Philipp Gassert
11. September 2001. 100 Seiten
Reclam
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2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net
Infografiken: annodare GmbH, Agentur für Marketing
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961864-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-20579-2
Der Anschlag: Vom Terror zum Krieg
Um 8:55 Uhr, kurz bevor der Präsident ein Klassenzimmer in der Emma-E.-Booker-Grundschule in Sarasota in Florida betritt, informiert ihn sein engster Berater Karl Rove: »In New York ist eine zweistrahlige Propellermaschine in das World Trade Center gecrasht.« Bush hebt die Augenbrauen, schüttelt weiter Lehrern, Kindern und anwesenden Honoratioren die Hand: »Lasst uns mit dem Vorlesen anfangen.« Zehn Minuten später, um 9:05 Uhr flüstert White House Chief of Staff Andrew Card dem Präsidenten ins Ohr: »Ein zweites Flugzeug hat den zweiten Turm getroffen. Amerika wird angegriffen.« Auf Videoaufnahmen wirkt George W. Bush nun irritiert und angestrengt. Sein Instinkt sei gewesen, Ruhe und Festigkeit zu vermitteln, wird er später der 9/11-Kommission erläutern. Er macht noch fünf Minuten weiter. Dann erst bespricht er sich in einem Nebenzimmer mit seinem Stab. So viel ist inzwischen klar: Zwei Verkehrsflugzeuge wurden mit voller Absicht um 8:46 Uhr in den Nordturm und um 9:03 Uhr in den Südturm des World Trade Center (WTC) in New York gesteuert.
»Wir sind im Krieg – geben Sie mir den FBI-Direktor und den Vizepräsidenten«, so erinnert sich Rove an Bushs erste mündliche Reaktion. Der unverzügliche Rückflug nach Washington wird vorbereitet, während Bush mit Vizepräsident Dick Cheney in Washington konferiert. Noch in der Schule, Kinder und Lehrer hinter sich aufgereiht, spricht Bush von einer »offenkundig terroristischen Attacke«; um 9:35 Uhr verlässt er die Schule, gegen 9:45 Uhr erreicht seine Autokolonne den Flughafen von Sarasota. Währenddessen erfährt er vom Einschlag des dritten Flugzeugs ins Pentagon, um 9:37 Uhr. Die vierte Maschine, UA 93, rast um 10:03 Uhr in ein Feld bei Shanksville in Pennsylvania. Sie hat das Weiße Haus im Visier, wird aber von Passagieren zum Absturz gebracht. Die Präsidentenmaschine Air Force One befindet sich nun mit unklarem Ziel in der Luft. Eine Rückkehr nach Washington gilt als zu gefährlich. Nach Zwischenlandungen in Louisiana sowie auf dem Stützpunkt des US-Atomwaffenkommandos in Nebraska kehrt Bush gegen 19 Uhr ins Weiße Haus zurück. Um 20:30 Uhr hält er eine Ansprache an die Nation.
In New York spielen sich währenddessen apokalyptische Szenen ab. Die Welt starrt gebannt auf Lower Manhattan. Im Fernsehen kann die globale Zuschauergemeinde den Feuerball nach dem zweiten Einschlag klar erkennen; wie auch den dunklen Rauch, der zum Himmel steigt. Doch den in den Doppeltürmen eingeschlossenen Menschen fehlt der Überblick, wie der Journalist Garrett Graff in seiner Oral History des 11. September herausgearbeitet hat. Ein Mann, der sich im 105. Stock des Nordturms aufhält, ruft seine Mutter an: »Mach dir keine Sorgen […] Ich gehe jetzt ins Treppenhaus«. Elfhundert Menschen sitzen oberhalb der Einschlagstellen fest. Es wird heiß, sehr heiß; sie wählen verzweifelt 911; verstehen nicht, dass sie nicht befreit werden können: »Ich verglühe hier«, sagt eine Frau der Mitarbeiterin der Notrufnummer, dann wird es still. Weiter unten steigen im Gänsemarsch Hunderte die Treppen hinab, während sich die Feuerwehr in der Gegenrichtung entschlossen nach oben arbeitet. Einige, weit oben tödlichem Rauch und unerträglichen Temperaturen ausgesetzt, springen: allein, zu zweit, zum Teil sich an den Händen haltend in Gruppen. Dieser Anblick übertrifft jeden anderen Schrecken: »Man hörte ein Zischen und dann plötzlich ein platschendes Geräusch vom Aufprall.«
Feuerwehr und Rettungswagen lärmen heulend durch die Straßen, überall ist Polizei, auch in Washington, wo das Pentagon brennt und der Vizepräsident und die Nationale Sicherheitsberaterin unter dem Rasen des Weißen Hauses eingebunkert sind. Es kommt noch schlimmer: Dass das WTC einstürzen könnte, erwarten wenige. Noch nie sind derartig hohe Gebäude in sich zusammengefallen. Der Südturm, obwohl als Zweiter getroffen, kollabiert um 9:59 Uhr als Erster, der Nordturm folgt 29 Minuten später. Rasend geht es nach unten, orkanartige Winde schleudern Menschen und Trümmer durch die Stadt: »Da war diese gigantische Kanonenkugel aus Staub, die durch die Straßen auf mich zukam«, berichtet ein Überlebender. Um 11:02 Uhr ordnet Bürgermeister Rudy Giuliani die Evakuierung von Lower Manhattan an. Knapp 3000 Menschen sterben bei den Anschlägen, davon vermutlich 2606 am WTC, 125 im Pentagon und 265 in den vier Flugzeugen, inklusive der 19 Selbstmord-Attentäter. 343 der Toten sind zu Hilfe geeilte Feuerwehrleute, 71 Mitglieder der Polizei. Die Opfer gehören 90 Nationen an. Es ist der tödlichste Terroranschlag der Weltgeschichte.
9/11 wird als Kriegsakt gedeutet
Es fällt schwer, sich auf eine solche Katastrophe einen Reim zu machen. Ein Schock; aber dass Amerika sich im Krieg befände, ist für die breite Masse am Abend des 11. September keineswegs offenkundig. Ersichtlich ist nur, dass ein Desaster gezielt herbeigeführt worden ist. Doch was ist seine Bedeutung? Studiert man die CNN-Live-Berichterstattung, dann ringen Journalistinnen um Verständnis, Worte und Einordnung: »Good Lord – there are no words«, sagt der Moderator, als um 10:28 Uhr der Nordturm fällt. Zugleich wird das Banner »America Under Attack« eingespielt. Nachrichtensendungen und Zeitungen, die in Sonderausgaben noch am 11. September erscheinen, sprechen überwiegend von Terroranschlägen. Doch am Folgetag dominiert in der englischsprachigen Presse das Wort »Krieg«. Der mediale Sturm bläst in eine Richtung: Amerika und seine Regierung steigern sich in das Narrativ hinein, das Land sei kriegerisch angegriffen worden. Aus dem 11. September wird 9/11.
Die rasante Deutungsverengung auf »Krieg« wird von den politischen Akteuren forciert. Am Abend des 11. September verkündet Bush, der amerikanische Way of Life werde angegriffen. Doch man werde diesen »Krieg gegen den Terrorismus« gewinnen. Das knüpft an etablierte Antiterror-Narrative an, mit Reagans erstmaliger Kriegserklärung an den Terrorismus schon 1986. Nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am Morgen des 12. September geht Bush weiter: Der Anschlag sei »mehr als ein terroristischer Akt. Es sind Kriegsakte.« Noch schwanken Politik und Öffentlichkeit bei der Einordnung des unerhörten Ereignisses. Doch der Begriff »Krieg« durchzieht Reden und Pressekonferenzen. Zwei Tage später steht Bush überwältigt auf den schwelenden Trümmern des WTC. Er wird von der Menge mitgerissen: Sie »werden von uns hören«, ruft er. Frenetische »U. S. A.! U. S. A.! U. S. A.!«-Sprechchöre folgen. Am 15. September zieht er den folgenschweren historischen Vergleich, auch die Terroristen würden erfahren: »Wer Krieg gegen Amerika anfängt, wählt seine eigene Zerstörung.«
George W. Bush: »Why Do They Hate Us«. Rede vor beiden Häusern des Kongresses am 20. September 2001.
»Amerikaner stellen sich viele Fragen: Sie fragen sich, wer hat unser Land angegriffen: Alle Anzeichen deuten auf ein lockeres Netzwerk terroristischer Organisationen hin, das als al-Qaida bekannt geworden ist. Sie […] praktizieren eine marginale und extremistische Variante des Islam, die von […] der Mehrheit der muslimischen Gelehrten abgelehnt wird. […] Die Amerikaner fragen sich, warum hassen