Stefan Zweig

Sternstunden der Menschheit. Vierzehn historische Miniaturen


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      Immer müder, immer skeptischer wird Cicero in diesen zwei Wochen nach der voreiligen Begeisterung. Niemand außer ihm selbst bekümmert sich um die Wiederaufrichtung der Republik, das nationale Gefühl ist erloschen, der Sinn für die Freiheit völlig dahin. Schließlich überkommt ihn Ekel vor diesem trüben Tumult. Er kann sich nicht länger einer Täuschung über die Ohnmacht seines Worts hingeben, er muss sich angesichts seines Misserfolgs eingestehen, dass seine conciliatorische Rolle ausgespielt ist, dass er entweder zu schwach oder zu mutlos gewesen, um seine Heimat vor dem drohenden Bürgerkrieg zu retten; so überlässt er sie ihrem Schicksal. Anfang April verlässt er Rom und kehrt – abermals enttäuscht, abermals besiegt – zu seinen Büchern, in seine einsame Villa in Puteoli am Golf von Neapel zurück.

      Zum zweiten Mal ist Marcus Tullius Cicero aus der Welt in seine Einsamkeit geflüchtet. Nun ist er endgiltig gewahr, dass er als Gelehrter, als Humanist, als Wahrer des Rechts von Anfang an fehl in einer Sphäre gewesen, wo Macht als Recht gilt und Skrupellosigkeit mehr fördert als Weisheit und Versöhnlichkeit. Erschüttert hat er erkennen müssen, dass jene ideale Republik, wie er sie für seine Heimat erträumt, dass eine Auferstehung der alten römischen Sittlichkeit nicht mehr zu verwirklichen ist in dieser verweichlichten Zeit. Aber da er die rettende Tat in der widerspenstigen Materie der Wirklichkeit selbst nicht vollbringen konnte, will er wenigstens seinen Traum für eine weisere Nachwelt retten; nicht völlig ohne Wirkung sollen die Mühen und Erkenntnisse eines sechzigjährigen Lebens verloren sein. So besinnt sich der Gedemütigte seiner eigentlichen Kraft, und als Vermächtnis für andere Generationen verfasst er in diesen einsamen Tagen sein letztes und zugleich sein größtes Werk ›De officiis‹, die Lehre von den Pflichten, die der unabhängige, der moralische Mensch gegen sich selbst und gegen den Staat zu erfüllen hat. Es ist sein politisches, sein moralisches Testament, das Marcus Tullius Cicero im Herbst des Jahres 44 und zugleich im Herbst seines Lebens in Puteoli aufzeichnet.

      Dass dieses Traktat über das Verhältnis des Individuums zum Staate ein Testament ist, das endgiltige Wort eines abgedankten und aller öffentlichen Leidenschaften entsagenden Menschen, beweist schon die Ansprache dieser Schrift. ›De officiis‹ ist an seinen Sohn gerichtet; Cicero gesteht freimütig seinem Kinde, dass er nicht aus Gleichgiltigkeit aus dem öffentlichen Leben sich zurückgezogen habe, sondern weil er als freier Geist, als römischer Republikaner es unter seiner Würde und Ehre halte, einer Diktatur zu dienen. »Solange der Staat noch von Männern verwaltet war, die er selbst sich erwählte, habe ich meine Kraft und Gedanken der res publica gewidmet. Aber seit alles unter die dominatio unius geriet, war länger kein Raum mehr für öffentlichen Dienst oder Autorität.« Seit der Senat abgeschafft sei und die Gerichtshöfe geschlossen, was habe er da mit einigem Selbstrespekt noch im Senat oder auf dem Forum zu suchen? Bis jetzt habe ihm die öffentliche, die politische Tätigkeit zu sehr seine eigene Zeit entwendet. »Scribendi otium non erat«, und er konnte niemals in geschlossener Form seine Weltanschauung niederlegen. Nun aber, da er zur Untätigkeit gezwungen sei, wolle er sie wenigstens nützen, im Sinne des großartigen Worts des Scipio, der von sich gesagt hatte, er sei »nie tätiger gewesen, als wenn er nichts zu tun hatte, und nie weniger einsam, als wenn er allein mit sich selbst war«.

      Diese Gedanken über das Verhältnis des Einzelnen zum Staate, die Marcus Tullius Cicero nun seinem Sohne entwickelt, sind vielfach nicht neu und original. Sie verbinden Angelesenes mit sonst Übernommenem: Auch im sechzigsten Jahr wird ein Dialektiker nicht plötzlich zum Dichter und ein Kompilator zum ursprünglichen Schöpfer. Aber Ciceros Ansichten gewinnen diesmal ein neues Pathos durch den mitschwingenden Ton der Trauer und Erbitterung. Inmitten von blutigen Bürgerkriegen und einer Zeit, wo Prätorianerhorden und Parteibanditen um die Macht kämpfen, träumt ein wahrhaft humaner Geist wieder einmal – wie immer die Einzelnen in solchen Zeiten – den ewigen Traum einer Weltbefriedigung durch sittliche Erkenntnis und Konzilianz. Gerechtigkeit und Gesetz, sie allein sollen die ehernen Grundpfeiler des Staates sein. Die innerlich Redlichen, nicht die Demagogen müssten die Gewalt und damit das Recht im Staate erhalten. Niemand dürfe versuchen seinen persönlichen Willen und damit seine Willkür dem Volke aufzuprägen, und es sei Pflicht, jeden dieser Ehrgeizigen, die dem Volk die Führung entreißen, »hoc omne genus pestiferum acque impium« den Gehorsam zu verweigern. Erbittert weist er als unbeugsam Unabhängiger jede Gemeinschaft mit einem Diktator und jeden Dienst unter ihm zurück. »Nulla est enim societas nobis cum tyrannis et potius summa distractio est.«

      Gewaltherrschaft vergewaltigt jedes Recht, argumentiert er. Wahre Harmonie kann in einem Gemeinwesen nur entstehen, wenn der Einzelne, statt zu versuchen aus seiner öffentlichen Stellung persönlichen Vorteil zu ziehen, seine privaten Interessen hinter jenen der Gemeinschaft zurückstellt. Nur wenn der Reichtum sich nicht in Luxus und Verschwendung vergeudet, sondern verwaltet wird und verwandelt in geistige, in künstlerische Kultur, wenn die Aristokratie auf ihren Hochmut verzichtet und der Plebs, statt sich bestechen zu lassen von Demagogen und den Staat an eine Partei zu verkaufen, seine natürlichen Rechte fordert, kann das Gemeinwesen gesunden. Wie alle Humanisten ein Lobredner der Mitte, fordert Cicero den Ausgleich der Gegensätze. Rom braucht keine Sullas und keine Caesars und anderseits keine Gracchen; die Diktatur ist gefährlich, und ebenso die Revolution.

      Vieles von dem, was Cicero sagt, war vordem schon im Staatstraum Platos zu finden und wird wieder bei Jean-Jacques Rousseau und allen idealistischen Utopisten zu lesen sein. Aber was dies sein Testament so erstaunlich über seine Zeit hebt, ist jenes neue Gefühl, das hier ein halbes Jahrhundert vor dem Christentum zum ersten Mal zu Worte kommt: das Gefühl der Humanität. In einer Epoche der brutalsten Grausamkeit, wo selbst ein Caesar bei der Eroberung einer Stadt noch zweitausend Gefangenen die Hände abhacken lässt, wo Martern und Gladiatorenkämpfe, Kreuzigungen und Niederschlachten tägliche und selbstverständliche Geschehnisse sind, erhebt als Erster und Einziger Cicero Protest gegen jeden Missbrauch der Gewalt. Er verurteilt den Krieg als die Methode der beluarum, der Bestien, er verurteilt den Militarismus und Imperialismus seines eigenen Volkes, die Ausbeutung der Provinzen, und fordert, dass einzig durch Kultur und Sitte und niemals durch das Schwert Länder dem römischen Reiche einverleibt werden sollten. Er eifert gegen das Plündern von Städten und verlangt – eine im damaligen Rom absurde Forderung – Milde selbst gegenüber den Rechtlosesten der Rechtlosen, gegenüber den Sklaven (adversus infimus justitia esse servandum). Mit prophetischem Blick sieht er Roms Niedergang durch die allzu rasche Folge seiner Siege und seiner ungesunden, weil nur militärischen Welteroberungen voraus. Seit mit Sulla die Nation Kriege begonnen habe, nur um Beute zu gewinnen, sei die Gerechtigkeit im Reiche selbst verlorengegangen. Und immer wenn ein Volk andern Völkern seine Freiheit gewaltsam nehme, verliere es dabei in geheimnisvoller Rache seine eigene, wunderbare Kraft der Einsamkeit.

      Während die Legionen unter den ehrgeizigen Führern nach Parthien und Persien, nach Germanien und Britannien, nach Spanien und Mazedonien marschieren, um dem vergänglichen Wahn eines Imperiums zu dienen, erhebt hier eine einsame Stimme Protest gegen diesen gefährlichen Triumph: Denn er hat gesehen, wie aus der blutigen Saat der Eroberungskriege die noch blutigere Ernte der Bürgerkriege erwächst, und feierlich beschwört dieser eine machtlose Sachwalter der Menschlichkeit seinen Sohn, die adiumenta hominum, das Zusammenwirken der Menschen als das höchste und wichtigste Ideal zu ehren. Endlich ist, der allzu lange Rhetor gewesen, Advokat und Politiker, der für Geld und Ruhm jede gute und schlechte Sache mit gleicher Bravour verteidigt, der selbst sich um jedes Amt gedrängt, der um Reichtum, um öffentliche Ehre und Volksbeifall gebuhlt, im Herbst seines Lebens zu dieser klaren Erkenntnis gelangt. Knapp vor seinem Ende wird Marcus Tullius Cicero, bisher nur Humanist, der erste Anwalt der Humanität.

      Während Cicero dieserart in seinem Abseits ruhig und gelassen Sinn und Form einer moralischen Staatsverfassung durchdenkt, wächst die Unruhe im römischen Reiche. Noch immer hat sich der Senat, hat sich das Volk nicht entschieden, ob es die Mörder Caesars lobpreisen oder verbannen solle. Antonius rüstet zum Kriege gegen Brutus und Cassius, und unvermutet schon ist ein neuer Prätendent zur Stelle, Octavian, den Caesar zu seinem Erben ernannt und der dies Erbe nun wirklich antreten möchte. Kaum dass er in Italien gelandet ist, schreibt er an Cicero, um seinen Beistand zu gewinnen, aber gleichzeitig bittet ihn Antonius, er solle nach Rom kommen, und ebenso rufen ihn von ihren Kriegsplätzen Brutus und Cassius. Alle buhlen sie um den großen Verteidiger, dass er ihre Sache verteidige, alle werben sie um den berühmten Rechtslehrer,