt ein Bote ins Haus, staubbedeckt, mit pochenden Lungen. Gerade noch kann er die Nachricht melden: Julius Caesar, der Diktator, ist ermordet worden auf dem Forum von Rom, dann knickt er zu Boden.

      Cicero erblasst. Vor Wochen ist mit dem großmütigen Sieger er noch an der gleichen Tafel gesessen, und so gehässig er auch in Gegnerschaft gegen diesen gefährlich Überlegenen gestanden, so misstrauisch er seine militärischen Triumphe betrachtet, immer doch war er genötigt, innerlich den souveränen Geist, das organisatorische Genie und die Humanität dieses einzig respektablen Feindes heimlich zu ehren. Aber bei aller Abscheu vor dem gemeinen Argument des Mordvolkes, hat dieser Mann Julius Caesar, mit allen seinen Vorzügen und Leistungen nicht selbst die fluchwürdigste Art des Mordes begangen, parricidium patriae, den Mord des Sohnes am Vaterland? War eben nicht gerade sein Genie die gefährlichste Gefahr der römischen Freiheit? Mag der Tod dieses Mannes menschlich bedauerlich sein, so fördert die Untat doch den Sieg der heiligsten Sache, denn, nun da Caesar tot ist, kann die Republik wieder auferstehn: Durch diesen Tod triumphiert die erhabenste Idee, die Idee der Freiheit.

      So überwindet Cicero sein erstes Erschrecken. Er hat die heimtückische Tat nicht gewollt, vielleicht nicht einmal im innersten Traum zu wünschen gewagt. Brutus und Cassius, obwohl Brutus, während er den blutigen Dolch aus Caesars Brust reißt, seinen Namen, Ciceros Namen aufgerufen und damit den Lehrer der republikanischen Gesinnung als Zeugen seiner Tat gefordert, haben ihn nicht in die Verschwörung eingeweiht. Aber nun, da die Tat unwiderruflich geschehen ist, muss sie wenigstens zugunsten der Republik ausgewertet werden. Cicero erkennt: Der Weg zur alten römischen Freiheit geht über diese königliche Leiche, und es ist Pflicht, den andern diesen Weg zu weisen. Ein solcher einmaliger Augenblick darf nicht vergeudet werden. Noch am selben Tag lässt Marcus Tullius Cicero seine Bücher, seine Schriften und das heilige Otium des Künstlers. In pochender Eile des Herzens eilt er nach Rom, um die Republik als das wahre Erbe Caesars gleicherweise vor seinen Mördern wie vor seinen Rächern zu retten.

      In Rom trifft Cicero auf eine verwirrte, bestürzte und ratlose Stadt. Schon in der Stunde ihres Geschehens hat sich die Tat der Ermordung Julius Caesars größer erwiesen als ihre Täter. Nur zu ermorden, nur zu beseitigen wusste der zusammengewürfelte Klüngel der Verschwörer den ihnen allen überlegenen Mann. Aber nun, da es gilt, die Tat auszunützen, stehen sie hilflos und wissen nicht, was beginnen. Die Senatoren schwanken, ob sie dem Morde beipflichten oder ihn verurteilen sollen, das Volk, längst gewöhnt von einer rücksichtslosen Hand gegängelt zu werden, wagt keine Meinung. Antonius und die andern Freunde Caesars fürchten sich vor den Verschworenen und zittern um ihr Leben. Die Verschworenen wiederum fürchten sich vor den Freunden Caesars und deren Rache.

      In dieser allgemeinen Bestürzung erweist sich Cicero als der Einzige, der Entschlossenheit zeigt. Sonst zögernd und ängstlich, wie immer der Nerven- und Geistmensch, stellt er sich, ohne zu zögern, hinter die Tat, an der er selbst keinen Anteil gehabt. Aufrecht tritt er auf die Fliesen, die noch feucht sind vom Blute des Ermordeten, und rühmt vor dem versammelten Senat die Beseitigung des Diktators als einen Sieg der republikanischen Idee. »O mein Volk, noch einmal bist du zur Freiheit zurückgekehrt!«, ruft er aus. »Ihr, Brutus und Cassius, ihr habt die größte Tat nicht nur Roms, sondern der ganzen Welt vollbracht.« Aber gleichzeitig verlangt er, dass dieser an sich mörderischen Tat nun ihr höherer Sinn gegeben werde. Die Verschworenen sollen energisch die Macht ergreifen, die nach Caesars Tode brachliegt, und sie schleunig zur Rettung der Republik, zur Wiederherstellung der alten römischen Verfassung nützen. Antonius solle das Konsulat genommen, Brutus und Cassius die Exekutive übertragen werden. Zum ersten Mal hat der Mann des Gesetzes für eine kurze Weltstunde das starre Gesetz zu brechen, um die Diktatur der Freiheit für immer zu erzwingen.

      Aber nun zeigt sich die Schwäche der Verschwörer. Nur eine Verschwörung konnten sie anzetteln, nur einen Mord vollbringen. Sie hatten nur Kraft, fünf Zoll tief ihre Dolche in den Leib eines Wehrlosen zu stoßen; damit war ihre Entschlossenheit zu Ende. Statt die Macht zu ergreifen und für die Wiederherstellung der Republik zu nutzen, mühen sie sich um eine billige Amnestie und verhandeln mit Antonius; sie lassen den Freunden Caesars Zeit, sich zu sammeln, und versäumen damit die kostbarste Zeit. Cicero erkennt hellsichtig die Gefahr. Er merkt, dass Antonius einen Gegenschlag vorbereitet, der nicht nur die Verschwörer, sondern auch den republikanischen Gedanken erledigen soll. Er warnt und eifert und agitiert und spricht, um die Verschworenen, um das Volk zu entschlossenem Handeln zu zwingen. Aber – welthistorischer Fehler! – er selbst handelt nicht. Alle Möglichkeiten liegen jetzt offen in seiner Hand. Der Senat ist bereit, ihm beizupflichten, das Volk wartet eigentlich nur auf einen, der entschlossen und kühn die Zügel anreißt, die Caesars starken Händen entfallen. Niemand würde widerstreben, alle erleichtert aufatmen, ergriffe er jetzt die Regierung und schaffte Ordnung im Chaos.

      Marcus Tullius Ciceros welthistorische Stunde, die er seit seinen catilinarischen Reden so glühend ersehnt, nun ist sie endlich gekommen mit diesen Iden des März, und wüsste er sie zu nützen, wir alle hätten anders Geschichte in unseren Schulen gelernt; nicht bloß als der eines ansehnlichen Schriftstellers, sondern als des Retters der Republik, als des wahren Genius der römischen Freiheit wäre der Name Cicero in den Annalen des Livius und Plutarch überliefert. Sein wäre der unsterbliche Ruhm: die Macht eines Diktators besessen und sie freiwillig dem Volke wieder zurückgegeben zu haben.

      Doch unablässig wiederholt sich in der Geschichte die Tragödie, dass gerade der geistige Mensch, weil innerlich von der Verantwortung beschwert, in entscheidender Stunde selten zum Tatmenschen wird. Immer wieder erneut sich derselbe Zwiespalt im geistigen, im schöpferischen Menschen: Weil er besser die Torheiten der Zeit sieht, drängt es ihn, einzugreifen, und für eine Stunde des Enthusiasmus wirft er sich leidenschaftlich in den politischen Kampf. Aber gleichzeitig zögert er auch, Gewalt mit Gewalt zu erwidern. Seine innere Verantwortung schrickt zurück, Terror zu üben und Blut zu vergießen, und dieses Zögern und Rücksichtnehmen gerade in jenem einzigen Augenblick, der Rücksichtslosigkeit nicht nur verstattet, sondern sogar fordert, lähmt seine Kraft. Nach dem ersten Impuls der Begeisterung blickt Cicero mit gefährlicher Klarsichtigkeit auf die Situation. Er blickt auf die Verschwörer, die er gestern noch als Helden gerühmt, und sieht, dass es nur schwachmütige Menschen sind, flüchtend vor dem Schatten der eigenen Tat. Er blickt auf das Volk und sieht, dass es längst nicht mehr das alte römische populus romanus ist, jenes heldische Volk, von dem er geträumt, sondern ein entarteter Plebs, einzig nur auf Vorteil und Vergnügen bedacht, auf Futter und Spiel, panem et circenses, einen Tag Brutus und Cassius, den Mördern, zujubelnd und am nächsten Antonius, der zur Rache gegen sie ruft, und am dritten wieder Donabella, der die Bildnisse Caesars niederschlagen lässt. Niemand, erkennt er, in dieser entarteten Stadt dient noch ehrlich der Idee der Freiheit. Alle wollen sie nur Macht oder ihr Behagen: Vergebens ist Caesar beseitigt worden, denn nur um sein Erbe, um sein Geld, seine Legionen, um seine Macht