Philipp Gassert

11. September 2001. 100 Seiten


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außerhalb von Heidelberg, feile, Wissenschaftler und Autor, der ich nun einmal bin, an einem Text; ich werde, da kein Mensch damals permanent »online« ist, durch den Anruf eines Kollegen alarmiert. Wir sehen die Nachrichten heimlich bei Nachbarn, um die schrecklichen Bilder von unseren kleinen Kindern fernzuhalten. Als ich zehn Jahre später an der Universität Augsburg Seminare über 9/11 zu geben beginne, ist die für die Anfang der 1990er Jahre in Süddeutschland geborene Studierendengeneration typische Erzählung, dass sie sich zu Hause zurück an einem der ersten Schultage nach den Ferien verwundert fragten, warum ihre Mutter oder Großmutter (Väter kommen kaum vor), gegen alle Sitte und allen Anstand, am helllichten Tag einen Horrorfilm guckt! So ganz neben der Spur liegt das nicht, denn Reaktionen auf 9/11 sind durch fiktive Inszenierungen des Terrors in Hollywoodfilmen wie The Siege (1998, R: Edward Zwick) kulturell vorgeprägt.

      Jene, die in den 2000er Jahren geboren wurden, haben dagegen keine persönliche Erinnerung an den 11. September. Sie wissen davon aus Familienerzählungen und aus den Medien. So schnell wächst ein Ereignis aus der Zeitzeugenschaft hinaus. Für meine Generation ist 9/11 so irritierend, weil wir mit der demokratischen Fortschrittserzählung der »Wende« von 1989/90 politisch erwachsen wurden. Schockierend die Eindrücke auf einer Forschungsreise in die USA zwei Wochen später: Die Angst hatte sich in der US-Gesellschaft eingenistet. Es ist die Zeit mysteriöser Anthrax-Anschläge. Fühlte man sich früher an manchen Ecken von Washington erst sicher, wenn man es in die Metrostation hineingeschafft hatte, so ist es nun umgekehrt: möglichst schnell nach oben. Deprimierend die Militarisierung der Hauptstadt, einst frei zugängliche Orte wie die Kapitolsterrasse sind weiträumig abgesperrt. Befremdlich der extreme Nationalismus bisher vernünftig wirkender Amerikaner: Sie phantasieren von heroischen Taten ihrer Geheimdienstagenten, die in Filmmanier Terroristen heimlich, still und leise abmurksen. Doch es wird kein leiser Schattenkrieg.

      Das World Trade Center in Flammen. Flug UA 175 schlägt in den Südturm (WTC 2, links) ein

      Niemand kann sich dem 11. September entziehen. Die Bilder kolonisieren unser Gedächtnis: Die Fotos des Aufpralls und der Explosion des zweiten Flugzeugs (UA 175) in den Südturm sind global zitierbare Bildikonen geworden. Menschen weltweit können sie auf Befragung zuordnen. Das ist insofern bemerkenswert, weil der 11. September medientechnologisch gesehen noch im vordigitalen Zeitalter liegt. Bei der Erstverwertung dominiert das Fernsehen; zuhause oder auf öffentlichen Bildschirmen etwa in Bahnhöfen erfahren 47 Prozent der Deutschen von den Anschlägen; in der Zweitverwertung kommt ebenfalls ein etabliertes Medium zum Zug: Zeitungen. Diese sind am folgenden Tag komplett ausverkauft. Webbasierte Medien bestimmen erst in dritter Linie den Deutungsmarkt. Das damals neue Internet ist sehr begrenzt, populäre Nachrichtenseiten sind aufgrund der massiven Zugriffe schnell überlastet, Smartphones noch völlig unbekannt. Nur drei Prozent erfahren via Internet zuerst von den Anschlägen. Medial gehört 9/11 noch zum 20. Jahrhundert, als robust massenmediale, prädigitale Erfahrung.

      Der Anfang vom Ende des amerikanischen Jahrhunderts

      Medial mag 9/11 aus einem Drehbuch des 20. Jahrhunderts stammen wie auch die Reaktionen der Regierung Bush einem Narrativ aus dem Zeitalter der Totalitarismen folgen, als die amerikanische Demokratie sich dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus entgegenstellte. Doch geopolitisch hat 9/11 das Gegenteil des von der Bush-Administration und den Propheten eines »neuen amerikanischen Jahrhunderts« Intendierten bewirkt, die eine Verlängerung der amerikanischen Hegemonie weit in das 21. Jahrhundert beabsichtigten: Die westliche Demokratie ist beschädigt; die überragende Überlegenheit des US-Militärs und dessen Fähigkeit, jeden x-beliebigen Ort der Welt minutenschnell in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, hat weder Amerika zu mehr gefühlter Sicherheit verholfen noch zu einem klaren Sieg in Afghanistan oder im Irak. Im Inneren ist Amerika zutiefst verwundet, die äußere Sicherheit wirkt nur oberflächlich wiederhergestellt. Der Terror metastasiert weiter, selbst nachdem Bin Laden 2011 von einem US-Kommando aufgespürt und hingerichtet worden ist. Der »Islamische Staat« ist nur das jüngste Symptom eines monumental gescheiterten nation building im Irak und in der arabischen Welt.

      Die Kriege des 11. September haben Amerikas Weltstellung mehr als nur angekratzt. Der »Aufstieg der Anderen« (Fareed Zakaria) wird beschleunigt. Sicher, wir sollten die USA nicht unterschätzen: Ihre Bevölkerung und ihre Wirtschaft wachsen weiter; ihre Kultur strahlt aus; als Migrationsziel sind sie trotz vehementer innergesellschaftlicher Verwerfungen weiter attraktiv; sie werden auch künftig mit China, vielleicht auch Indien, der EU und Russland, eine Weltmacht bleiben. Doch das Scheitern des überzogenen »Projekts für ein neues amerikanisches Jahrhundert« hat ihr globales Ansehen unterminiert, selbst wenn die Wahl Barack Obamas 2009 das Bild zeitweilig aufhellen kann. Die Ideale, für die Amerika einst stand, sind besudelt: Freiheit, Gleichheit, Pluralismus, Toleranz; die Idee einer demokratischen Zivilisation, von Bush vollmundig beschworen, wirkt angezählt, durch Gewalt beschädigt. Die Kriege zehren Amerika sozialpsychologisch aus. So hat 9/11 den Aufstieg von Donald Trump und America First erleichtert, wenn nicht überhaupt erst möglich gemacht.

      Selbstverständlich mussten Präsident Bush und seine Regierung auf die Anschläge reagieren. Doch weil sie – rückblickend betrachtet – auf kontraproduktive Weise antworteten, wurde 9/11 zur Zäsur. In der historischen Forschung gilt es durchaus als umstritten, 9/11 als Wendepunkt zu deuten, 20 Jahre nach den Ereignissen ist das womöglich zu früh. Doch in vielen Studien gehen die mit dem 11. September verknüpften Problemlagen unter, die aus dem Ereignisbündel den Einschnitt machten. Das Extraordinäre von 9/11 wird von einer merkwürdigen Unlust neuerer Publikationen kontrastiert, Ursachen und Folgen auszubuchstabieren. Es dominiert eine antiquarische Froschperspektive: Der populäre erinnerungskulturelle Zugang fokussiert auf die Schrecksekunde, das Erleben und Erleiden sowie die Heroisierung der Opfer. Oral History ist schick, wird in der 9/11-Gedenkstätte am WTC zum Goldstandard erhoben (siehe S. 91). (Selbst-)kritische Einsichten unterdrückt die offiziöse Geschichtspolitik indes.

      Ursachenforschung tut not

      Um die Ursachen und gravierenden Folgen des 11. September zu verstehen, reicht es nicht aus, sich an kollektiven Sinngebungen durch Literatur, Kunst, Film und Medien abzuarbeiten. Auch die konstante Betonung des individuellen Erlebens und Erleidens der »authentischen Erfahrungen« der Opfer und Retter im Rahmen groß angelegter Zeitzeugenprojekte springt zu kurz. Ist dies Ausdruck einer Blindheit der heutigen Kultur- und Sozialwissenschaften, die individuelle agency wie auch die mittels Umfragen konstruierte »öffentliche Meinung« nach vorn rücken, auf Kosten einer tiefergehenden Strukturanalyse? Auch die mediale Privilegierung des »unerhörten Ereignisses« ist Teil des Problems: Kleinteilige Ereignisrekonstruktionen können wir getrost der hilfreichen Internet-Enzyklopädie Wikipedia überlassen, die mittels Schwarmintelligenz effizienter verfährt als jede Gesamtdarstellung.

      Daher greift dieser Band weit in die Vorgeschichte zurück sowie in Kontexte, die aus dem 11. September 9/11 machten. Islamistischer Terrorismus ist ein Nischenphänomen, das vom Westen zur »Kriegspartei« aufgewertet wurde. Das hat ihn für verwirrte, suchende junge Männer und Frauen, auch in Europa, als Identifikationsanker erst attraktiv werden lassen. Terror und Mord sind weder legitim noch zu entschuldigen. Doch die Gewaltakte des 11. September verblassen gegenüber Naturkatastrophen wie dem Tsunami von 2004 oder der Covid-19-Pandemie ab 2019. Der religiöse Fundamentalismus ist Teil einer sozialen Reaktion auf wirtschaftliche und soziale Transformationsprozesse in islamischen Ländern. Dort haben vergleichbar mit Europa und den USA, seit der Industrialisierung wachsender Wohlstand, Bildung und Säkularisierung zu Partizipationsforderungen geführt, die von lokalen Eliten systematisch unterdrückt werden. Doch leider wird diese antidemokratische Politik von westlichen Mächten gefördert.

      Der jüngere islamistische Fundamentalismus ähnelt seinen christlichen Pendants: Eine aus religiösen Versatzstücken und heiligen Texten zusammengebraute, im Kern traditionslose politische Ideologie, die soziale Konflikte als Geschichte eines religiösen Abfalls erklärt und äußere Feinde zur Abhilfe konstruiert. Dass Amerika hierbei als Zielscheibe dient, ist kein Zufall. Es symbolisierte im 20. Jahrhundert wie keine andere